Eine ungewöhnliche Bibliothek | |
Von Roland S. Süssmann | |
Eine Bibliothek zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass sie mehr oder weniger seltene Werke enthält. Die Besonderheit der jüdischen Bibliothek von Zagreb liegt darin, dass sie nicht nur eine Reihe von jüdischen Büchern aus allen Bereichen umfasst, sondern auch in gewisser Weise das geschriebene Gedächtnis einer Gemeinschaft darstellt, die während der Schoah praktisch vollständig vernichtet wurde. Darüber hinaus kann man sie als eigentliches Zentrum bezeichnen, in dem die Leser ihre Gedanken austauschen und auf informellem Weg Antworten auf die Fragen finden, die sie sich in Bezug auf ihre jüdische Identität stellen. Man gelangt ebenfalls zur interessanten Feststellung, dass das Verlagswesen für jüdische Bücher, mit Ausnahme einiger Gebetsbücher und Werke über die jüdische Geschichte in Jugoslawien im Allgemeinen und in Kroatien im Besonderen, die insbesondere zwischen dem Beginn des Jahrhunderts und 1939 veröffentlicht wurden, keine Entwicklung erlebt hat, wie dies beispielsweise in Wilna der Fall war (siehe SHALOM Vol. 36). Im Verlaufe der fünf Jahrhunderte währenden jüdischen Präsenz in Jugoslawien haben die Juden dennoch einen beträchtlichem Beitrag zur Literatur, zum Journalismus und zur Entwicklung der Wissenschaft geleistet. Die älteste jüdische Publikation ist eine Sammlung von frommen Gedichten, von ethischen und theologischen Aufsätzen und von Responsen des Rabbiners Israel Isserlein, der im 15. Jahrhundert in Maribor (Slowenien) lebte. Anschliessend kam eine Reihe von Schriften aus der Feder von Rabbinern des 16. Jhs. dazu, von denen die berühmtesten aus der Feder der Rabbiner Salomon Cef und Aron Lunelli-Koen aus Dubrovnik, sowie von Didacus Pyrrhus stammen, der als erster jüdischer Dichter des Landes bekannt ist, der nichtreligiöse Poesie auf Lateinisch verfasste. Sein Zeitgenosse Amatus Lusitanus, der ebenfalls aus Dubrovnik kam, veröffentlichte als erster Jude medizinische Abhandlungen. Sowohl der Dichter als auch der Arzt waren Marranen. Im 19. Jh. brachten die besonders florierenden jüdischen Gemeinschaften in Kroatien und in der Wojwodina zahlreiche Autoren hervor: die berühmtesten unter ihnen waren sehr gelehrte Rabbiner, wie Dr. Samuel Spitzer in Osijek und Dr. Hosea Jacobi in Zagreb. In dieser Zeit entstanden jüdische Gesellschaften für Literatur und Kultur, Zeitungen und Zeitschriften wurden herausgegeben. Seltsamerweise wurden die meisten Publikationen in Ladino, Jiddisch, Deutsch und Ungarisch verfasst, erst allmählich gab man jüdische Periodika in den gesprochenen Sprachen heraus, nämlich auf Serbisch und Kroatisch. Wenn man jedoch den Beitrag des jugoslawischen Judentums zur Literatur im Allgemeinen und zur jüdischen im Besonderen erwähnt, wird man ihm nur dann gerecht, wenn man auch von den Werken des Grossrabbiners von Semlin, Jehudah ben Salomon Chaï Alkalai (1798-1878), spricht, der 53 Werke veröffentlichte, die ersten beiden in Ladino, die restlichen in Hebräisch. Seine Artikel erschienen in allen grossen jüdischen Zeitschriften jener Zeit. Als Vorläufer und Verteidiger des zionistischen Ideals auf der Grundlage der Forderung, dass die Juden eine Bewegung organisieren müssten, die ihnen die Niederlassung in ihrer wahren Heimat Eretz Israel ermöglichen würde, widmete er zahlreiche Schriften dem Thema einer politischen Renaissance des Judentums, die zu einer religiösen, wirtschaftlichen, moralischen und sprachlichen Erneuerung innerhalb des jüdischen Volkes überall auf der Welt führen würde. Zu Beginn des 20. Jhs. und ganz besonders in der Zwischenkriegszeit florierte die jüdische Gemeinschaft. In ganz Jugoslawien erlebte das jüdische Verlagswesen einen bedeutenden Aufschwung, der sich dadurch ausdrückte, dass gleichzeitig jüdische Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler und Intellektuelle ihre Werke in nichtjüdischen Publikationen veröffentlichten. Obwohl viele von ihnen sich mit Themen im Zusammenhang mit dem Judentum befassten, behandelten andere auch weltliche Gegenstände und trugen auf diese Weise in hohem Ausmass zur Bereicherung der jugoslawischen Literatur bei. Aufgrund ihrer ausgezeichneten Fremdsprachenkenntnisse gehörten die Juden zu den