«Notke» - «Riga un Latvijas Virsrabins»
Von Roland S. Süssmann
«RIGA UN LATVIJAS VIRSRABINS»
Die beeindruckendsten Persönlichkeiten machen in der Regel keine Schlagzeilen, weder in den elektronischen Medien noch in der Presse, sie fallen vielmehr durch ihre natürliche Autorität, ihre Einfachheit, ihre spontane Herzlichkeit und die Effizienz ihrer Arbeit auf. Rabbiner NATAN BARKAN, den seine Freunde liebevoll «Notke» nennen, gehört dieser Kategorie von Menschen an; eine Begegnung mit ihm erweist sich als ein ganz besonderer Moment.
Als allgemein geachteter Oberrabbiner von Lettland, arbeitet Rav Barkan unter äusserst schweren Bedingungen, da er nur über beschränkte Mittel verfügt. Er ist Realist und kniet sich in seine Arbeit, um seiner komplexen Aufgabe gerecht zu werden. Für ihn ist ein gutes Resultat nichts anderes als eine Ermutigung, um neue Herausforderungen anzunehmen.
Rabbi Barkan ist 1923 in einem kleinen Dorf im Osten von Riga in eine Familie geboren, die eine wahre Dynastie von Rabbinern hervorgebracht hat und deren Stammbaum bis ins 14. Jhd. zurückreicht. Nach einer Laufbahn als Rabbiner und einer Reihe von Missionen in der UdSSR, die ihm vom verstorbenen Lubawitscher Rebben szl. aufgetragen worden waren, dessen Anhänger er ist, wurde er 1989 zum Grossrabbiner von Lettland ernannt und zog wieder nach Riga, nachdem er zwanzig Jahre lang in Israel gelebt hatte. Heute wirken drei seiner Enkel als Rabbiner in Russland.

Können Sie uns in wenigen Worten das spirituelle Umfeld des lettischen Judentums im Jahr 2000 beschreiben?

Damit Sie die aktuelle Lage besser verstehen können, muss ich zunächst kurz an die jüngste Geschichte meiner Gemeinschaft erinnern. Im Verlauf der letzten Jahre hat sich die Situation verändert und auf ganz besondere Art entwickelt, vor allem infolge der umfangreichen Emigration nach Israel. Vor dieser Alyiah dreht sich das gesamte jüdische Leben um die Synagoge, die spirituellen und zionistischen Bewegungen, die Sozialhilfe, ja sogar die koschere Ernährung. Heute sorgen wir zwar immer noch für die rituelle Schächtung der Hühner, doch es interessieren sich immer weniger Leute dafür. Ab dem Zeitpunkt, als eine gewisse Freiheit in Lettland Einzug hielt, haben sich zwei unterschiedliche Phänomene abgezeichnet: einerseits kam es zu einer massiven Auswanderung nach Israel, die für viele der Verwirklichung eines seit langem gehegten Traumes oder der Hoffnung auf ein besseres Leben entsprach, und andererseits war auf rein lokaler Ebene eine gewisse Vernachlässigung des jüdischen Lebens um die Synagoge herum sowie der Synagoge selbst zu beobachten. Die Menschen, die hier geblieben sind oder in grosser Zahl aus Russland hier einreisten, sind nämlich sehr viel «judentumfremder», als es die ausgewanderten Gläubigen gewesen waren. Die russische Kultur und Lebensart haben infolgedessen heute die Überhand gewonnen und beherrschen ihre Persönlichkeit und ihre Handlungsweise. Daher haben das Judentum und die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Synagoge für sie an Bedeutung verloren. Als ich 1989 hier eintraf, habe ich den ersten Sederabend für Pessach organisiert, an dem ca. 200 Personen teilnahmen. Heute kommt fast niemand mehr, mit Ausnahme einiger Greise, da viele entweder gestorben oder weggezogen sind. Nur etwa zwanzig junge Leute kommen regelmässig in die Synagoge. Ich muss jedoch betonen, dass ich zahlreiche Gelegenheitsbesucher empfange, Menschen, die plötzlich aus irgendeinem Grund eine Beziehung zum Judentum empfinden: ein jüdischer Funke, der jahrelang in ihnen schlummert, entfacht auf einmal ein Feuer, und daran erkenne ich, dass eine jüdische Seele in Wahrheit nie stirbt. Diese Besucher kommen in die Synagoge und wissen oft selbst nicht, was sie eigentlich anzieht, was ihre Schritte lenkt. Sobald sie hier sind, geben sie vor, ein Buch, ein Zitat oder gar eine Idee zu suchen. In der Zeit von Purim, Chanukkah oder Pessach klopfen viele von ihnen bei uns an, und es ist schon vorgekommen, dass ich im Verlauf von zwei oder drei Feiertagen bis zu 600 Menschen empfangen habe, von denen einige den Kontakt behalten haben, während andere erst im darauffolgenden Jahr wieder erschienen.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinde?

