Riga – Gestern – Heute – Morgen
Von Roland S. Süssmann
Das jüdische Leben in Riga, wie es vor und während des Zweiten Weltkriegs und später unter dem Kommunismus bestand, ist heute Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten. Wir haben beschlossen, uns an einen Augenzeugen zu wenden, der diese Zeit gekannt und erlebt hat und bereit war, uns neben seinen persönlichen Erinnerungen auch eine Analyse der Situation der jüdischen Gemeinschaft Lettlands im Jahr 2000 zu geben. Aus diesem Grund haben wir Professor HERMAN BRANOVER getroffen, eine weltweite Kapazität auf dem Gebiet der magnetohydrodynamischen Physik; er besitzt einen Lehrstuhl für dieses Fach und ein Forschungslabor an der Universität Ben Gurion von Beer Schewa.

Könnten Sie für uns zusammenfassen, welche Bedeutung die jüdische Gemeinschaft von Riga vor dem Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach besass?

In der Zwischenkriegszeit war Lettland eine Art Notausgang für Tausende von Juden, denen es gelungen war, aus der UdSSR und dem sowjetischen Regime zu fliehen. Ab 1918 wurde ein Kommissariat für jüdische Angelegenheiten eingerichtet, das von Schimon Dimanstein geleitet wurde, einem ehemaligen Schüler der Yeschiwa Lubawitsch, der sogar zum Rabbiner geweiht worden war. Er gründete in allen Städten der UdSSR die Yevsektsia, eine «Jüdische Sektion», die sich aus Bundisten, ehemaligen Sozialisten (Faraynikte) und Mitgliedern des Poaleï Zion zusammensetzte. Er wollte damit die Juden auf die heimtückischste Art bekämpfen. Mit der Hilfe der lokalen Polizei nahmen die Yevsekisten die systematische Vernichtung sämtlicher religiöser Institutionen in Angriff. Die jüdische Sektion, die fast zehn Jahre lang tätig war, setzte sich aus Juden zusammen, die fliessend Jiddisch sprachen, ein ausführliches Wissen des Judentums besassen und sich in der Funktionsweise der jüdischen Gesellschaft bestens auskannten. Ihre Aufgabe bestand darin, nach und nach alle Rabbiner und jüdischen Lehrer umzubringen und die Jeschiwoth zu zerstören. 1929, nach Beendigung ihrer schändlichen Aufgabe, liess Stalin sie einer nach dem anderen umbringen, da er alle Spuren verwischen wollte. Diese Massaker wurden durchgeführt, obwohl alle führenden Politiker der russischen Revolution, mit Ausnahme von Lenin, der väterlicherseits einen jüdischen Grossvater hatte, Juden waren: Trotzky, der grosse Architekt der Roten Armee, Zinowiew, Kamenetzky, Uritzky, der Gründer der Tscheka und des späteren KGBs und Erfinder aller entsetzlichen Foltermethoden, die später von der Gestapo «à l’allemande» vervollkommnet wurden usw. Es ist eine lange Liste. 1921 unterschrieb Stalin, damals Kommissar der Nationalitäten, ein Dekret, das besagte, dass das gesamte Guthaben der jüdischen Gemeinden verstaatlicht werden musste. Dies war der Anfang vom Ende für jede Form des jüdischen Gemeindelebens in der UdSSR. Ich erlitt einen der grössten Schocks meines Lebens, als ich Zeuge des «Umzugs» der jüdischen Bibliothek der Universität Leningrad auf Dutzenden von Lastwagen wurde; sie hatte aus einer Million heiliger Bücher bestanden, die alle verbrannt wurden. Später, als ich mich zum Judentum und zur Frömmigkeit zurückzufinden begann, kehrte ich in diese Bibliothek zurück, in der ich eine einzige Bibel vorfand… eine Bibel! Seit dem Anbruch der 20er Jahre wollten viele Juden die Sowjetunion verlassen, doch ihre einzige Fluchtmöglichkeit waren die baltischen Staaten, insbesondere Lettland, wo Rabbiner Mordechaï Dubin lebte und wirkte.

Wer war dieser Mann und was hat er getan?

