Das Jüdische Museum in Riga | |
Von Professor Margers Vestermanis | |
Wie sollte ein jüdisches Museum in einem Kulturraum sein, wo alles Jüdische im Holocaust vernichtet wurde, und wo nur noch auf wundersame Weise erhaltene Grabsteine an die jüdische Vergangenheit erinnern ? Sollte ein jüdisches Museum in dieser historischen Realität nur ein Sammler und Hüter von Reliquien sein, von Dingen, die vor der Zerstörung gerettet wurden? Oder sollte es ein Ort des Gedenkens an eine Welt sein, die für immer in Qualen und Leiden zugrunde ging ? Wir wählten das Letztere. Die Nazis und ihre Komplizen beschlossen in ihrem Hass, nicht nur unser Volk, sondern auch die historische Wahrheit über dieses Volk zu vernichten. Laut ihrer Absicht sollten die Juden im Gedächtnis der Welt als die Inkarnation des Bösen oder «im schlimmsten Fall» als eine namenlose statistische Menge verbleiben. Sie waren in beiden Fällen sehr erfolgreich. Doch heute stehen wir bösen Absichten weder machtlos noch unbewaffnet gegenüber. Wir sind fähig, das wirkliche Bild jüdischen Lebens in historischen Dokumenten und Bildern zu bewahren. Wir haben die Möglichkeit, ein wahres Bild des jüdischen Lebens im Alltag und an Festen, von den Hoffnungen und Taten der Menschen wiederzugeben, das weder revidiert noch glorifiziert werden muss. Die vier Jahrhunderte schwerer Geschichte der Juden in Lettland entwickelten sich auf einem unsicheren Flecken Landes an der Küste der Ostsee, der seit alten Zeiten ein Objekt imperialistischer Machtansprüche der Nachbarmächte war. Die jahrhundertelang andauernden militärischen Auseinandersetzungen der Rivalen und die ständigen Wechsel der fremden Herrscher hielten die dortigen Menschen und insbesondere die Juden in ewiger Unruhe. Ein besseres Leben versprach die Erinnerung der Unabhängigkeit Lettlands. Und tatsächlich war die Zeit der ersten Republik Lettland (1918-1940), besonders die demokratische Periode vor der Errichtung eines ethnokratisch-autoritären Regimes (1934), eine Zeit des höchsten Erblühens der jüdischen Gemeinschaft in Lettland. Aber nicht allein die Kriege charakterisieren die Geschichte dieser Region – lange wetteiferten hier zwei Strömungen, die westliche und die östliche – zwei grosse Kulturen, die deutschen und die östliche – zwei grosse Kulturen, die deutsche und die russische, welche in hohem Masse die Lebensart, die Mentalität und die sprachliche Orientierung der jüdischen Gesellschaft bestimmten. Ausserdem erstarkte auch der lettische Einfluss im 20. Jahrhundert. Es ist dennoch bezeichnend, dass ungeachtet des multilingualen Zustandes der jüdischen Bevölkerung und des mächtigen Drucks der multikulturellen Umgebung die jüdische Gemeinde eine Assimilierung vermied und nichts die Stellung der Muttersprache, «Mameloschn», des Jiddischen, erschüttern konnte. Nur im letzten Jahrzehnt vor dem zweiten Weltkrieg versuchte das Ivrit, die Sprache der jüdisch-nationalen Wiedergeburt, das Jiddische in der Bedeutung zu verdrängen. Die religiösen Gemeinden, die hier von Juden geformt wurden, die aus Deutschland und Litauen gekommen waren, gehörten historisch zu den «Mitnagdim» – Gegner jedweder Reform des Glaubens unserer Vorväter. Doch aus dem östlichen Teil Lettlands, wo die Juden in den Städten und Dörfern meist aus der Ukraine oder Weissrussland zugewandert waren, führte der Einfluss des Chassidismus Elemente der Romantik und der ungezwungenen und unzerstörbaren Lebensfreude in die rationalistische Mentalität der Juden in Kurland und Riga ein. Das lettische Judentum als Ganzes war niemals tief religiös gewesen, dennoch bezweifelten die Juden niemals die Notwendigkeit, das Wesentliche der religiösen Tradition beizubehalten – es wurde als ein integraler Bestandteil der nationalen Identität betrachtet. Kein Wunder, dass hier die Ideen der «Haskala» - die säkulare jüdische Aufklärung - sich früher und einfacher ausbreiten als an jedem anderen Ort in der osteuropäischen Diaspora. Nicht weniger bunt als das Kaleidoskop der kulturellen Einflüsse war das Spektrum der politischen Überzeugungen. Am Ende des 19. Jahrhunderts und besonders während der Revolution von 1905 war der Enthusiasmus für sozialistische Parolen unter jüdischen Handwerkern und Studenten weit verbreitet. Der sozialdemokratische «Bund» war zu dieser Zeit die populärste jüdische Organisation. Aber neben dem «Bund» entstanden und entwickelten sich die zionistische Bewegung und in den Jahren der ersten Republik Lettland liess der Zionismus alle anderen politischen Richtungen weit hinter sich. Dieser Umstand hinderte die Zionisten nicht daran, sich in Linksgerichtete, Religiöse und Rechtsgerichtete oder sogenannte «Revisionisten» zu entzweien. Die politisch-militärische Organisation der Rechten «Brit-Trumpeldor», die später in der ganzen Welt verbreitet war, entstand und machte ihre ersten Schritte gerade hier in Riga. Zionisten aus Lettland spielten später eine wichtige Rolle bei der Wiedergeburt Palästinas und der Entstehung des Staates Israel. Aus Lettland, das gegenüber allen geistigen Inhalten vielsprachiger Kulturen und Ideen offen stand, kamen berühmte jüdische Philosophen des 20. Jahrhunderts hervor: Jeschajahu Leibowitz und Isaiah Berlin. Der religiöse Denker Abraham Kook wuchs in diesen geistigen Traditionen auf. Später wurde er der erste Oberrabbiner von Palästina und spielte eine unschätzbare Rolle bei der Aussöhnung der Ideen des politischen Zionismus mit den Postulaten des orthodoxen Judaismus. Hier sind auch die geistigen Wurzeln einer ganzen Reihe von prominenten jüdischen kreativen Persönlichkeiten: die Fachleute für Jiddisch, Vater und Sohn Weinreich, der Bildhauer Naum Aronsohn, der Bariton Joseph Schwarz und viele, viele andere, die ihren Teil in der Kultur der Welt hinterliessen. Das Museum kann keine Bücher ersetzen, da es unmöglich ist, alles durch Exponate zu erzählen. Die Stärke des Museums liegt in der unwiderlegbaren Authenzität der historischen Originale, welche die gezeigte Epoche ohne Tendenziösität und Ausschmückungen reflektiert. Genau so möchten wir unsere Geschichte jedem zeigen, der die Wahrheit über uns, unsere Vergangenheit und unsere Tragödie erfahren will. Dann wird der Wunsch, mit dem Juden seit undenklichen Zeiten ihre Verstorbenen verabschieden «Lass seine Seele mit dem Bund der Lebenden verbunden sein», wirklich wahr werden. |