«Dos is geven unser Glick !» | |
Von Roland S. Süssmann | |
«Dies war unser Glück !» Als Professor MEJERIS SCHUBAS diese Worte ausspricht, strahlt er über das ganze Gesicht. Wir haben diesen Gestalter und Zeugen seiner Epoche gebeten, uns sein Leben zu erzählen. Seine Erfahrung steht stellvertretend für das, was Abertausende von jungen Juden während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa erlebt haben. Mit 76 Jahren lehrt Professor Schubas immer noch im Vollzeitpensum jüdische Geschichte und jüdische Philosophie an der Universität Wilna. Meïr Schub, wie er von seinen Freunden genannt wird, besitzt sowohl Liebenswürdigkeit als auch Charisma. Er drückt sich mit Sanftheit und Entschlossenheit aus und in seinem Jiddisch vermengen sich Trauer und Humor mit Realitätssinn und Ironie. Als ich ihn aufforderte: «Rebb Meïr, sogt mir eïer Leïben» (erzählen Sie mir Ihr Leben), antwortete er lachend: «a lange sach» (das ist eine lange Geschichte). 1925 liess sich der einfache Tischler Eliezer Schub aus Wilna in Kovno nieder, wo der kleine Meïer das Licht der Welt erblickte. In dieser Stadt, damals Hauptstadt der unabhängigen Republik Litauen, verbrachte er auch seine ganze Kindheit. In Kovno lebten sein Grossvater väterlicherseits, dessen Frau und die beiden Brüder seines Vaters. Meïr begann seine Schulzeit in einem «Cheder» und trat später ins jiddische Gymnasium «Scholom Aleïchem» in Kovno ein. Er bestand die Matura zwei Tage vor Kriegsausbruch, d.h. am 20. Juni 1941, obwohl er erst sechzehn Jahre alt war. Er wollte in Moskau Mathematik studieren, doch seine Pläne wurden für immer vom Krieg zunichte gemacht, der sein Leben völlig auf den Kopf stellte. Zwischen Deutschland und der UdSSR war soeben der Konflikt ausgebrochen. Was haben Sie an diesem ersten Tag des Krieges erlebt? Ich erinnere mich daran, als ob es erst gestern gewesen wäre. Um vier Uhr morgens haben wir die ersten Flugzeuge gehört, die ersten Bomben schlugen nicht weit von meinem Zuhause ein. Ich ging zur Schule und rief meine Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass der Krieg begonnen hatte. Da ich als aktives Mitglied bei der kommunistischen Jugend mitmachte, beschloss ich zusammen mit drei jüdischen Freunden die Stadt zu verlassen. Wie hätten wir auch nur ahnen sollen, was später geschah? Eine schöne, junge Litauerin half uns bei der Flucht, sie führte uns durch kleine Gassen, damit wir nicht geschnappt wurden. Sie erklärte uns, die Litauer, die Schergen der deutschen Wehrmacht, würden auf alle Juden und Kommunisten schiessen. Endlich kamen wir aus der Stadt heraus, begleitet von anderen jungen Juden und Kommunisten aus Litauen und Polen, denen wir auf unseren Schleichwegen begegnet waren und denen wir vorgeschlagen hatten, sich uns anzuschliessen. So begann also eine lange Reise. Was ist Ihnen denn wirklich widerfahren? Wir gingen zu Fuss Richtung Norden und durchquerten dabei zahlreiche Städte und Dörfer. Schliesslich gelangten wir nach Vilkomir. Hier sahen wir zum ersten Mal mit eigenen Augen, wie die Litauer vom Turm des Klosters aus auf die verfolgten Juden schossen. Auf diese Weise kam mein bester Freund, Mosche Gorus, durch einen Gewehrschuss in die Stirn ums Leben. Wir baten die ansässige jüdische Gemeinschaft ihn zu begraben und setzten unseren Weg nach Dinaburg fort. In Utyan riet uns der Vater eines russischen Freundes, nicht weiter nach Norden zu gehen, da die Deutschen die Region mit Hilfe von Fallschirmjägern in ihre Gewalt gebracht hatten. Er führte uns durch Felder und Wälder nach Svintsyan. «Un dos is geven unser Glick !» Die Hälfte der jungen Leute, die sich von uns getrennt und ihren Weg nach Dinaburg fortgesetzt hatten, wurden nämlich unterwegs von den Litauern ermordet. Da die meisten Kommunisten geflohen waren, wandte man sich nun gegen die Juden und