Schätze | |
Von Jennifer Breger * | |
Die Jewish Theological Seminary Library in New York ist die grösste jüdische Bibliothek der westlichen Welt, sie umfasst 370'000 Bände in der allgemeinen Sammlung. Das Jewish Theological Seminary ist das 1887 eröffnete Seminar, in dem die Lehrer des konservativen Judentums ausgebildet werden. Das erste Abschlussdiplom erwarb Dr. Joseph Herman Hertz, der später Oberrabbiner des British Empire wurde. Die Bibliothek wurde mit der Absicht geschaffen, später das Nationalmuseum des hebräischen Buches zu werden und es ist wirklich verblüffend, wie sie sich seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts durch Spenden, Erbschaften und Erwerbungen vergrössert hat. Ihr kamen auch die fachliche Kompetenz und die Hingabe der Mitarbeiter aus der Universität und der Bibliothek zugute, und sie umfasst die Sammlungen des berühmten amerikanischen Bücherliebhabers Judge Mayer Sultzburger aus Philadelphia, des bekannten englischen Reisenden, Anwalts und Büchersammlers Elkan Adler und des hervorragenden jüdischen Bibliographen Moritz Steinschneider. Die Palette der Bücher, Manuskripte und Drucke aus aller Welt und aus verschiedenen Jahrhunderten ist überwältigend. Eine Ausstellung mit dem Titel «Precious Possessions: Treasures from the Library of the Jewish Theological Seminary» (Kostbare Gegenstände: Schätze aus der Bibliothek des jüdischen theologischen Seminars) zeigt gegenwärtig 88 Objekte. Jeder, der die Bibliothek benutzt und einige ihrer Stücke mit Seltenheitswert kennt, mag nun die Auswahl der Kuratoren bemängeln, da die Sammlung unzählige Gegenstände beinhaltet, die aussergewöhnlich selten, ausgesprochen schön und von unschätzbarem geschichtlichem Wert sind. Doch diese Ausstellung und der aufgrund fundierter Recherchen und Illustrationen dazu herausgegebene Katalog stellt eine wunderbare Einführung in die Schätze der Seminarbibliothek und in die Welt des hebräischen Buches und Manuskriptes dar. Die Seminarbibliothek besitzt sehr viele Geniza Handschriften, die jahrhundertelang in der Ben-Ezra-Synagoge in Kairo gelagert wurden. Die Entdeckung dieser Stücke hat unser Verständnis der jüdischen Geschichte, insbesondere diejenige des neunten bis elften Jahrhunderts, völlig verändert, da sie unser Wissen über die jüdischen Gemeinschaften und auch Einzelschicksale sowohl erweitert als auch vertieft hat. 1896 wurde ein riesiger Fund von Geniza Material von Solomon Schechter erworben, der das meiste davon nach Cambridge brachte; als er jedoch zum zweiten Präsident des Jewish Theological Seminary ernannt wurde und nach New York zog, nahm er einen grossen Teil seiner eigenen Sammlung nach Amerika mit. Die Seminarbibliothek besitzt ca. 30'000 Geniza-Fragmente. Unter den Ausstellungsgegenständen befindet sich ein Brief, der 1170 vom Rambam persönlich unterzeichnet wurde und in dem er um finanzielle Unterstützung bittet, um Gefangene in Ägypten auszulösen. Ein weiteres Geniza-Dokument in der Ausstellung ist ein persönlicher Brief, der zu Beginn des 13. Jhs. in judeo-arabischer Sprache von einem Kaufmann, der geschäftlich unterwegs war, an seine Frau in Ägypten gerichtet wurde und in dem er ihr seine unveränderliche Liebe trotz seiner Abwesenheit beteuerte. Neben den Geniza-Objekten sind auch aufsehenerregende Manuskripte zu sehen, die aus den 11'000 hebräischen Handschriften der Bibliothekskollektion stammen. Darunter befinden sich Ketuboth aus Italien, Algerien und Afghanistan sowie ein von 1863 datiertes Werk aus New York. In dieser amerikanischen Ketubah erscheint der Text in der Form eines Diamanten gegenüber zwei Kreisen, wobei