Ein lebendiges Zeugnis | |
Von Roland S. Süssmann | |
In der Regel ist ein Museum nicht eine Zusammenstellung von toten, nicht mehr gebrauchten Gegenständen, die nur die Neugier der Besucher befriedigen sollen, sondern eine lebendige Institution, die eine Botschaft zu vermitteln hat. Das Jüdische Staatsmuseum von Litauen berichtet nicht nur von einigen, mit grossem Ernst und Würde vermittelten Wahrheiten, sondern verkörpert auch eine bewusste Erinnerung, die sich einerseits einer glorreichen Vergangenheit, andererseits auch der Zukunft zuwendet. Neben seinem reichhaltigen pädagogischen Auftrag in Bezug auf das vergangene jüdische Leben in Litauen und die Schrecken der Schoah und des sowjetischen Regimes weist das jüdische Museum von Wilna auch eine eigene Geschichte auf, denn im Verlauf von 75 Jahren wurde es drei Mal geschlossen und wieder eröffnet. Das erste Museum wurde 1913 gegründet, als eine Gruppe von Intellektuellen unter der Leitung von Dr. J. Wygodsky, A. Virshubsky, L. Frenkel und A. Nyshul parallel zum Museum die Gesellschaft der Liebhaber jüdischer Antiquitäten ins Leben rief. Der grösste Teil der Sammlung wurde während des Ersten Weltkriegs zerstört. 1919 erweckte der berühmte Ethnograph, Wissenschaftler und Verfasser des Dybbuk, S. An-ski (mit richtigem Namen Salomon Rapoport, 1863-1920), die nicht mehr existierende Gesellschaft zu neuem Leben und eröffnete das Museum wieder. Unter den damals ausgestellten Gegenständen befanden sich auch die Originaltexte der «drei Vorrechte», welche die polnischen Könige den Juden verliehen hatten, sowie mehrere Jahrhunderte alte Torah-Rollen, die Bücher des berühmten Gaon von Wilna und des Rabbi von Berditschew, äusserst seltene Werke aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Silbermünzen aus der Zeit von Bar Kochba oder der Hasmonäer, Gegenstände aus Kupfer und Elfenbein und auch Briefe und Manuskripte von hoch angesehenen jüdischen Autoren und Persönlichkeiten, darunter von Meir Dick (1814-1894), Mendele Moscher Sforim (1835-1917), Scholom Aleïchem (1859-1916), Chaim Nachman Bialik (1873-1934), Theodor Herzl (1860-1904) und vom bekannten Historiker Simon Dubnow (1860-1941). Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatte das Museum über 6'000 Bücher und 3'000 Kunstwerke erworben, zu denen auch Gemälde und Skulpturen gehörten. Der aussergewöhnliche Bestand dieses ersten Museums wurde während des Zweiten Weltkriegs vollständig vernichtet. Merkwürdigerweise wurde 1944 nach der Befreiung durch die Sowjets ein neues jüdisches Museum in Wilna eröffnet, zum Direktor wurde der Schriftsteller und Partisan Schmerl Kaczerginski ernannt. Bei der Erfüllung seiner Aufgabe stand ihm ein Komitee von Überlebenden zur Seite, unter ihnen auch der berühmte Dichter Abraham Sutzkever und der Partisan Abba Kovner. Sie begannen nach Gegenständen zu suchen, die den Krieg vielleicht überlebt hatten, und fanden in Kellern, Dachböden und Verstecken beschädigte Gemälde und Briefe von Autoren wie Itzig Leib Perezt (1852-1915) oder Abraham Mapu (1808-1867). Davon wurden jedoch 30 Tonnen wertvolles Papier, Bücher, Handschriften und Dokumente in die Papierfabriken geschickt, um dort wiederverwertet zu werden. Die Verantwortlichen des Museums beschlossen daraufhin, so viel wie möglich von ihrem kostbaren und unglücklichen Schatz in den Räumen des ehemaligen jüdischen Gefängnisses zu verbergen, dessen Wände von Inschriften bedeckt waren: «Morgen bringen sie uns nach Paneriai – rächt uns» oder «Gedenkt unserer Leiden und der Art, wie sie uns umgebracht haben». In der früheren Ghetto-Bibliothek stiessen sie auf Stapel von Dokumenten, auf beschädigte Objekte, die noch aus dem ersten Museum von An-ski stammten, auf die Archive der verschiedenen jüdischen Gesellschaften und Organisationen, auf Chanukkah-Lampen