Litauische Zweideutigkeit | |
Von Dr. Efraim Zuroff * | |
Am 23. September 2001, der dieses Jahr auf die «Zehn Tage der Busse» zwischen Rosch Haschanah und Jom Kippur fällt, gedenkt Litauen des Massakers an den Juden des Landes während der Schoah. Der Gedenktag wurde offiziell im Jahr 1991 eingeführt, als diese baltische Republik ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangte. Seither sind zehn Jahre vergangen und nun kann man die Gesten der litauischen Regierung betrachten und die konkreten Massnahmen beurteilen, die angesichts der schrecklichen Verbrechen der Litauer während des Zweiten Weltkriegs ergriffen wurden. An dieser Stelle muss jedoch noch einmal kurz auf die Rolle hingewiesen werden, welche die Bewohner Litauens bei der Umsetzung der Endlösung gespielt haben. Litauen hat sich in diesem Bereich aus zwei Gründen hervorgetan. Einerseits hält es den europäischen Rekord in Bezug auf den Anteil an jüdischen Opfern: fast 96% der 220'000 unter der Nazi-Besatzung in Litauen lebenden Juden wurden ermordet. Andererseits lag die Zahl der von den ansässigen Nazi-Kollaborateuren getöteten Juden extrem hoch, da die litauische Beteiligung an den Massakern sehr weitreichend gewesen war. In mindestens 40 verschiedenen Ortschaften wurden die Juden noch vor dem Einmarsch der nationalsozialistischen Truppen tätlich angegriffen; so attackierten z.B. in den Gemeinschaften von Uzpaliai, Zarasai, Birzai, Debeikiai und Dusetos Banden von «militanten» Litauern ihre jüdischen Nachbarn, ohne auf die Nazis und ihre Aufforderungen zu warten. Nachdem die Wehrmacht das Land vollständig besetzt hatte, nahm die Rolle, welche die lokale Bevölkerung bei der Vernichtung der Juden spielte, an Bedeutung noch zu. Litauische Freiwillige der Nationalen Bataillone zur Verteidigung der Arbeit (Tauto Darbo Apsaugos Batalionas), die anschliessend in Bataillone der Hilfspolizei (Pagelbines Policijos Tarnybus Battaliones) verwandelt wurden, beteiligten sich aktiv an der Massenermordung der Juden in den grossen Städten, wie Vilnius (Wilna), Kaunas (Kovno) und Siauliai (Shavel), aber auch in zahlreichen Ortschaften und Dörfern der Provinz. In bestimmten Gemeinschaften wurde die Misshandlung der Juden ganz den Litauern übertragen, die sich mit grossem Eifer um die Erfüllung ihrer Aufgabe bemühten. Dazu kam, dass die litauische Sicherheit (Saugumas) ebenfalls in hohem Ausmass an den Verfolgungen und dem Massaker an den Juden in Weissrussland teilnahm und dass einige Angehörige dieser Polizeikorps als Wärter in den Vernichtungslagern in Polen beschäftigt wurden. Es leuchtet ein, dass angesichts dieser kurzen Übersicht jede Stellungnahme der Litauer in Bezug auf die Schoah unbedingt mit einem ausdrücklichen Eingeständnis der Komplizenschaft Litauens bei diesen Verbrechen einher gehen muss. In meiner Eigenschaft als Aufspürer der Nazis einerseits und als Fachmann für die in Litauen durchgeführten Gräueltaten während Schoah andererseits habe ich die Massnahmen, die von den aufeinanderfolgenden litauischen Regierung zur Bewältigung der Vergangenheit ergriffen wurden, aufmerksam verfolgt. Wie andere postkommunistische Gesellschaften zuvor, musste sich Litauen sofort nach der Unabhängigkeit damit auseinandersetzen; die neue Republik wünschte nämlich diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen und den Kontakt zur jüdischen Welt wieder zu pflegen, insbesondere um dadurch die Unterstützung der USA zu erhalten und seine Integration innerhalb des demokratischen Europas anzustreben. Es ist klar, dass eine Versöhnung mit den Juden nur möglich war, wenn man der düsteren Vergangenheit Litauens und den während der Schoah begangenen Verbrechen ohne Ausflüchte ins Auge blickte. Heute, zehn Jahre später, kann die Situation kritisch betrachtet und der Stand der Beziehungen zwischen Juden und Litauern untersucht werden. Die litauischen Behörden sind bisher auf zwei Ebenen vorgegangen: Erklärungen und symbolische Gesten auf der einen Seite, gerichtliche Massnahmen und Vorkehrungen vor Ort auf der anderen Seite. Es war von Beginn des Prozesses an abzusehen, dass Litauen