der eine die Darstellung zweier verschlungener Hände, einer männlichen und einer weiblichen, enthält und der andere eine dekorative Krone. Diese Ketubah entspricht stark dem Stil amerikanischer Volkskunst, sie weist zwei weinumrankte Säulen auf, die oben je eine Uhr tragen. Beide Uhren zeigen in römischen Ziffern 6:13 Uhr an, was entweder der Zeit der Chuppah, oder aber einer Anspielung auf die 613 Mitzvoth entspricht. Gezeigt werden ausserdem Bibeln mit aussergewöhnlicher Mikrographie und mit Ornamenten verzierte Werke der Liturgie, wie z.B. ein Miniatur-Gebetsbuch aus dem ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert in Lissabon mit zarten Federzeichnungen, blumenverzierten Rändern und ausgeschmückten Schriftblöcken, aber auch ein hinreissendes Gebetsbuch, das 1528 in Ferrara vom berühmten Geografen, Gelehrten und Schreiber der Renaissance, Abraham Farissol, verfasst wurde. Eine Handschrift aus dem Deutschland des frühen 17. Jhs. von Sefer Ewronoth, ein Buch mit Kalenderregeln, dient dazu, die Daten des jüdischen Jahres zu bestimmen. Der Band zeigt sich drehende Scheiben als runde Rechenschieber und weist auch bemerkenswerte volkskunstähnliche Dekorationen wie beispielsweise die Darstellung eines Elefanten auf. Ebenfalls ungewöhnlich ist ein Semicha-Dokument (Ordination) aus dem Jahr 1677 für einen Rabbiner aus Venedig. Das reich verzierte Dokument ist typisch für die barocken Ornamente des 17. Jhs. und umfasst, wie die Ketuboth dieser Zeit, Darstellungen von «putti» – Cherubinen - auf den Rändern. Die Seminarbibliothek enthält 20'000 seltene gedruckte Bücher, einschliesslich der weltweit grössten Sammlung von hebräischen Inkunabeln (vor 1500 gedruckt). So wie es für die Kuratoren bestimmt fast unmöglich war, sich für die Bücher zu entscheiden, die in der Ausstellung gezeigt werden, fällt es auch mir sehr schwer, mich auf die Beschreibung nur weniger Bücher dieser Ausstellung zu beschränken. Jedes Buch hat eine eigene Geschichte! Es sind auch zwei Blätter aus dem ältesten datierten hebräischen Buch zu sehen – es ist Raschis Kommentar zur Torah, das 1475 in Reggio di Calabria gedruckt wurde, aber auch ein Exemplar aus der Gruppe von acht Büchern, die zwischen 1469 und 1472 ohne Angabe des Datums in Rom gedruckt wurden - die Responsen des Raschba. Das erste illustrierte hebräische Buch, das je gedruckt wurde - Meschal Hakadmoni – eine Sammlung von Tierfabeln von Isaac Ibn Sahula, einem kastilischen Dichter und Mystiker aus dem 13. Jh., kann ebenfalls in der Ausstellung bewundert werden. Es wurde 1491 von Gerschon Soncino in Brescia mit über 80 Holzschnitten gedruckt. Wir wissen, dass der Autor selbst sein Manuskript eigenhändig mit Vignetten illustriert hat (es ist leider verloren gegangen) und in der Einleitung schrieb: «Und ich fand es angebracht, es mit Bildern zu versehen, zum besseren Verständnis und zur Lehre, um die Aufmerksamkeit der Kleinen zu wecken und um die Leidenden durch seine Schönheit zu trösten..... Und sie werden die Bücher der Täuschung, die Häretiker und die Epikureer aus ihren Herzen reissen». Viele der ausgestellten Druckerzeugnisse sind Meisterwerke der hebräischen Typographie und Perlen der hebräischen Druckkunst, wie z.B. der erste Band des Talmud-Berachot – gedruckt von der Familie Soncino, und darüber hinaus das erste Werk, das von dieser Familie herausgegeben wurde - aus Soncino im Jahr 1483, bevor die Presse in so viele andere italienische Städte und später nach Saloniki kam. Ebenfalls zu sehen ist eine wunderbare mehrsprachige Ausgabe der Psalmen, die 1516 in Genua auf Hebräisch, Griechisch, Lateinisch, Arabisch