tötete sie. Der Völkermord an der jüdischen Gemeinschaft von Litauen hat folglich bereits am 23. Juni 1941 begonnen, VOR DEM EINMARSCH DER DEUTSCHEN ! Die Litauer griffen zunächst die jungen Juden an, weil diese zu flüchten versuchten. Die Zurückgebliebenen wurden später umgebracht. Dann erreichten meine Freunde und ich die Grenze zwischen der UdSSR und dem ehemaligen Polen. Am Grenzübergang warteten viele tausend Flüchtlinge, die in die UdSSR einreisen wollten, doch von den Zöllnern daran gehindert wurden. Ein Kommandant der Roten Armee, ein Jude, wandte sich auf einmal an die Menge und sagte: «Worauf wartet ihr hier eigentlich? Die Rote Armee hat bereits Königsberg erobert, kehrt also ruhig nach Hause zurück». Einige waren naiv genug, um darauf hereinzufallen. Als Jude und Litvak blieb ich allerdings misstrauisch und riet den Leuten: «Bleiben wir noch ein paar Tage hier. Wenn die Sowjets schon in Königsberg sind, werden wir das rasch erfahren und können beruhigt zurückkehren. Es macht nicht den geringsten Unterschied, ob wir einen Tag früher oder später zu Hause sind.» Viele von ihnen antworteten: «Du spinnst ja. Warum sollten wir einem Offizier der Roten Armee, der überdies Jude ist, nicht glauben?» Ich erwiderte: «Er mag Jude sein, doch ich werde warten.» Und dies war unser Glück ! Als wir am nächsten Morgen aufwachten, waren die Zöllner verschwunden. Wir erkundigten uns bei den Bauern im Nachbardorf, was geschehen war. Sie sagten uns, die «roten» Zöllner seien in der Nacht nach Osten geflohen. Dies hiess eindeutig, dass nicht die Rote Armee Königsberg besetzte, sondern die Deutschen. Später, als ich nach Kovno zurückkam, erzählte man mir, dass von den hundert Menschen, die an jenem Tag zurückgegangen waren, nur zehn lebend in der Stadt eingetroffen seien. Alle anderen – 90 Personen - waren von den Litauern getötet worden! Dies ist natürlich eine schreckliche Geschichte, doch ich habe daraus gelernt, dass man niemandem blindlings trauen soll, auch wenn er ein Jude ist. Da begab ich mich nach Polotsk und ging von dort zu Fuss weiter nach Vitebsk. Ich war sechzehneinhalb Jahre alt. Wir besassen keinen Rappen mehr und hatten Hunger. In den kleinen Gemeinden, die wir durchquerten, teilten die Juden ihre kärglichen Mahlzeiten mit uns und gaben uns ein Blatt Papier, auf das sie auf Russisch geschrieben hatten, wir würden um einen Kanten Brot, ein wenig Wasser oder Milch betteln. Am 3. Juli 1941 hatte ich am Bahnhof von Vitebsk eine Rede von Stalin gehört, der jeden aufforderte, sich auf den Kampf gegen die Deutschen vorzubereiten. Ich kletterte in einen überfüllten Zug, und dies war mein Glück. Er war nämlich voller Juden, die sich des Jünglings erbarmten, der ich war und der nur Jiddisch verstand und Hunger hatte. Da spürte ich, wie tröstlich die Solidarität in der Not sein kann. Alle Passagiere fingen sofort an, mir Essen anzubieten – hier ein Stück Brot, dort einen Bissen Fleisch usw. Der Zug brachte uns zu einem kleinen Ort an der Wolga, in die Republik Mordavien, die heute nicht mehr existiert. Hier kamen meine Freunde und ich in eine Kolchose, wo ich mich bis im Januar 1942 mit verschiedenen Arbeiten nützlich machte. Befanden Sie sich immer auf der Flucht oder haben Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt auch gekämpft? In dieser Zeit wurde die 16. Litauische Division der Roten Armee gegründet. Wie viele andere Juden auch schloss ich mich freiwillig dieser Brigade an, in der einige Befehlshaber jiddisch sprachen! Ich wurde nach Nijni Novgorod geschickt. Dort bekam ich eine Uniform und das übrige Marschgepäck. Zufällig traf ich da auf meine Schwester, die sich in einem kleinen Dorf in Litauen verstecken konnte und der die Flucht gelungen war. Da ich die Matura hatte, galt ich als «gebildet» und erhielt den Posten eines Adjutanten des politischen