Veränderung erwartet | |
Von Emmanuel Halperin, unserem Korrespondenten in Jerusalem | |
Für die Israelis zeichnen sich zwei mögliche Entwicklungen am Horizont ab, zwei konkrete Zukunftspläne. Dazu gehören weder der Frieden - er bleibt ein Wunschtraum - noch ein Ende der Terroranschläge - das wäre zu schön -, doch sie lassen trotz allem einige vage Hoffnungen zu. Die erste Entwicklung, der Sturz des irakischen Regimes, hängt nicht von ihnen ab. Die zweite, vorgezogene Wahlen, fällt in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich der politischen Entscheidungsträger. Mangels positiverer Aussichten nähren die Israelis mit diesen realen Zielen die öffentliche Diskussion und dämpfen auf diese Weise Ängste und Frustrationen. Die nächsten Parlamentswahlen sind im Oktober 2003 anberaumt. Geht man davon aus, dass sie politische Veränderungen herbeiführen, d.h. den gegenwärtigen Immobilismus beenden könnten, mag dies sehr weit weg scheinen. Sharon hat weiterhin kaum an Beliebtheit eingebüsst, doch diese Anerkennung entspricht in mancher Hinsicht nicht unbedingt einer Realität. Es handelt sich vielmehr um eine auf Vernunftgründen beruhende Unterstützung einer etwas ziellosen Politik, die sich um die Bewältigung des Alltags und eine Einschränkung der Schäden in der Erwartung besserer Zeiten bemüht, und weniger um eine echte Begeisterung in der Bevölkerung. Dies heisst mit anderen Worten, dass die Mehrheit der Israelis davon ausgeht, dass es keine Alternative zum eingeschlagenen Weg gibt und dass sich letztendlich niemand, der in der aktuellen Situation an der Macht wäre, besser verhalten könnte. Die Umfragen, die auf eine Verhärtung der öffentlichen Meinung in Israel, auf einen Rechtsrutsch hinweisen, sind etwas irreführend. Obwohl die Entschlossenheit gegenüber den Palästinensern Anklang findet, obwohl der Eindruck, es gebe keinen zuverlässigen Gesprächspartner, von vielen geteilt wird, obwohl die Öffentlichkeit der Ansicht ist, in der gegenwärtigen Situation seien Konzessionen nicht angebracht, solange die Gewalt nicht unter Kontrolle gebracht sei, stellt man parallel dazu eine völlig gegensätzliche Entwicklung fest, wenn sich die Israelis über die Bedingungen für eine Konfliktlösung äussern. Eine Mehrheit spricht sich zur Zeit dafür aus, als Gegenleistung für den Frieden oder auch nur für eine vernünftige Regelung die meisten jüdischen Siedlungen in den Gebieten aufzulösen sowie Jerusalem zu teilen und wieder zu den Demarkationslinien von 1967 mit einigen Korrekturen zurückzukehren. Angesichts dieser Ergebnisse muss man zugeben, dass der Abnützungskrieg der vergangenen zwei Jahre seine Wirkung zeigt und dass der Terror gewisse Erfolge aufweisen kann. Letztere entsprechen nicht den Plänen der PLO, die einen Zusammenbruch der israelischen Gesellschaft und deren moralische und militärische Auflösung erwartete, bestimmt nicht, doch trotz allem erklären sich immer mehr Israelis bereit, schmerzliche Konzessionen hinzunehmen, wenn man ihnen die Rückkehr von Ruhe und Wohlstand verspricht, was sie noch vor wenigen Jahren nie getan hätten. Dank dieser paradoxen Situation wachsen der israelischen Linken wieder Flügel. Die Arbeitspartei, die sich in der Regierungskoalition eingeengt fühlt, begehrt immer stärker auf und droht alle paar Tage wieder in die Opposition zu gehen, um dadurch das Verfahren zu vorgezogenen Wahlen auszulösen. So hat das plötzliche Erscheinen eines neuen Kandidaten für die Parteispitze der Linken am israelischen Polit-Himmel in der Person von Amram Mitzna, Bürgermeister von Haifa, für eine gewisse Aufregung und für einige Hoffnungen in einem Teil der öffentlichen Meinung gesorgt. Sollte er der lang erwartete Retter sein? Dies ist kaum wahrscheinlich, denn dieser frühere General verfügt nur über geringe politische Erfahrung, kontrolliert den Apparat der Arbeitspartei nicht und hat sich mit einem Team von pensionierten Militärs und reichen Geschäftsleuten umgeben, welche das israelische