ersten Übersetzern von Werken aus der Weltliteratur und der internationalen Grundlagenwissenschaft in die kroatische und serbische Sprache. Die bedeutendste jüdische Zeitung Jugoslawiens, die Wochenzeitschrift «Zidov» (Jude), wurde in Zagreb herausgegeben, während ein monatlich erscheinendes jüdisches Kunstmagazin, «Ommanut», das in derselben Stadt herauskam, nach fünf Jahren, d.h. nach dem Beginn der Nazi-Okkupation, nicht mehr existierte. Die Rabbiner Gavro Schwarz und Schalom Freiberger, die beide in der Schoah ermordet wurden, hatten eine Gruppe für das Studium der jüdischen Geschichte und für die Herausgabe von Abhandlungen zu diesem Thema gegründet. Erinnern wir schliesslich daran, dass Lavoslav Hartmann, der erste Bibliothekar Kroatiens, im ganzen Land Leihbüchereien geschaffen und seine eigene Druckerei ins Leben gerufen hatte. In den ersten Monaten der Schoah gehörten die jüdischen Intellektuellen und Schriftsteller zu den ersten Opfern der Nazis und ihrer Kollaborateure. Nach dem Krieg verfiel die Gemeinschaft in eine Art Winterschlaf und erwachte erst im Jahr 1985, als Slavko Goldstein Präsident der Gemeinde wurde, wieder zu einem gewissen Leben. Der Herausgeber Goldstein, der an allem sehr interessiert war, was mit der jüdischen Identität zu hat, begann damit, eine Reihe von Büchern über Glauben, Religion, Geschichte und Identität der Juden herauszugeben. Unter den Autoren der verschiedenen Bücher über den Glauben befindet sich auch Juljia Kos, Historikerin, Schriftstellerin und heute Chefkuratorin der jüdischen Zentralbibliothek in Zagreb. Man muss sich der Bedeutung dieser Art von Publikationen schon bewusst sein, denn die jüdische Bevölkerung in Kroatien hatte ihr religiöses Erbe praktisch völlig vergessen. Paradoxerweise wurden diese Bücher auch in der nichtjüdischen Öffentlichkeit Kroatiens mit Interesse aufgenommen, da man begierig nach mehr Informationen über die jüdischen Nachbarn suchte. In dieser Hinsicht verdient es die Geschichte der Beziehung von Juljia Kos zum Judentum, sowie ihr immer stärkeres Engagement im Leben der Gemeinde hier erwähnt zu werden, denn sie ist interessant und typisch für viele kroatische Juden. Juljia wurde zwar in eine echte jüdische Familie (Vater und Mutter) geboren, genoss aber nicht die Spur einer jüdischen Erziehung. Vor ungefähr fünfzehn Jahren traf sie einen amerikanischen Rabbi, der ihr vom Judentum und von Israel erzählte. «Da ich ein Diplom als Archäologin besitze, weiss ich, wovon Sie sprechen», sagte sie ihm. Darauf antwortete der Rabbiner: «Heute sehen Sie dies alles nur durch die Brille der Archäologie, während es für mich das Leben, mein Leben... Ihr Leben ist.» Juljia interessierte sich danach immer mehr für das Judentum, las stundenlang, tage- und nächtelang Bücher zu diesem Thema und identifizierte sich schliesslich voll und ganz mit einer Erziehung, von der sie zwar viele Aspekte kannte, die sie aber bis anhin nicht als Teil ihres religiösen und kulturellen Erbes angesehen hatte. Gleichzeitig suchte sie die Gemeinschaft auf, von deren Existenz sie gehört hatte, die sie jedoch nie in ihre Aktivitäten oder in ihren Freundeskreis eingeschlossen hatte. Sie begann mit einigen Stunden freiwilliger Arbeit in der Bibliothek und wurde sich bald bewusst, dass immer mehr Glaubensgenossen sie täglich aufsuchten; in ihren Gesprächen mit ihnen entdeckte sie einen wahren Hunger nach Wissen und den innigen Wunsch nach Identifikation. Da sie viele Stunden mit dem Beantworten von zahlreichen Fragen verbrachte, beschloss sie eines Tages, eine kleine Broschüre zu den Themen zu verfassen, die am häufigsten Inhalt der Fragen waren. Doch es kamen immer mehr Themen zusammen, und so wurde aus der Broschüre letztendlich ein Buch. Allmählich engagierte sich Frau Kos immer mehr im Leben der Gemeinde und nach einer gewissen Zeit bot man ihr die Leitung der Bibliothek an. Heute umfasst die Bibliothek ca. 7500 Werke, von denen 2000 aus der Privatbibliothek des bekannten jüdischen Anwalts Ladislav Schik stammen. Zu den Benutzern gehören vor allem Menschen, die aus reiner intellektueller Neugier heraus mehr über das Judentum erfahren möchten, denn in der Regel werden durch ihre Lektüre weder ihre Identität noch ihre Frömmigkeit verstärkt. |