Kommissars. In der Zwischenzeit hatte ich ein wenig russisch gelernt. Dieser Kommissar stammte aus Litauen, er konnte kaum lesen und schreiben. Eines Abends fragte ich ihn während eines Plauderstündchens, wo sich denn die Front befinde. An der Wand seines Büros hing eine Weltkarte. Der Mann hatte wahrscheinlich noch nie zuvor eine gesehen, denn er wies mit dem Finger auf Australien und versicherte mir, dass die Front jetzt dort sei. Ich sagte ihm, er lüge. Das passte ihm überhaupt nicht und er verdonnerte mich zu zwei Wochen Gefängnis. Auf dem Weg dorthin begegnete uns ein Freund, der mich fragte, wohin ich ginge. Ich erwiderte: «Ich gehe auf die Jagd und meine beiden Wärter tragen mir das Gewehr…». Wissen Sie, ein Jude muss immer lachen, das ist gesund für Körper und Geist. Nach drei Stunden im Kerker holte mich ein alter jüdischer Kommunist wieder heraus. Er meinte, es sei schade mein Wissen zu vergeuden (damals war eine höhere Schulbildung etwas ganz Besonderes) und teilte mich einem höheren Kommissar als Adjutant zu. Nach einiger Zeit wurde ich aber an die Front geschickt. Da ich als einziger deutsch konnte, kam ich in eine Einheit, die Telefonleitungen abhörte, um die Mitteilungen der Deutschen auszuspionieren. Eines Tages, wir befanden uns hinter der deutschen Linie und hatten unsere Abhörsysteme an ihre Telefonkabel angeschlossen, lockten uns die Deutschen in einen Hinterhalt. Ich wurde verletzt und meine Kameraden sagten: «Kehren wir zum Stützpunkt zurück». Ich antwortete ihnen: «Die Deutschen haben uns bestimmt eine Falle gelegt, ich komme nicht mit». Dies war mein Glück! All jene, die zurückgegangen waren, wurden in die Falle gelockt und getötet. Verletzt versteckte ich mich mehrere Tage lang ohne Lebensmittel und fast ohne Wasser im Wald. Dank einer russischen Offensive wurden wir gefunden. Nach meiner Genesung kam ich als Dolmetscher zur politischen Verwaltung der ersten baltischen Front. Meine Aufgabe bestand darin, die deutschen Gefangenen zu befragen. Ich erinnere mich an einen Wehrmachtsoffizier, der uns unglaubliche Geschichten aufzutischen begann. Da habe ich ihm auf Deutsch gesagt – und über die Erinnerung freue ich mich noch heute: «Ich bin ein Jude, verstehen Sie, ein Jude!» Er bekam grosse Angst und gab zu, der Waffen-SS anzugehören, beteuerte aber, nie einen Juden umgebracht zu haben. Wo waren Sie am Ende des Krieges? Ich hielt mich in Königsberg auf und ich kann Ihnen sagen, dass der 8. und 9. Mai 1945, das Datum der Kapitulation Deutschlands, grosse Tage für mich waren. Ich arbeitete bis 1948 weiterhin als Übersetzer in der Roten Armee. Dabei war ich in Leipzig in Deutschland stationiert. Hatten Sie Neuigkeiten von den anderen Mitgliedern Ihrer Familie? Als ich noch in Königsberg war, bat ich meinen Vorgesetzten um die Erlaubnis, einige Tage nach Kovno zu fahren und meine Familie zu sehen. Als ich dort ankam, fand ich niemanden vor, keinen einzigen Überlebenden. Da traf ich einen früheren jüdischen Nachbarn, der überlebt hatte. Er informierte mich, dass meine ganze Familie ins Ghetto von Kovno gesteckt worden war und dass am 30. Oktober 1941 alle ins berüchtigte 9. Fort transportiert und ermordet worden waren. Sie wurden von ehemaligen Nachbarn dorthin gefahren, denen sie früher geholfen hatten. Mein Grossvater war Kriegsinvalide aus dem Ersten Weltkrieg, meine Mutter war krank. Sie konnten beide nicht fliehen. So erfuhr ich also, dass die Litauer meine gesamte Familie, d.h. 50 Menschen, erschossen hatten. Später entdeckte ich, dass ein Bruder und eine Schwester hatten fliehen können und überlebt hatten. Mein Bruder hatte sich in einem Ferienlager in Riga aufgehalten und konnte sich retten. Meine Schwester war ebenfalls in einem Ferienlager, und der Verantwortliche bat die Russen um einen Eisenbahnwaggon, in den er alle jüdischen Kinder