Mamme Luschen in Wilne! | |
Von Roland S. Süssmann | |
Eines Tages wird in einem litauischen Stetl ein junger Mann vom politischen Kommissar vorgeladen. Als er fortgeht, flüstert ihm seine Mutter ins Ohr: «Sog gornich, red nor yiddish» (sag nichts – sprich nur jiddisch). Das jüdische Volk besitzt zahlreiche Kulturen, sie reichen vom ehemaligen Nahen Osten bis ins moderne Amerika und nach Israel. Sie sind eng miteinander verknüpft und weisen gar bestimmte ähnliche Aspekte auf. Eine der kreativsten jüdischen Kulturen hatte sich schon vor über tausend Jahren in Osteuropa entwickelt. Ihre Sprache, das Jiddisch, eine innige Verschmelzung von hebräischen, slawischen und alemannischen Elementen, ist bekannt für ihren Humor, ihre Ironie, aber vor allem für ihre reiche Ausdruckskraft. Während Jahrhunderten galt Jiddisch als die Universalsprache der Aschkenasim, die eine neue jüdische Gesellschaft mit dem Namen «Aschkenas» gegründet hatten. Nach dem Beginn der Kreuzzüge im Jahr 1096 kam es in Mitteleuropa zu zahlreichen antijüdischen Aufständen und viele Juden zogen nach Osten und Norden fort, wo sie von den viel toleranteren litauischen und polnischen Königen aufgenommen wurden. So erreichte die jiddische Sprache also in Osteuropa und in den baltischen Staaten ihre Blütezeit. Im 18. Jahrhundert wurde sie zur Sprache des Chassidismus und im 19. Jahrhundert entstand eine neue, moderne Literatur. In ihr vermengten sich europäischer Stil und die Sprache des Volkes, was eine erstrangige Literatur hervorbrachte; absoluter Höhepunkt war die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Isaac Barshevis Singer, der ausschliesslich in jiddischer Sprache schrieb. Doch die jiddische Kultur wurde während der Schoah fast vollständig zerstört, denn die meisten Juden, die von den Deutschen und ihren Komplizen ermordet wurden, hatten jiddisch gesprochen. Die Überlebenden hingegen litten dann unter der sowjetischen Unterdrückung. Vor kurzem ist in Wilna das «Vilnius Yiddish Institute» eröffnet worden, ein Ableger des «Center for Stateless Cultures» der Universität, das von Dovid Katz geleitet wird. Direktor des Instituts ist MENDY CAHAN. Weshalb befassen wir uns aber mit einem Jiddisch-Institut in Wilna? Was gibt es Alltäglicheres, als im Jerusalem von Litauen, einem der grossen Zentren der jiddischen Sprache, eine derartige Institution vorzufinden? Ganz einfach, weil es seit der Schoah das erste Mal ist, dass eine Universität in Osteuropa ein Institut eröffnet, das sich ausschliesslich mit Jiddisch, seiner Literatur und seiner Kultur beschäftigt. Das neue Institut wurde ohne grosse Illusionen ins Leben gerufen, es masst sich nicht an, einen Abklatsch des jüdischen Lebens, das vor der Schoah in Litauen und den anderen osteuropäischen Ländern in voller Blüte stand, wieder auferstehen zu lassen. Es will einen möglichst bedeutenden Beitrag zur zeitgenössischen jiddischen Kultur und zum Studium seiner Sprache überall auf der Welt leisten. Die Verantwortlichen der Institution haben ein Programm ausgearbeitet, das sich nur in der Stadt verwirklichen lässt, die als «Heimat» des Jiddisch vor dem Krieg galt, und sie organisieren Veranstaltungen als Ergänzung zur Tätigkeit anderer Jiddisch-Zentren rund um die Welt. Es besteht also folgendes Angebot: ein Intensivkurs über einen Monat in Wilna, der Unterricht in jiddischer Sprache und kulturelle Aktivitäten umfasst, ein Festival der Volksmusik, Jiddisch-Kurse und Unterricht in jüdischen Fächern während des ganzen Jahres, wobei die erzielten Noten für das Studium an der Universität angerechnet werden usw. Die Studenten können ebenfalls an Ausflügen in Litauen und Weissrussland teilnehmen, um dort die letzten jüdischen Überlebenden dieser Dörfer, die noch jiddisch sprechen, kennen zu lernen und auf Tonband aufzunehmen. Sobald die notwendigen Mittel vorhanden sind, wird das Institut die Werke der jiddischen Literatur veröffentlichen und neu auflegen. Das «Vilnius Yiddish Institute» hat vor kurzem sein «Hauptquartier» in den Räumlichkeiten der wunderschönen, fünfhundert Jahre alten Universität aufgeschlagen, deren Herzstück eine jiddische Bibliothek ist, die mit der Zeit an Bedeutung gewinnen wird. Das Institut wird also von Mendy Cahan geleitet, dem Gründer der «Yung Yidish of Jerusalem». Er wurde in Antwerpen in Belgien geboren, da seine Eltern aus Rumänien und Ungarn eingewandert waren; er lernt die jiddische Sprache zu Hause in einer chassidischen Familie von Diamantenhändlern. In der Familienbibliothek stehen nicht nur jüdische oder jiddische Bücher, sondern auch die wichtigsten Werke der Weltliteratur. Zwischen diesen beiden Kulturen wächst Mendy Cahan nun auf. Im Alter von 18 Jahren zieht er nach Israel, wo er Philosophie, den Talmud, französische und jiddische Literatur sowie vergleichende Literatur studiert. Das vertiefte Studium der jiddischen Literatur