Als gläubiger Jude bin ich natürlich optimistisch. Wenn ich zurückblicke, stelle ich fest, dass unsere Gemeinde trotz aller Schwierigkeiten, denen wir gegenüberstanden immer noch existiert, dass sie zahlreiche Mitglieder besitzt, die sich auf die eine oder andere Art vom Judentum angesprochen fühlen und sich für ihre Herkunft und ihre Wurzeln interessieren. Wer hätte sich träumen lassen, dass die mächtige UdSSR von einem Tag auf den anderen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde? Es stimmt zwar, dass viele unserer Glaubensbrüder aufgrund des direkten Einflusses der sowjetischen Erziehung für uns verloren sind. Ich führe jedoch in Zusammenarbeit mit meinem Assistenten und Nachfolger, dem Rabbiner Aryeh Bekker, ein breitangelegtes jüdisches Erziehungsprogramm durch, das bereits an der Wiege beginnt, sich in der jüdischen Schule fortsetzt und bis auf die akademische Ebene hinaufreicht. Unser wichtigstes Anliegen ist die Verstärkung und Wahrung der jüdischen Identität unserer Mitglieder. Wir bemühen uns, ihnen ausreichend jüdischen Stolz zu vermitteln, damit sie jeglicher Form von intellektueller Aggression oder gar Versuchung widerstehen können, die sie letztendlich zur Aufgabe ihrer wahren Identität führen würde. Ich veranstalte regelmässig Gespräche mit jüdischen Intellektuellen, Universitätsprofessoren und Studenten, an denen im Licht jüdischer Grundsätze über philosophische und aktuelle Themen diskutiert wird. An diesen Debatten nehmen auch ausländische Redner oder Personen auf der Durchreise teil. Unter den Stammgästen befindet sich auch ein Herr, der mir bei jedem Treffen mitteilt: «Wissen Sie, Rabbi, ich bin ein guter Jude». Ich weiss wohl, dass seine Frau nicht Jüdin ist und dass er nicht fromm ist. Doch ich versuche ihn zu ermutigen und ihn einzubeziehen, denn eines Tages möchte er sein Leben vielleicht wieder vermehrt auf unsere Traditionen ausrichten. Für mich hat dieser Mann ein jüdisches Herz und ist tatsächlich, im Rahmen seiner Möglichkeiten, ein guter Jude. Es gibt zahlreiche ähnliche Beispiele, und aus dieser Erhaltung dieser flackernden jüdischen Flamme, die in allen meinen Gläubigen brennt, beziehe ich den grössten Teil meines Optimismus’.

In Ihrer Eigenschaft dessen, was die Letten «Riga un Latvijas Virsrabins» nennen, vertreten Sie die jüdische Gemeinschaft bei den nationalen und städtischen Behörden. Wie sind Ihre Beziehungen und was hält man von der jüdischen Gemeinschaft?