usw., die auf dem feuchten Boden herumlagen. Leizer Ran, einer der Verantwortlichen des Museums, fand folgende Worte für ihre Entdeckung: «Ein Haufen Papier voller Schrecken und Leid». Doch dieses neue Museum bestand nur sehr kurze Zeit. Im Rahmen ihrer Kampagne gegen den Kosmopolitismus und den Zionismus wurde es am 10. Juni 1949 von den sowjetischen Behörden offiziell geschlossen, die Sammlung wurde auf andere Museen und Archive in Litauen verteilt. Am Ende der 1980er Jahre entstand in Litauen eine starke nationalistische Bewegung. Vierzig Jahre nach der Schliessung des zweiten Jüdischen Museums genehmigten die sowjetischen Behörden in Litauen die Eröffnung des dritten Jüdischen Museums in Wilna, diesmal unter der Ägide des Erziehungsministeriums. Die Initiative dazu ging von einer Gruppe von Intellektuellen aus, die der Litauischen Stiftung für Kultur als Mitglieder angehörten; besonders hervorgetan hat sich dabei ein junger Akademiker und zukünftiger Parlamentarier namens Emmanuel Zingeris, der damals Präsident der Gesellschaft für jüdische Kultur war. Er hatte im Juni 1988 in Kaunas und im September 1988 in Wilna eine Ausstellung mit jüdischer Kunst und jüdischen Gegenständen aus Litauen organisiert. Zingeris wurde zum ersten Direktor des neuen Jüdischen Museums ernannt, das zum dem Zeitpunkt noch keine Sammlung besass. Er begann Kultgegenstände zu kaufen und mit den Staatsarchiven zusammenzuarbeiten, wo umfangreiche jüdische Dokumentation vorhanden ist. Dies erwies sich als umso interessanter, als diese Archive unter dem sowjetischen Regime überhaupt nicht zugänglich gewesen waren. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens erlebt das Museum einen neuen Aufschwung. Das neue Museum ist so konzipiert, dass es auch befristete Ausstellungen zeigen kann, und besteht aus zwei Teilen: der eine ist der Schoah, dem Widerstandskampf und der Vernichtung gewidmet, der andere dem jüdischen Leben in Litauen im Allgemeinen und in Wilna im Besonderen. Ab nächstem Herbst werden beide Museen an einem einzigen Ort zusammengeführt, doch gegenwärtig befinden sich die Ausstellungen noch an zwei separaten Standorten, diejenige über die Schoah, «The Jewish State Museum of Lithuania», wird in einem kleinen, grünen Holzhaus an der Pamenkalino-Strasse 12 beherbergt, das eigentliche jüdische Museum ist in den Räumlichkeiten des Gemeinschaftszentrums an der Pylimo-Strasse 4 untergebracht. SCHOAH UND WIDERSTAND Verfügt der Besucher nur über wenig Zeit und muss er sich zwischen beiden Museen entscheiden, sollte er unbedingt die Ausstellung zur Schoah aufsuchen. Die Verantwortlichen des Museums, insbesondere seine Kuratorin und wissenschaftliche Direktorin Rachel Kostanian, beschränken sich nicht auf kalte und objektive historische Berichterstattung, sondern betreiben jeden Tag aufs Neue aktive Erinnerungsarbeit. Das Konzept des Museums ist darauf ausgerichtet, die Wahrheit als etwas zu präsentieren, das die Opfer und Überlebenden tatsächlich erlebt und empfunden haben. Bevor wir aber mit dem Besuch dieser wirklich aktiven und lebendigen Gedenkstätte beginnen, muss daran erinnert werden, dass die baltischen Staaten 1939 infolge des Ribbentrop-Molotow-Paktes von den Sowjets besetzt wurden und dass zwischen dem 14. und dem 18. Juni 1941 30'000 Menschen, unter ihnen 7'000 Juden, in die stalinistischen Lager deportiert wurden! Das sowjetische Regime galt im Vergleich zum Nationalsozialismus als das «kleinere Übel», denn einige Juden konnten in den staatlichen Institutionen arbeiten. Dieser Umstand wurde von der deutschen Propaganda mit Hilfe des folgenden Slogans angeprangert: «Alle Juden sind Kommunisten.» Dies war Wasser auf den Mühlen der litauischen Antisemiten, die sich jeden Vorwand zunutze machten, um den Juden zu schaden, und sofort in gewaltsamer Weise gegen