steckte, damit er sie darin nach Russland begleiten konnte, um sie zu retten. Er liess seine eigene Familie zurück mit den Worten: «Ihr seid nicht in Gefahr, aber die jüdischen Kinder hier sollen umgebracht werden». Kommen wir auf Ihr Leben in der UdSSR zurück. Was haben Sie nach 1948 gemacht? Ich ging wieder nach Wilna zurück, aber eigentlich hatte ich meinen alten Traum, in Moskau Mathematik zu studieren, noch nicht aufgegeben. Doch die Partei war anderer Meinung. Mein direkter Vorgesetzter erklärte mir, die Nation brauche Lehrer, die die marxistische Philosophie erklären könnten, und das müsse ich nun studieren. Ich ging also nach Moskau, wo ich alle Examen mit Auszeichnung bestand. Der Prüfer teilte mir aber mit: «Du hast zwar bestanden, doch wir nehmen dich nicht auf, weil du Jude bist und weil alle Juden Zionisten sind». Ich verneinte, aber er hielt an seiner Meinung fest: «Doch, in ihrem Innersten sind alle Juden Zionisten». Ich kehrte nach Wilna zurück und erstattete bei meinem Chef Bericht; er unternahm sofort die notwendigen Schritte, damit ich unverzüglich aufgenommen würde. An der Moskauer Universität gab es damals einen Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie, den ein Jude aus Odessa innehatte, Theodor Iljitsch Oyzermann. Er half mir beim Studium der Geschichte der jüdischen Philosophen, was vier Jahre in Anspruch nahm. Ich schloss mein Studium 1953 ab und ging nach Litauen zurück, wo ich als Dozent an das Polytechnikum von Kovno geschickt wurde. Doch auf psychologischer Ebene war dies sehr hart für mich, da ich an jeder Strassenecke mit schmerzlichen Erinnerungen an meine Familie konfrontiert wurde. Darüber hinaus herrschte eine sehr belastende Atmosphäre für uns Juden, denn es war die Epoche, als die Prozesse der litauischen Kollaborateure stattfanden, die mit den Deutschen «zusammengearbeitet» hatten. Die Gerichte waren sehr antisemitisch eingestellt und massen folglich alles mit zwei verschiedenen Ellen. Die Litauer, die Hunderte von Juden umgebracht hatten, wurden zu maximal 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, während über diejenigen, die andere Litauer getötet hatten, die Todesstrafe verhängt wurde. Dies hiess also, dass die Strafe für jeden ermordeten Juden sich auf einen kurzen Aufenthalt im Lager beschränkte. Unterdessen hatte ich geheiratet, doch aus den vorhin angeführten Gründen lebten wir später wieder in Wilna. Gleichzeitig schrieb ich eine erste Doktorarbeit über das Thema «Die jüdische Frage bei Hegel». In Wilna war ich am Akademischen Institut für Philosophie tätig und legte in Moskau eine zweite Dissertation mit dem Titel «Die Frage des Wissens bei Mosche Ben Maimon und Thomas Akina» vor. Die Jahre vergingen, ich lehrte an der Universität unter allen schwierigen Lebensbedingungen, die uns unter dem sowjetischen Regime zu schaffen machten, obwohl ich mein Leben lang Kommunist war. Der Anbruch der Perestroika und die Unabhängigkeit haben einen Wind der Freiheit ins Land und auch in die Lehre gebracht. Ich bin auch mehrmals nach Israel gereist, wo mein Bruder lebt, doch aufgrund meines Gesundheitszustandes muss ich heisses Klima meiden. In meinem Leben kam es zu einer weiteren Tragödie, als meine einzige Tochter im Alter von sechzehn Jahren bei einem Autounfall das Leben verlor. Heute arbeite ich mit grossem Vergnügen mit Professor Dovid Katz zusammen und lehre die jüdische Geschichte im Allgemeinen und jüdische Philosophie an der Universität von Wilna. Ich möchte mit den Worten schliessen, dass ich im Laufe meines Lebens sehr viel gelernt habe, dass ich aber immer erstaunt war – und es auch heute noch bin - wie viel die Leute um des nackten Überlebens willen zu ertragen bereit sind, das können Sie sich gar nicht vorstellen! «Ober wos? A yidd mis lachen!» (Aber was solls? Ein Jude muss lachen!) |