Ich pflege ausgezeichnete Beziehungen zu allen Regierungsstellen. Man lädt mich zu allen offiziellen Feiern und zu allen diplomatischen Anlässen ein. Als der Staatspräsident eine offizielle Reise nach Israel unternahm, lud er mich ein, der offiziellen Delegation anzugehören, und zu meinem 75. Geburtstag schickte er mir ein Glückwunschschreiben und ein Geschenk. Offiziell kann man die Kontakte also als herzlich beschreiben, und die Behörden erweisen uns den Respekt, den wir auch ihnen gegenüber an den Tag legen. Ihre geheimsten Gedanken kenne ich aber nicht, und ich weiss nicht, ob sie mich aufgrund meiner Funktion und der von mir vertretenen Gemeinschaft respektieren… oder ganz einfach wegen meines Alters und meines weissen Bartes. Was letztendlich jedoch zählt, ist die Tatsache, dass man mir auf allen Ebenen der Regierung Verständnis und ein offenes Ohr entgegenbringt, wenn ernsthafte Probleme auftreten; dies ist natürlich angenehm, da es auch Zeiten gab, in denen die Behörden keinen Hehl aus ihrer Feindseligkeit machten.

Wie steht es um ihre Beziehungen zur Kirche?

Ich gehöre dem interkonfessionellen Rat an, doch da mich die meisten dort behandelten Themen nicht betreffen, nehme ich nur selten an den Arbeitssitzungen teil. Auf persönlicher Ebene kann ich die Beziehungen zu allen Mitgliedern des Klerus jedoch als sehr korrekt bezeichnen.

Können Sie uns abschliessend sagen, woher Sie den Mut nehmen, weiterhin eine Gemeinde zu leiten, die einerseits immer mehr schrumpft und andererseits zu neuem Leben zu erwachen scheint?

Mein Grundsatz lautete immer, weder meine Gläubigen und vor allem mich selbst nie anzulügen. Wenn wir aber auf unser Judentum nicht stolz sind, wenn wir nicht alles dafür tun, um unsere Identität, ohne die wir gar nichts sind, im Wissen um unsere Situation zu verstärken, steht es langfristig schlecht um unsere Zukunft. Für diesen Untergang möchte ich auf keinen Fall mitverantwortlich sein, vor allem nicht in einer Gemeinde, die zunächst physisch durch die Schoah und danach spirituell durch den Kommunismus dezimiert wurde. Daher bemühe ich mich nach Kräften und versuche all jene zu ermutigen, in denen ich ein winziges jüdisches Flämmchen entdecke, das nur darauf wartet, angefacht zu werden.


Begegnung mit dem Rabbiner Arye BEKKER
Der junge, dynamische und unternehmungsfreudige Rabbiner Bekker bereitet sich sorgfältig darauf vor, die Nachfolge von Grossrabbiner Natan Barkan anzutreten, der nun auf seinen 78. Geburtstag zugeht. Rabbi Bekker stammt aus Odessa, wo seine Familie immer noch ansässig ist, erwarb seine Diplome als Rabbiner in Israel, studierte aber auch an der Yeshiva University in New York. Für ihn steht fest, dass sich die jüdische Gemeinschaft von Lettland in vollem Aufschwung befindet, neue jüdische Lebenskraft erfährt und einer aktiven Zukunft entgegenblickt. Er ist sich bewusst, eine riesige Verantwortung zu tragen. «Heutzutage ist es wichtig, eine moderne Sprache zu sprechen und eine Umgebung zu schaffen, in der sich die Jugend wohl fühlt. Wir müssen ihr auch das Judentum erklären und sie mit Hilfe ihrer eigenen Interessen wieder zum Judentum hinführen», vertraute er uns an. Der Rabbiner hat eine Kerngruppe von ungefähr dreissig jungen jüdischen Paaren ins Leben gerufen, die sich für jüdische Fragen interessieren und allmählich die Botschaft des Judentums weitertragen. Er gibt an der Universität ebenfalls Kurse in jüdischer Geschichte und Philosophie, die von zahlreichen jungen Juden und Nichtjuden besucht werden. Sein Ziel, und darin gleicht er dem Grossrabbiner, besteht nicht darin, nur praktizierende Juden heranzuziehen, sondern die «Flamme» in denjenigen anzufachen, die sich an ihre Herkunft erinnern.