seine Schuld an den Verbrechen der Schoah in einer offiziellen Erklärung eingestehen musste. Dies geschah am 8. Mai 1990 durch die Seimas, das litauische Parlament; die Formulierung war jedoch bei weitem nicht zufriedenstellend und aufgrund der in der Erklärung enthaltenen Reserven war sofort klar, wie sehr es den Litauern schwer fiel, sich der Vergangenheit der Nation zu stellen. Im Juni 1991 hielt Premierminister Gediminas Vagnorius eine Rede anlässlich der Einweihung der Gedenkstätte von Paneriai, dem Schauplatz des Massakers an den Juden von Vilnius; diese Rede setzte aber auch die Serie der zweideutigen Erklärungen fort, in denen die Politiker Litauens die Verantwortung des Landes bei der Vernichtung der Juden zu schmälern versuchten. Der Premierminister erwähnte die (geringe) Unterstützung der Litauer zugunsten der Juden während des Zweiten Weltkriegs, als ob dies ihre (viel deutlichere) Beteiligung an den Ermordungen kompensieren könnte. Darüber hinaus betonte er, die Verantwortlichen seien alles Kriminelle gewesen und die Tragödie habe «mindestens drei Monate» gedauert. Wenn man weiss, dass der Leidensweg des litauischen Judentums unter der Knute der Nazis und ihrer litauischen Helfershelfer in Wirklichkeit zwölf Mal länger währte und dass diese Kollaborateure aus allen Schichten der litauischen Gesellschaft stammten, kann man die Zweideutigkeit ermessen, die in offiziellen Kreisen vorherrschte; sie waren sich zwar der Notwendigkeit bewusst, die Verbrechen der Vergangenheit zuzugeben, zögerten jedoch, ihren wahren Umfang und ihre tatsächlichen und unabwendbaren Folgen einzugestehen. Zu Gunsten der Regierung lässt sich die Einführung eines offiziellen Gedenktages an den Völkermord der Juden in Litauen anführen, nämlich den 23. September. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob dieser Tag sich in irgendeiner Weise auf die litauische Gesellschaft auswirken wird. Nimmt man die juristischen Massnahmen unter die Lupe, welche die litauische Regierung im Verlauf der vergangenen zehn Jahre getroffen hat, stellt man fest, dass zwei Fragen die Debatte zu diesem Thema in der Öffentlichkeit dominiert haben: die Verurteilung der nationalsozialistischen litauischen Kriegsverbrecher und die Rehabilitierung von schuldig gesprochenen Bürgern durch die litauischen Rechtsbehörden. Die Diskussion betreffend die Verfolgung der Kriegsverbrecher entstand ganz spontan nach dem Eingeständnis der Rolle der Litauer bei der Judenvernichtung, doch sie erwies sich in den letzten zehn Jahren als immer problematischer. Nach dem Erhalt der Unabhängigkeit ergriffen die litauischen Behörden keinerlei Initiative, um die Bürger, die an der Schoah beteiligt gewesen waren, zu verurteilen; dazu beriefen sie sich auf die zahlreichen Prozesse, die von den Sowjets unmittelbar nach dem Krieg angestrengt worden waren. Dann aber kam es zum Skandal, der durch die Rückkehr von zehn Nazi-Kollaborateuren nach Litauen ausgelöst wurde, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die Vereinigten Staaten geflüchtet und während vierzig Jahren dort in völliger Straffreiheit gelebt hatten. Plötzlich wurde diesen Leuten Strafverfolgung durch das amerikanische Büro für Spezialuntersuchungen angedroht, da sie ihre Tätigkeit während des Krieges verheimlicht hatten. Diese Affäre bewirkte, dass die Debatte über das Schicksal der ehemaligen Nazis wieder aufgenommen wurde. In dieser Hinsicht dient der Fall von Aleksandras Lileikis als Beispiel: dieser Mann war während der gesamten Schoah Kommandant der litauischen Sicherheitspolizei in Vilnius gewesen. Er verliess Boston, nachdem er seine amerikanische Staatsbürgerschaft verloren hatte, und kehrte im Mai 1996 nach Vilnius zurück. Unter den ehemaligen, ins Land zurückgekehrten Kriminellen hatte Lileikis als Nazi-Kollaborateur den höchsten Rang bekleidet. Die Tatsache, dass er sich ohne Schwierigkeiten in Litauen aufhalten konnte, führte zu einem enormen Druck auf die litauischen Behörden: bisher war keine einzige Untersuchung gegen einen Kriegsverbrecher in Litauen eingeleitet und natürlich auch kein einziges Gerichtsverfahren