die jüdische Bevölkerung vorgingen. Im ersten Saal des Museums hängt eine grosse Karte von Litauen; sie ist mit gelben Sternen übersät und zeigt damit die Orte an, an denen die Juden vor der Schoah lebten. Es gab damals etwa zweihundert blühende Gemeinschaften im Land, mit insgesamt 240'000 Seelen. Gegenüber befindet sich eine andere Karte von Litauen, die jedoch mit zahlreichen schwarzen Sternen versehen ist, welche die Massengräber bezeichnen, in denen die ermordeten Juden liegen. Bis heute wurden über zweihundert solcher Stätten identifiziert. Erinnern wir daran, dass in Litauen der grösste Anteil von Juden ermordet wurde, nämlich ca. 96%. In der Ausstellung sind eine Reihe von Fotos der Pogrome in den jüdischen Vierteln, den «Stetl», zu sehen, in denen die jüdische Bevölkerung vor dem Einmarsch der Deutschen systematisch abgeschlachtet wurde. Diese Pogrome waren das Werk lokaler Verbrecher, die später als Hilfskräfte oder Polizisten in die deutsche Armee integriert wurden. So erfolgte der erste antisemitische Aufstand und gleichzeitig die systematische Ermordung von Juden am 25. Juni 1941 in Kaunas, und zwar im jüdischen Vorort Slabotka, wo 1'500 Personen von einer Gruppe von Stadtbewohnern brutal umgebracht wurden. Diese plünderten danach jedes einzelne Haus. In einem der Museumsräume ist die Aufnahme einer Wandinschrift zu sehen, die mit Blut von einem Klempner namens Puchert verfasst wurde. Sie lautet: «yddn – nekomme» (Juden – rächt). Ein anderes Foto zeigt aufeinander getürmte Leichen von Menschen, die am 27. Juni 1941 getötet wurden; ungefähr 60 Juden waren in die Garage Lietùkis in Kaunas gebracht und auf schrecklichste Weise mit Schlagstöcken, Brechstangen und Gewehrkolben erschlagen worden, einige von ihnen wurden sogar solange mit Wasser gefüllt, bis sie platzten. Die meisten litauischen Juden sind im Jahr 1941 umgebracht worden, und die Morde erfolgten mit einer unheimlichen Häufigkeit. Im ersten Saal des Museums befindet sich eine Kopie des Berichts von Karl Jäger, der als Chef der Sicherheitspolizei in Kaunas fungierte; dort heisst es: «Das Einsatzkommando 3 (eine Spezialeinheit der Nazis, die speziell unerwünschte Elemente töten sollte) hat im Verlauf der vergangenen fünf Monate 137'346 Personen liquidiert, darunter 130'000 Juden.» Die Exekutionen werden in allen Einzelheiten beschrieben, mit der Anzahl Männer, Frauen und Kinder, dem Datum und dem Ort. Zwischen Juni und September 1941 wurden 7 bis 8'000 Juden in Kaunas, 9'600 in Wilna, 3'500 in Siauliai getötet, in anderen Provinzen wurden sämtliche jüdischen Einwohner der Dörfer ermordet, d.h. 8'700 Menschen in Panevzys, 3'700 in Rokiskis, 5'300 in Marijampolè usw. usf. Jäger beendet seine makabre Buchhaltung mit den Worten: «Litauen ist judenfrei, unglücklicherweise leben aber einige arbeitende Juden, Arbeitsjuden, immer noch.» Der folgende Saal zeugt von den grausamen Einschränkungen, unter denen die Juden zu leiden hatten. Ihnen wurden sämtliche Rechte als Bürger abgesprochen. Sie wurden entlassen, sie durften öffentliche Orte nicht mehr aufsuchen und waren gezwungen zu Hause zu bleiben; es war ihnen untersagt jede Form von Transportmitteln zu verwenden und sie mussten alle ihre Wertgegenstände abgeben und den gelben Stern tragen. Ausserdem waren sie nicht mehr berechtigt das Trottoir zu benützen, mussten im Gänsemarsch gehen und durften Christen nicht mehr grüssen oder mit ihnen Geschäfte abschliessen. Ihre Einkäufe hatten sie nur noch am Ende des Tages zu erledigen, wenn die Regale fast leer waren. Ab 1942 war es jüdischen Frauen unter Androhung der Todesstrafe untersagt, ein Kind zur Welt zu bringen. Das Schrecklichste aber waren die organisierten Entführungen von Männern und jungen Leuten. Sie wurden systematisch von den Nazis und ihren litauischen Gefolgsleuten