Stimmvolk nicht widerspiegeln und dies auch nicht können. Die meisten Beobachter der politischen Szene erwarten folglich ein schnelles Erlöschen des Strohfeuers, wie dies bei der Kandidatur des ehemaligen Generalstabschefs Lipkin-Schachak vor drei Jahren der Fall war. Es ist jedoch unbestritten, dass es an der politischen Spitze ein Vakuum gibt, das in der Öffentlichkeit Erwartungen entstehen lässt, weil die Politik die Leere fürchtet: neue Köpfe sind erwünscht. Sharon ist sich dieser Stimmung bewusst und weiss wohl, dass er sowohl vor der Rechten als auch vor der Linken auf der Hut sein muss. Daher hat er beschlossen, die Rückzugsdrohungen der Arbeitspartei ernst zu nehmen und sie herauszufordern: wenn sie nicht für das Haushaltsgesetz des kommenden Jahres stimmen, das im Oktober der Knesset vorgelegt werden soll, will er sich schon im Januar oder Februar 2003 neuen Wahlen stellen. Dies würde Netanyahu den Boden unter den Füssen wegziehen, denn angesichts einer erstarkten Linken wäre der Likud gezwungen, ein Team unter der Leitung des abtretenden Premierministers zusammenzustellen, das viel konsensfähiger wäre als sein munterer Herausforderer. Sharon träte in diesem Fall als Figur des Zusammenhalts auf, im Gegensatz zur Linken, welche die Verantwortung für die fehlgeschlagenen Osloer Verträge trägt und sich oft durch die Ankündigung von Zugeständnissen in Misskredit bringt, aber auch im Gegensatz zur Rechten, die von vielen Israelis aufgrund ihres mangelnden Realitätssinnes als gefährlich angesehen würde. Es weist allerdings nichts darauf hin, dass es sich hierbei um etwas anderes als eine Stammtischstrategie handelt. Eine neue Gegebenheit, die viel interessanter ist als alle die kleinen alltäglichen Vorkehrungen, lässt die Wirklichkeit in einem ganz neuen Licht erscheinen. Schas, die drittgrösste israelische Partei (17 Abgeordnete), die ein Schrumpfen ihrer Wählerschaft befürchten muss, hat soeben einen sehr deutlichen Rechtsrutsch durchgemacht. Ihr geistiges Oberhaupt und ihr Gründer, der frühere sephardische Grossrabbiner Ovadia Yossef, hat zum ersten Mal in der breiten Öffentlichkeit seine Unterstützung für die in den Gebieten lebenden Israelis zum Ausdruck gebracht. Anlässlich eines Besuchs in der kleinen Stadt Immanuel in Samaria - einer ultra-orthodoxen Ortschaft, die durch zwei schreckliche Attentate erschüttert wurde - hat er sich nicht damit begnügt, seine Solidarität kund zu tun. Er drückte den Wunsch aus, "dass eine Million Israelis" sich in dieser Siedlung niederlassen, die nach dem Wunsch der Verfechter der Osloer Abkommen rasch aufgelöst werden soll. Diese Aussage ist erstaunlich seitens eines religiösen Leaders, der als politisch gemässigt galt und gegenüber den Palästinensern eine versöhnliche Haltung an den Tag legte, gemäss der berühmten, in der jüdischen Tradition verankerten Empfehlung, "die Nationen nicht zu verstimmen". Die führenden Schas-Politiker übernehmen somit die Meinung ihrer Wähler und positionieren sich deutlich rechts vom Likud. Diese Entwicklung besitzt umso mehr Bedeutung, als die Mitglieder der Schas hauptsächlich zu den Bewohnern der benachteiligten Quartiere und der Entwicklungsstädte gehören. Dabei bemüht sich die Linke Israels seit Jahren, eben diese Wählerschaft davon zu überzeugen - offensichtlich ohne besonderen Erfolg -, dass die finanziellen Mittel, die in die Siedlungen fliessen, sie um einen staatlichen Geldsegen bringt, der viel sinnvoller zu ihren Gunsten angewendet würde. Ab sofort wird Sharon folglich eher mit der Unterstützung der Schas-Leader rechnen können und muss nicht mehr befürchten, wie dies in der jüngsten Vergangenheit der Fall war - nämlich unter der Regierung von Barak -, dass diese Partei eine Schiedsrichterfunktion zwischen der Rechten und der Linken einzunehmen versucht. Doch die Wahlprognosen fallen kaum ins Gewicht angesichts der Erwartung einer entscheidenden militärischen Aktion in Irak. Die israelische Öffentlichkeit verfolgt mit