und Aramäisch mit einem lateinischen Glossar herauskam. Zum lateinischen Kommentar zu Vers vier von Psalm 19 gehört auch die erste je gedruckte Biographie von Christoph Kolumbus, der selbst aus Genua stammte, sowie eine Beschreibung seiner Entdeckung Amerikas. Anscheinend beklagte sich Kolumbus' Sohn beim Senat von Genua über Ungenauigkeiten in der Beschreibung seines Vaters, und der Senat ordnete die Vernichtung des Buches an. Die Sammlung des Seminars umfasst eine weitreichende Auswahl von Gegenständen im Zusammenhang mit der anglo-jüdischen Geschichte. Dazu gehört die ursprüngliche Streitschrift – auch sie wird ausgestellt – aus der Feder des bekannten Amsterdamer Juden und ehemaligen Marraners, Manasseh ben Israel, der sie 1656 an Lord Protector Oliver Cromwell richtete und sich darin für die erneute Ansiedlung von Juden in England stark machte. Bücher mit Reuegebeten aus der zweiten Hälfte des 17. Jhs. zeigen den Einfluss der Schabbetai-Bewegung auf die Juden überall auf der Welt. In einem der Bände ist auf einer Illustration Schabbetai Zvi als der Messias auf Salomons Thron abgebildet, eine andere Tafel zeigt ihn, wie er mit jüdischen Anführern und Gefolgsleuten Hof hält. Die Kollektion des Seminars von Streitschriften und Drucken liefert Tausende von Anknüpfungspunkten mit der jüdischen Geschichte. Eine Ausstellungsobjekt ist das Edikt betreffend die Konfiszierung und Verbrennung des Talmuds in Venedig 1553, eines der tragischsten Ereignisse in der jahrhundertealten Geschichte des jüdischen Buches. Zu sehen ist auch ein 1806 in Paris gedrucktes Blatt, das die Schaffung des Systems einer Dachorganisation für die Juden Frankreichs belegt. Die illustrierte Übersicht nennt Napoleon «den neuen Kyros» und vergleicht ihn somit mit dem Herrscher, der den Juden den Auszug aus Babylon und die Rückkehr nach Jerusalem ermöglichte, nachdem sie nach der Zerstörung des Ersten Tempels ins Exil gehen mussten. Die amerikanische Abteilung der Ausstellung enthält faszinierende Schriften, in denen die verschiedenen Meinungen zur Sklaverei zum Ausdruck kommen, die von diversen jüdischen Persönlichkeiten in der Epoche des Bürgerkriegs vertreten wurde. Die Auswahl an Ephemeriden umfasst Musikblätter, Postkarten, Neujahrskarten und illustrierte Exlibris. Unter den Exlibris befindet sich auch dasjenige von Albert Einstein, das eine winzige Figur auf einem Berggipfel zeigt, die ihre Arme zum funkelnden Kosmos hinaufstreckt, sowie dasjenige von Freud, das eine Szene mit Ödipus und einer Sphinx-Statue darstellt, zusammen mit einem Zitat aus Oedipus Rex von Sophokles. Das Exlibris von Solomon Schechter zitiert unter anderem aus dem verlorenen hebräischen Text von Ben Sira – einem Manuskript, das er selbst aus der Geniza von Kairo identifiziert hatte: «Die Weisheit eines Schriftstellers erhöht die Weisheit». Ebenso sinnig ist das Exlibris eines englischen Büchersammlers, Elkan Adler, der den Erdball auf der Suche nach seltenen Schätzen umrundete: es zeigt einen sehr britisch wirkenden Reisenden, der Handschriften untersucht, vor dem Hintergrund von Rachels Grab. Alles in allem verkörpert diese facettenreiche Auswahl und hervorragende Ausstellung eine wunderbare Einführung in die Schätze der Bibliothek des Jewish Theological Seminary in New York, sie gibt einem aber auch Anlass, die Vielfalt der jüdischen Geschichte und Kreativität im Laufe der Jahrhunderte zu schätzen und zu bewundern. *Jennifer Breger ist von Oxford und der Hebräischen Universität in Jerusalem diplomiert. Sie ist Spezialistin für jüdische Bücher und Manuskripte. Sie lebt heute in Washington. |