gekidnappt, um dadurch eventuelle Widerstandskämpfer oder Intellektuelle zu vernichten. Sie brachten sie an unbekannte Orte, keiner konnte ihnen entkommen. So wurden Tausende von Männern ermordet, bevor das Ghetto überhaupt entstand. Von Saal zu Saal werden dem Besucher die Grauen vor Augen geführt, und die aktive und freiwillige Zusammenarbeit zwischen der litauischen Bevölkerung und den Deutschen wird mit vielen Details gezeigt: Pläne der Ghettos, Anzahl der ermordeten Menschen, Deportation in Arbeitslager nach Lettland und Estland, die Vernichtung in den Lagern und die Ermordung von Kindern, Dokumente, Briefe mit der Beschreibung der grausigen Taten usw. Die Juden wussten, was sie erwartete, dies beweist dieser auf Jiddisch geschriebene Brief von Leah Teiz, die damals die berühmte Jeschiwah von Telz besuchte: «Heute, am 30. Dezember, werden sie mich und meine beiden Kinder umbringen. Auf diese Weise haben sie das gesamte Judentum Litauens vernichtet: rächt unser unschuldig vergossenes Blut.» Obwohl die wichtigste Aufgabe des Museums darin besteht dafür zu sorgen, dass die Opfer und ihre unbeschreibliche Qual nie in Vergessenheit geraten, was im Hinblick auf die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Litauen bei weitem nicht garantiert ist, soll es auch an das Ausmass des jüdischen Heldenmuts erinnern sowie an den ganzen Umfang des Widerstands, der nicht nur in paramilitärischer Form durch die Aktionen der Partisanen existierte, sondern auch auf geistiger Ebene. Die Nazis haben die jüdische Kultur mit ebenso kalter Berechnung vernichtet, wie sie die Juden ermordeten. Sie hatten Zweigstellen des berühmten Hauptquartiers Alfred Rosenberg organisiert – er war einer der grossen Ideologen des Rassismus, ein überzeugter Antisemit und Minister der besetzten Ostgebiete. Zwanzig jüdische Intellektuelle wurden eingezogen, um die schönsten Gegenstände des YIVO (Yidisch Visenschaftlicher Institut), seltene Bücher, wertvolle Manuskripte und Kultgegenstände zu bestimmen, die nach Deutschland geschafft werden sollten. Ein Teil der Sammlung wurde später in Frankfurt aufgefunden. Diese Männer riskierten ihr Leben, um die kostbarsten Werke zu retten, und bewiesen eine unglaubliche Phantasie, um Verstecke zu schaffen, die sie «Malina» nannten und die sich im Keller, auf dem Dachboden, unter dem Gebäude usw. befanden. Leider waren ihre Anstrengungen letztendlich vergebens, denn das Gebäude des YIVO und dasjenige der berühmten Strashun-Bibliothek wurden bombardiert und verbrannten im letzten Kampf um die Befreiung von Wilna. Darüber hinaus wurden auch in Kaunas, wo eine Gruppe von jüdischen Intellektuellen von den Nazis gezwungen wurden die gestohlenen Kultgegenstände zu sortieren, sämtliche Erinnerungen an das jüdische Leben schliesslich ein Raub der Flammen. Auch ein weiterer Aspekt des spirituellen und geistigen Widerstands der Juden im Ghetto wird deutlich gezeigt. Im Ghetto war nämlich eine Art geheimer jüdischer Universität mit ca. 2'500 Studenten organisiert worden. Die Bibliothek «Meficei Haskalah» hingegen, die vom berühmten Historiker Herman Kruk geleitet wurde (dessen bekanntes Tagebuch einen Einblick in das Leben, die Ereignisse und die tatsächlichen Begebenheiten im Ghetto gewährte), verzeichnete hunderttausend Bewegungen in Bezug auf den Bücherverleih. Der Besuch führt uns anschliessend in den vierten Saal, der den Partisanen und anderen Freiheitskämpfern gewidmet ist. Hier erweist sich, wie falsch die Annahme ist, dass «die Juden sich wie Tiere abschlachten liessen, die man zum Metzger bringt», und erinnert daran, was der jüdische Widerstand, leider oft ohne Erfolg, unternahm; er wollte eine Revolte anzetteln und führte so viele Sabotageakte wie möglich durch. Die Erinnerung an die Helden aller Widerstandsversuche lebt weiter und ihr Andenken