grösster Aufmerksamkeit die Vorbereitungen der amerikanischen Regierung und freut sich, im linken fast so sehr wie im rechten Lager, über die von der Bush-Regierung an den Tag gelegte Entschlossenheit, ungeachtet der Vorbehalte und Befürchtungen der Europäer sowie eines Teils des Kongresses. Die israelischen Politiker denken zu Recht oder zu Unrecht, dass der Sturz des Regimes von Bagdad der PLO und dem Hamas sowie sämtlichen extremistischen arabischen Bewegungen einen entscheidenden Schlag versetzen würde. Eine neue Gegebenheit im Nahen Osten wird es ermöglichen, so meint man, im selben Atemzug die Vormachtposition Arafats und seiner Gefolgsleute bei den Palästinensern zu vernichten und so mittelfristig zuverlässige Verhandlungspartner hervorzubringen. Dieser heilsame Schock könnte auch den Iran und Syrien überzeugen, ihre Unterstützung für den libanesischen Hisbollah einzustellen. Auch wenn diese Hoffnungen etwas illusorisch sind - denn nichts garantiert, dass der Sturz von Saddam Hussein zu einer Demokratisierung von Irak und zu einer Stabilisierung in dieser Region führt -, versteckt Israel seine Ungeduld in Bezug auf eine Aktion der Amerikaner nicht. Sharon und Peres gingen sogar so weit, Präsident Bush öffentlich zu ermutigen, und vermittelten so den Eindruck, Israel giesse Öl ins Feuer und provoziere eine Reaktion, was vielleicht nicht sehr weise ist. Doch diese Haltung der israelischen Spitzenpolitiker bedeutet, dass es dieses Mal ausgeschlossen ist, sich diskret im Hintergrund zu halten wie vor elf Jahren. Die schweren Zerstörungswaffen, die Irak erworben hat - auch wenn noch nicht erwiesen ist, dass es diesem Land gelungen ist, sich Atomwaffen zu besorgen -, stellen eine direkte Bedrohung sowohl für Israel, aber ebenso für die erdölfördernden Golfstaaten dar. Während des Kriegs von 1991 war die über alle Massen gelobte Zurückhaltung der Regierung Schamir, die sich trotz der 39 auf israelisches Territorium abgeschossenen SCUD-Raketen jeder Reaktion enthalten hatte, vor allem auf ein absolutes Verbot von Washington zurückzuführen. Auf einen strengen Befehl. Diese Politik der Widerstandslosigkeit, gegen die sich die Armee und der Verteidigungsminister Arens entschieden gewehrt hatten, hat das Abschreckungspotenzial Israels bestimmt in arge Mitleidenschaft gezogen, indem sie sowohl ganz konkret als auch in den Köpfen drei Präzedenzfälle schuf: zum ersten Mal reagierte Israel nicht auf einen gewalttätigen Angriff gegen seine Bevölkerung; zum ersten Mal überliess Israel seine Sicherheit dem Gutdünken einer ausländischen Macht; zum ersten Mal wurde das israelische Hinterland direkt getroffen. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass man in der arabischen Welt diese Präzedenzfälle registriert und sie als ein Zeichen von Schwäche, von Weichheit, von Verwundbarkeit interpretiert hat. Die israelischen Leader sind sich dieser gefährlichen Wirkung bewusst und wollen aus diesem Grund zum "traditionellen" Verhalten der israelischen Armee zurückkehren; sie haben den Amerikanern mitgeteilt, dass dieses Mal jeder Angriff auf Israel sofort mit einem scharfen Gegenschlag vergolten würde. Die israelische Zivilbevölkerung bereitet sich nun ganz ohne Hysterie darauf vor, da sie weiss oder hofft, dass die Tage des irakischen Regimes nun gezählt sind. Wir haben keine Wahl, erklärt die Regierung Bush denjenigen, die ihre Politik der Stärke kritisieren. Dies trifft vielleicht nicht ganz zu, antworten einige Militärspezialisten in Israel. Es besteht allerdings in ihren Augen kein Zweifel daran, dass Israel sich in einer ausweglosen Situation befindet und dass nun alles in geduldiger, aber stetiger Weise unternommen werden muss, um die schweren Fehler des Osloer Prozesses auszumerzen. In dieser Hinsicht kommt man ungeachtet aller Kritik und aller Vorbehalte nicht umhin festzustellen, dass die gegenwärtig amtierende Regierung ihre Aufgabe recht gut erfüllt. Und dieser Ansicht sind auch die meisten Israelis. |