Mordechaï Dubin war einer der bedeutendsten jüdischen Persönlichkeiten, die je in Lettland gelebt haben. Er war Abgeordneter im Parlament, Präsident der orthodoxen Partei Agudath Israel und besass ein grosses privates Vermögen. Später wurde er zum Freund und Geschäftspartner von Präsident Ulmanis, wodurch er in eine einmalige Situation kam, um den russischen Juden zu helfen. Jeder Jude, der in den baltischen Staaten mit Problemen zu kämpfen hatte, wandte sich an Dubin und erhielt die Unterstützung, die er brauchte. Den russischen Juden half er in finanzieller Hinsicht und beschaffte ihnen Niederlassungsbewilligungen für Lettland. Es ist nicht bekannt, wie vielen Menschen er auf diese Weise genau geholfen hat, es besteht jedoch kein Zweifel, dass über hunderttausend Juden so gerettet wurden. Er war fast zwanzig Jahre lang tätig, und gemäss einigen Berichten soll er über eine halbe Million Menschen unterstützt haben. Sobald die Situation in Lettland gefährlicher wurde, organisierte Mordechai Dubin die Flucht in die Vereinigten Staaten und nach Palästina. Es gelang ihm auch, im Kreml einen gewissen Einfluss zu erlangen, denn er war in der Lage, geschäftliche Abkommen zu Gunsten der UdSSR abzuschliessen, die damals völlig isoliert war. Er starb 1956 in sowjetischer Gefangenschaft, nachdem er zu Unrecht in eine psychiatrische Heilanstalt interniert worden war.
Interessant ist ebenfalls die Tatsache, dass der Lubawitscher Rebbe, Rabbiner Yoseph Itzchak Schneerson, der in Leningrad im Gefängnis sass, ab 1927, hauptsächlich dank dem Eingreifen von Mordechaï Dubin, der das lettische Parlament in landwirtschaftlichen Verhandlungen mit der UdSSR – in dieser Angelegenheit in der Position des Bittstellers - vertrat, befreit wurde und sich mit seiner Familie in Riga niederlassen durfte, von wo er seine Tätigkeit aufnahm.

Riga war demnach ein jüdisches Zentrum von grosser Bedeutung?

Wie auch zahlreiche andere Städte in den baltischen Staaten und Osteuropa. Es trifft aber zu, dass Riga für die jüdische Lehre ein wichtiges Zentrum darstellte. Es gab zahlreiche jüdische und hebräische Schulen, unzählige Synagogen und Bethäuser sowie Institute, welche die Menschen auf die Auswanderung nach Palästina und das Leben in den Kibbuzim vorbereiteten und in denen die grundlegenden Methoden der Landwirtschaft unterrichtet wurden. Mein verstorbener Vater, ein Agronom, hatte übrigens eine Stelle in einer dieser Schulen gefunden, die dem Hachomer Hatzaïr angehörten. Er wurde von der Roten Armee ermordet.
Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich Riga zu einem Ort, an dem die Bemühungen zur Förderung der Alyiah zusammentrafen und kanalisiert wurden. Es sollte eine breitangelegte Bewegung gegründet und in der gesamten UdSSR verbreitet werden, um die Juden zur Auswanderung nach Israel zu ermutigen. Ein derart bedeutendes Projekt konnte nur mit der Unterstützung von ausreichend motivierten und für die Sache engagierten Menschen in Angriff genommen werden, welche bereit waren, grosse Gefahren auf sich zu nehmen und auf jede Form der Sicherheit und des persönlichen Komforts zu verzichten. Diese Idee konnte nur dann verwirklicht und erfolgreich durchgeführt werden, wenn einige von uns mit dem Beispiel vorangingen. So begannen der verstorbene Samuel Zeitlin, Dr. Menachem Gordin und Mordechaï Lapid (am 6. Dezember 1993 von den Arabern in Hebron ermordet) sich mit Leib und Seele für den Kampf um die Freiheit einzusetzen. Dr. Gordin gab als erster seinen sowjetischen Pass offiziell zurück, und merkwürdigerweise versuchte man ihn zwar einzuschüchtern, ohne ihn jedoch ernsthaft zu behelligen. Die Bewegung zur Befreiung der Juden aus der UdSSR wurde also in Riga ins Leben gerufen und fasste dann sehr schnell Fuss in der gesamten Sowjetunion. Die Bewegung ist wohl von hier ausgegangen, weil das sowjetische System erst seit ca. zwanzig Jahren in Lettland existierte, während es in Russland selbst seit über vierzig Jahren wütete. Viele Menschen hatten folglich noch eine gewisse Form der jüdischen Erziehung erhalten und besassen eine tiefsitzende jüdische Identität.

Glauben Sie, dass die jüdische Gemeinschaft in Lettland eine Zukunft hat?