wird geehrt. Die Ausstellung endet mit einer Gruppe von grossen Kinderfotos, die für die Opfer aus dem Ghetto, aus den Konzentrationslagern und Gaskammern stehen. Diese Kinder symbolisieren aber in erster Linie die ermordete Zukunft des litauischen Judentums, die so lebendig und vielversprechend aussah. Ein kurzer Blick auf das Buch, in das sich die Besucher beim Ausgang eintragen, lässt erkennen, dass dieselben knappen und eindrücklichen Worte auf fast jeder Seite stehen: «Nie wieder!» Gegenwärtig wird das Museum von ungefähr 5'000 Interessierten pro Jahr besucht, darunter auch von einigen Schülern aus fünf oder sechs litauischen Schulen. Regelmässig kommen auch israelische Schulen. JÜDISCHES LEBEN UND ERINNERUNG «The Vilna Gaon Jewish State Museum» an der Pylimo-Strasse 4 besteht aus mehreren kleinen Galerien, von denen die erste den Gerechten unter der Nationen gewidmet ist, sowie den Litauern, die sich zur Rettung und Unterstützung von Juden bereit erklärten, indem sie entweder ihr Leben und dasjenige ihrer Kinder riskierten, oder verhaftet und oft auch gefoltert und ermordet wurden. Es wurde eine Liste mit 2'300 «Judenrettern» erstellt, darunter befanden sich Männer und Frauen aus allen Bevölkerungsschichten und allen Berufsgruppen: Schriftsteller, Förster, Nonnen, Priester, Biologen, Kartographen, Architekten usw. Neben den Namen in dieser Kartothek besitzt das Museum auch eine umfassende Datenbank für Nachforschungen, die regelmässig mit neuen Namen oder neuen Fakten aktualisiert wird. 120 Porträts dieser Gerechten werden in der Ausstellung gezeigt und es ist geplant, 500 weiter davon im neuen Museum auszustellen; der Zugang wird über Computer erfolgen, so dass der Besucher sich sehr ausführlich über das Thema informieren kann. Die zweite Galerie dient der Erinnerung an die Grosse Synagoge von Wilna. Gemäss der amerikanischen Historikerin Lucy Dawidowivicz lassen bestimmte Hinweise die Vermutung zu, dass die erste Synagoge von Wilna bereits im Jahre 1440 entstand. Sicher ist, dass die Grosse Synagoge 1576 erbaut wurde und neben einem rituellen Bad und einem koscheren Schlachthaus lag. Das Strässchen, an dem sich dieses herrliche Gebäude befand, hiess «yiddische gass» und trägt auch heute noch den Namen Zydu gassya (Judengasse). Im Verlauf der Jahrhunderte wurde die Synagoge infolge der aufeinanderfolgenden Invasionen durch die Schweden, Preussen, Kosaken und Moskoviten mehrmals ein Raub der Flammen, wurde jedoch jedes Mal wieder aufgebaut, bis sie nach dem Zweiten Weltkrieg von den Sowjets endgültig zerstört wurde. Interessanterweise lag das Erdgeschoss der Synagoge, da ab dem 17. Jh. kein Gebäude höher sein durfte als die Kirche, einige Meter unter dem Niveau der Strasse. Würde man heute den Kindergarten abreissen, der sich am ehemaligen Standort der Synagoge befindet, und ein wenig graben, könnte der unversehrte Boden des grossen Gebetssaals freigelegt werden. Es ist eine spannende Tatsache, dass der Hof der Synagoge zum Zentrum des jüdischen Lebens geworden war, sowohl auf religiöser, als auch auf kultureller und gar administrativer Ebene. In diesem Saal des Museums sind eine Reihe von Gegenständen zu sehen, die zum grössten Teil restauriert wurden und die Zerstörung der Synagoge auf wundersame Weise überlebt haben. Im selben Saal sind auch traditionelle jüdische Kultgegenstände ausgestellt, darunter ein Sefer Torah aus dem Jahr 1908, der auf dem Holz mit dem Hinweis versehen wurde, dass er den Mitglieder der jüdischen Zunft der Schuhfabrikanten der Stadt Panevezys gehörte. Zahlreiche Fotos erinnern an die versunkene Pracht dieses wunderbaren Gebetsortes. Im zweiten Saal wird ein recht eigenartiges Ausstellungsobjekt gezeigt, das in kaum einem jüdischen Museum rund um den Erdball zu sehen ist. Es ist ein «Purimspiel». Diese Tradition des