angestrengt worden. Während über eines Jahres nach seiner Rückkehr wurde aber auch Lileikis nicht einmal befragt; als er endlich angeklagt wurde, waren sich alle bewusst, dass er aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht verurteilt werden könnte. Erinnern wir daran, dass er bis an sein Lebensende nicht einen einzigen Tag im Gefängnis verbrachte und nie aufgefordert wurde, an einer Gerichtsverhandlung zu erscheinen, an der sein Fall besprochen wurde. Nur ein Mal, im November 1998, tauchte er aus eigenem Antrieb für zehn Minuten vor Gericht auf. Um sich gegen die internationale Kritik zu verteidigen, die sich gegen den Stillstand in diesem Gerichtsfall und in ähnlichen Verfahren wandte, liess die litauische Regierung über neue Gesetze abstimmen, welche die Befragung und Verurteilung von Kriegsverbrechern ermöglichte, deren Gesundheitszustand sie bisher vor dem Gesetz geschützt hatte. Diese Massnahmen zeitigten aber keine konkreten Resultate. Lileikis starb ohne verurteilt zu werden, während seine rechte Hand Kazys Gimzauskas jedoch angeklagt und für schuldig befunden wurde, der Durchführung der Strafe jedoch wiederum aus gesundheitlichen Gründen entging. In diesem Bereich kann man dem Land Litauen einzig anrechnen, dass Vilnius im März 2001 bei Grossbritannien ein Gesuch einreichte, in dem die Auslieferung von Antanas Gecas (Gecevicius), wohnhaft in Edinburgh, verlangt wurde: Gecas diente als Offizier im grausamen 12. Litauischen Bataillon der Hilfspolizei, die in den Jahren 1941-1943 in Litauen und Weissrussland Tausende von Juden umbrachte. Es bleibt zu hoffen, dass diese Tat einen tatsächlichen Wendepunkt in der litauischen Politik betreffend die gerichtliche Verurteilung seiner Kriegsverbrecher symbolisiert. Die Art und Weise, in der die litauische Regierung mit den Rehabilitierungen umging, zeugt ebenfalls von ihren Schwierigkeiten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Gesetz über die Rehabilitierungen, das am 2. Mai 1990 verabschiedet wurde, verbietet formell, einer Person die Rehabilitierung zu gewähren, die «am Völkermord beteiligt war»; ungeachtet dieser Bestimmung wurde zahlreichen nationalsozialistischen Verbrechern, die von den Sowjets für schuldig befunden wurden, in den Jahren 1990-1991 letztendlich vergeben (sie erhielten sogar eine grosszügige finanzielle Abfindung). Dieser Skandal wurde vom Zentrum Simon Wiesenthal aufgedeckt, und die litauische Regierung gab einmal mehr dem internationalen Druck nach und verpflichtete sich, dieser Situation abzuhelfen: eine gemeinsame israelisch-litauische Untersuchungskommission wurde ins Leben gerufen und soll alle Fälle neu überprüfen. Nach einer Untersuchungsmission der israelischen Mitglieder in Vilnius im Jahr 1995 stellte die Kommission ihre Tätigkeit jedoch ein, seither kümmern sich die litauischen Behörden selbst um die Revision der Fälle, wobei sie dabei extrem langsam vorgeht und ihre israelischen Kollegen nicht einbezieht. Gegenwärtig, fast zehn Jahre nach der Schaffung der Kommission, wurden 47 Rehabilitationen annulliert: von keinem einzigen der Betroffenen verlangte man jedoch die Rückerstattung der erhaltenen Abfindung, und die Namen der Verbrecher erschienen nie in den litauischen Medien. Wenn aber die israelischen Kommissionsmitglieder ihre Arbeit hätten fortsetzen und am Verfahren der nachträglichen Überprüfung hatten teilnehmen dürfen, wären die Ergebnisse zweifellos drastischer ausgefallen. Unter diesen Umständen wäre es an diesem 23. September sinnvoller, wenn die litauischen Spitzenpolitiker nicht die üblichen Gemeinplätze über die Vernichtung des litauischen Judentums von sich geben würden, sondern die Geschichte des vergangenen Jahrzehnts gründlich untersuchen und den deutlichen Widerspruch zwischen ihren Erklärungen und ihrer tatsächlichen Politik bedenken würden. Sie müssten alles unternehmen, um diese Divergenz in den kommenden zehn Jahren aus der Welt zu schaffen. * Dr. Efraim Zuroff, Nazi-Jäger, Historiker, Fachmann der Schoah im Baltikum und Leiter des Büros in Jerusalem des Simon Wiesenthal Center von Los Angeles. |