eröffnet ihm neue Horizonte. Als er die Vielfalt, die Modernität und vor allem die Lebenskraft der Sprache erkennt, wird er sich bewusst, wie nahe ihm die Autoren stehen. Sie sprechen nicht mehr von der Trennung von Kirche und Kunst, sondern vom «Beïs Medresch» (jüdisches Studienhaus), und Mendy erkennt, dass diese Metasprache ihn zutiefst bewegt. Er beginnt in Israel nach der jiddischen Sprache zu suchen und entdeckt, dass es diese Sprache hier überhaupt nicht gibt, dass sie sogar bewusst unterdrückt wird. Die Überlebenden der Schoah, die ihre Erfahrungen und die Erinnerung an ihr Volk mitgebracht hatten, wurden nämlich systematisch und auf zweifache Weise zum Schweigen gezwungen: sie durften nichts von den Juden erzählen, «die nicht gekämpft hatten», und Jiddisch galt als «Idiom der Galuth» (des Exils). Er findet keine einzige jiddische Buchhandlung, keine Lehranstalt, keinen einzigen Kurs. Da sagt er sich: «Wir kehren nach zweitausend Jahren nach Hause zurück und die jiddische Sprache muss draussen bleiben? Es gibt ein Goethe Institut, ein Institut Français und nichts für die jiddische Sprache?» Er beschliesst etwas zu unternehmen und gründet 1992 eine Organisation namens «Yung Yidish» (Junges Jiddisch), deren erste Aufgabe darin besteht Bücher zusammen zu tragen. Da Mendy bei einer Sendung in jiddischer Sprache beim Radiosender Kol Israel mitwirkt, gibt er per Rundfunk folgende Anzeige auf: «Möchte jemand seine jiddischen Bücher loswerden? Bitte nicht wegwerfen, sondern mich anrufen, damit ich sie abholen kann.» Er mietet sich eine kleine Wohnung mit 40m2 und einen Monat später besitzt er 6'000 Bücher! Er sammelt aber nicht nur Bücher. Jedes Mal trifft er die früheren Besitzer, hört ihnen zu und nimmt die Geschichte ihres Lebens auf. Dieses Unterfangen war abenteuerlich, aber auch bereichernd und berührend. Man muss sich klar machen, dass es vor zehn Jahren sehr ungewöhnlich war, eine jiddische Organisation zu gründen, deren einziges Ziel die Wiedereinführung einer bewusst boykottierten Sprache war. Doch Mendy Cahan war fest entschlossen und mietet mit der Zeit ein Garage, die er in eine jiddische Bibliothek verwandelt, wo er letztendlich ungefähr 14'000 Werke zusammen trägt und die er den Studenten und Forschern zur Verfügung stellt. Gleichzeitig veranstaltet «Yung Yidish» kulturelle Aktivitäten, jiddische Filmfestivals, Lesezirkel, Aufführungen, Gesangsstunden, Kabarettabende mit Wodka und Hering usw. Zehn Jahre nach seiner Gründung ist es «YungYidish» gelungen, in Israel die im Allgemeinen negative Einstellung und die Vorurteile gegenüber der jiddischen Sprache zu ändern. Diese gemeinnützige Organisation ohne staatliche Unterstützung ist immer bedeutender geworden, und heute besitzt sie 40'000 Bücher und hat ihr Angebot erweitert. Auf diese Weise möchte sie die jiddische Kultur und Sprache weiterhin fördern. Mendy Cahan selbst verbringt vier bis fünf Monate pro Jahr in Wilna, um dort mit dem neuen Jiddisch-Zentrum zusammen zu arbeiten, aber vor allem um das Sommerprogramm vorzubereiten. Doch lassen wir Mendy Cahan selbst erklären, aufgrund welcher inneren Motivation er sich entschlossen hat, sich diese schweren Aufgabe mit Leib und Seele zu widmen. Am Ende unseres Gesprächs sagte er nämlich: «Solange es Juden gibt, die noch auf Jiddisch reden, denken, träumen und diskutieren, ist unser Unterfangen sinnvoll und wir investieren unsere Energie zu Recht. Doch auch über diese letztendlich etwas sentimentalen Überlegung hinaus denke ich, dass ein Institut wie dasjenige in Wilna einem akademischen Bedürfnis entspricht, vor allem weil wir in einer Zeit leben, in der in einigen Universitäten die Tendenz zu einer Verfremdung der jiddischen Sprache oder zu ihrer Anpassung an alle möglichen Forderungen der Postmoderne zu beobachten ist, was meiner Ansicht nach völlig unsinnig ist. Unser Institut stellt einen Fixpunkt für all jene dar, die jüdische Geschichte studieren oder sich mit den jüdischen Fächern im Allgemeinen auseinandersetzen. Man kann natürlich auch in Paris, London oder New York Jiddisch studieren, doch es ist etwas ganz anderes, es vor Ort in den Dörfern zu lernen, wo jüdische Gemeinschaften während Jahrhunderten auf Jiddisch kommuniziert, gefühlt, gelebt, gehandelt und gedacht haben. Neben dem rein akademischen Aspekt bietet unser Institut auch eine Bereicherung auf menschlicher Ebene, indem es Volksmusikkonzerte, Abende mit jiddischen Liedern, Lesungen mit jiddischer Poesie und Vorführungen von jiddischen Filmen organisiert. Durch die Aufführung eines jiddischen Theaterstücks geben wir auch den Ärmsten unter uns von Zeit zu Zeit die Möglichkeit, ihre Sorgen und ihren Alltag zu vergessen. Haben uns nicht schon die Talmudlehrer das wunderbare Konzept beigebracht: Keine Torah, kein Mehl – kein Mehl, keine Torah
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