Marionettentheaters zur Erinnerung an die Geschichte der Königin Esther, des Königs Ahasverus und der Rettung der Juden in seinem Reich ist typisch für die baltischen Länder. Die Puppen wurden dem Museum von Wilna 1991 vom Staatsmuseum Ciurlionis von Kaunas geschenkt. Man hatte entdeckt, dass es sich um ein «Purimspiel» handelt, weil es unter allen Puppen nur eine einzige Frau gibt, die zudem königliche Kleider trägt. Die folgenden Galerien erinnern an das vielfältige Leben der Juden in Litauen, sowohl auf intellektueller als auch auf künstlerischer Ebene. Eine besonderer Saal ist ebenfalls den jüdischen Freiheitskämpfern, den Widerstandskämpfern und denjenigen gewidmet, die sich für die Erlangung der Unabhängigkeit Litauens in den Jahren 1918-20 einsetzten. Zur Kollektion des Museums gehören auch Gegenstände aus dem ehemaligen Jüdischen Museum von Kaunas und aus den ersten jüdischen Museen von Wilna. Die Verantwortung dafür liegt bei Rosa Bieliauskiené, der Kuratorin, die auch für die Dokumente, Bücher, Briefe, schriftlichen Anmerkungen, in den Ruinen des Ghettos entdeckten Tagebücher, Magazine und anderes jüdisches Material zuständig ist, die man in sowjetischen Archiven gefunden und nun endlich zugänglich gemacht hat. Zuletzt muss betont werden, dass eine befristete, aber äusserst reichhaltige Ausstellung zum hundertsten Geburtstag des Geigers Jascha Heifetz einen grossen Publikumserfolg verbuchen konnte. Abschliessend möchten wir noch einmal betonen, dass die Männer und Frauen, die sich mit grosser Hingabe um die Museen kümmern, sie trotz der recht beschränkten Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, nicht nur zu attraktiven und interessanten Stätten der Erinnerung machen, sondern ihnen auch etwas Bewegendes verleihen und vor allem den Besucher veranlassen, noch mehr wissen zu wollen über das jüdische Leben in Litauen und insbesondere in Wilna, seinem Jerusalem. TORAH UND WELTLICHKEIT Nichts, keine Tafel, nicht einmal ein symbolischer Hinweis bezeichnen die Stelle, wo sich die Grosse Synagoge von Wilna befand. An ihrem Standort stehen heute Holzbaracken, die einen Kindergarten beherbergen. Unweit davon kann man auf einem winzigen Platz zwischen einer etwas zweifelhaften Kneipe und Wäscheleinen die Statue des Gaon von Wilna, Rabbi Eliahu ben Schlomo Zalman, sehen, der von 1720-1797 in Wilna lebte. Sein Leben und seine Geschichte sind bekannt und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, sein umfangreiches Werk in wenigen Zeilen zusammenzufassen. Eine Reportage über Wilna wäre jedoch unvollständig, wenn sein Werk nicht wenigstens kurz erwähnt würde. Im 18. Jahrhundert wurde der Gaon von Wilna überall auf der Welt als eine der grössten Koryphäen auf dem Gebiet der Torah und des Talmud anerkannt. Er hat die Art und Weise letzteren in den Jeschiwoth zu studieren auf revolutionäre Art erneuert und hat den Talmud von Babylon kodifiziert. Sein enzyklopädisches Wissen sowohl auf weltlichem als auch auf religiösem Gebiet veränderte die traditionelle Denkweise der jüdischen Gesellschaft von Grund auf. Neben seiner sehr einfachen und direkten Art den Talmud zu erklären, hat er für praktisch den gesamten Talmud Kommentare verfasst, darüber hinaus schrieb er auch Werke über Trigonometrie, Geometrie, Algebra und eine kurze hebräische Grammatik. Er war ein Gegner der chassidischen Bewegung, deren Mystik er ablehnte. Der Reichtum seines umfassenden weltlichen und religiösen Wissens führte dazu, dass er in gewissem Sinne nicht sehr weit von der philosophischen Bewegung der Haskalah (geistige Aufklärung) entfernt war, ohne jedoch mit ihren Thesen einverstanden zu sein. Die Ironie der Geschichte will es, dass die einzige heute in Litauen lebende rabbinische Autorität ein Chassid des Lubawitscher Rebben ist, Rabbiner Meir Beer Krinsky. |