Die gegenwärtige Situation lässt vermuten, dass es wahrscheinlich gut um die Zukunftsaussichten steht. Die genaue Zahl der in Lettland lebenden Juden ist in Wirklichkeit unbekannt, und wie in den meisten Ländern Osteuropas steigt diese Zahl täglich an. Als ich 1990 nach achtzehn Jahren Abwesenheit erstmals wieder nach Riga zurückkam, sagte man mir, die Gemeinde zähle 27’000 Juden. Ich wusste jedoch, dass zum Zeitpunkt, da wir Lettland verlassen hatten, offiziell 30’000 Juden hier lebten, von denen 18’000 nach Israel und 7’000 in die Vereinigten Staaten oder in andere Länder ausgereist waren. Da die Geburtenrate recht tief lag, hätten es eigentlich nur noch einige Tausend sein sollen. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das in der ehemaligen UdSSR sehr verbreitet ist, wo sich regelmässig Juden zu erkennen geben; ihre Zahl ist daher bestimmt sehr viel höher, als die offiziellen Zahlen besagen. Gegenwärtig ist ausserdem keine massive Auswanderung zu verzeichnen, nur wenige einzelne Personen verlassen das Land und ziehen nach Amerika oder Deutschland. Es weist alles darauf hin, dass sich hier im Verlauf der kommenden Jahre eine recht bedeutende jüdische Gemeinschaft entwickeln wird. Die Infrastrukturen wurden bereits mehr oder weniger errichtet, um eine korrekte Organisation des jüdischen Lebens zu gewährleisten. Es trifft zu, dass nur wenige Menschen eine jüdische Erziehung erhalten, doch man muss sich bewusst sein, dass der Einfluss des Kommunismus immer noch allgegenwärtig ist. Auch die Menschen, die sich als Juden bezeichnen, sind im Grunde weit vom Judentum und jeder Form der religiösen Frömmigkeit entfernt. Es muss demnach eine sehr langwierige Arbeit der Erziehung und Annäherung in Angriff genommen werden, doch leider sind fähige und motivierte Führungspersönlichkeiten Mangelware. Die Organisation SHAMIR (siehe SHALOM Vol. VIII), die im Verlauf der achtundzwanzig vergangenen Jahre über dreihundert jüdische Buchtitel übersetzt, herausgegeben und vertrieben hat, von denen zwölf Millionen in der gesamten ehemaligen UdSSR verteilt wurden, schickt regelmässig Professoren für jüdische Geschichte und Judentum an die grosse jüdische Schule von Riga, die weltlich ist.
Abschliessend möchte ich sagen, dass es in Lettland eine ganze Reihe von Gedenkstätten gibt, die an die Verbrechen erinnern, die während der Schoah sowohl von den Deutschen als auch von ihren lettischen Komplizen gegen unser Volk verübt wurden. Kein Monument, nichts wird uns aber je über den Umfang der Katastrophe der Schoah hinwegtrösten können. Es existiert jedoch eine Form der Ehrung, die man den Ermordeten zu erweisen beginnt: es besteht aus dem «unsichtbaren Denkmal», der Alyiah sowie im Anstieg und der Belebung der spirituellen Werte und der Lebenskraft des jüdischen Lebens. Was letztlich zählt ist die Tatsache, dass die Jugend sich immer mehr betroffen fühlt, an Stärke gewinnt und sich von unserem Erbe und unseren Werten motivieren lässt... kurz, jüdischer wird.


BEGEGNUNG MIT EINEM REALISTEN
Professor JANIS STRADINS ist Präsident einer der wichtigsten wissenschaftlichen Universitäten der gesamten ehemaligen UdSSR, der «Latvijas Zinatnu Akademija» von Riga. Dieses von ihm geleitete Institut gehört zu den Organisatoren der Konferenz, die alle zwei Jahre unter dem Titel «Jews in a changing world» an der Universität der lettischen Hauptstadt stattfindet.
Im Verlauf eines kurzen Gesprächs hat Professor Stradins uns gegenüber seiner Bewunderung für den jüdischen Beitrag zur weltweiten Zivilisation und Kultur im allgemeinen und im wissenschaftlichen Bereich in Lettland im besonderen zum Ausdruck gebracht. Da er von diesem Thema zutiefst fasziniert ist, begnügt er sich nicht damit, unzählige Abhandlungen zu dieser Frage zu veröffentlichen, sondern unterrichtet auch an den beduetendsten Universitäten der ehemaligen UdSSR.
Dies waren die Worte, die Professor Janis Stradins anlässlich der Eröffnung der ersten Konferenz «Jews in a changing world» verwendete: «… Die Juden sind der Motor der Weltgeschichte. Sie haben sowohl Revolutionen ausgelöst als auch die Stabilisierung einer Lage bewirkt, angetrieben von ihrer Begeisterungsfähigkeit, ihrem umfangreichen Wissen und ihrer jahrhundertlang gereiften Intuition. Heute stellt die Welt Anforderungen, die miteinander unvereinbar erscheinen: einerseits braucht es Stabilität und Flexibilität, andererseits weltweite Vernetzung und Nationalismus. Den Juden ist es gelungen, das scheinbar Widersprüchliche zu verbinden. Sie haben es geschafft, sich selbst treu zu bleiben und sich gleichzeitig in das kulturelle, materielle und intellektuelle Leben sowie in die Kultur des Landes zu integrieren, in dem sie leben. Sie haben sich erfolgreich als Juden durchgesetzt, dank ihrer Loyalität und ihrer Treue gegenüber Torah und Talmud. Die Juden haben meinem Land, Lettland, sehr viel gegeben. Die entsprechende Liste ist lang und betrifft alle Bereiche, insbesondere Literatur, Kunst, Wissenschaften, Medizin und die Freiheitsbewegungen. Ich möchte auch meines Lehrmeisters gedenken, des berühmten Chemikers Salomon Hiller, oder auch des Vaters der theoretischen Elektrochemie, Alexandre Frumkin. Ich selbst bin nicht Jude, aber ich glaube, dass wir viel lernen können. In einer sich verändernden Welt, wie wir sie heute erleben, sollten wir die historische und zeitgenössische Erfahrung der Juden immer vor Augen haben.»