Die Demut
Von Oberrabbiner von Grossbritannien, Professor Jonathan Sacks
«Die Juden und das Judentum haben überlebt, weil sie ihren Lebenshunger nie verloren haben. Das Leben in unseren Händen halten – gehen, trinken, essen – und zu diesen einfachen Handlungen einen Segen aussprechen, dies macht das eigentliche Wesen der jüdischen Tradition aus. Die anderen Elemente des Judentums betreffen hauptsächlich Wohltätigkeit und Nächstenliebe, sie sollen das Leben anderer Menschen in einen Segen verwandeln. Weil das Leben aus Gefahren und Stolpersteinen besteht, erhalten wir zwischen Rosch Haschanah und Jom Kippur die Gelegenheit, unsere Fehler gutzumachen und wieder von vorne zu beginnen. Die Juden sind keine optimistischen Menschen, wir wissen nur zu gut, dass die Welt voller Konflikte und von Hass erfüllt ist. Als Juden wissen wir jedoch auch, dass wir frei entscheiden, dass wir uns ändern, uns entschuldigen und auch verzeihen können, um einen neuen Anfang zu machen – kurz, dass wir nie den Mut zu verlieren brauchen. Das Judentum selbst versteht sich in erster Linie als Verherrlichung des Lebens und des Vertrauens, das wir in das Leben haben. So ist der tiefere Sinn dieses zugleich einfachen und komplexen Gebets zu verstehen: «Gedenke unser zum Leben, König der Wohlgefallen hat am Leben, und schreibe uns ein im Buche des Lebens um deinetwillen, lebendiger G’tt König.»
Mit diesen Worten beendet der Grossrabbiner von Grossbritannien seine Botschaft an seine Gemeinde anlässlich von Rosch Haschanah 5761. Wir haben diese aussergewöhnliche Persönlichkeit gebeten, ein zum neuen Jahr passendes Thema auszuführen, das eine Botschaft der Hoffnung und des Muts enthalten sollte. Er hat sich für die Demut entschieden.
Die Tugenden sind nicht mehr das, was sie einst waren! In der Bibel wird Moses, die unbestrittene Hauptfigur der jüdischen Tradition, mit folgenden Worten beschrieben: «Aber Mose war ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden» (Numeri 12,3). Nach heute geltenden Massstäben ist er ganz offensichtlich sehr schlecht beraten worden. Er hätte einen Agenten verpflichten müssen, der ihm Tips für die Verbesserung seines Images gegeben hätte. Mose hätte zunächst auf wohlkalkulierte und dosierte Weise einige Bruchstücke seiner Gespräche mit dem Allmächtigen durchsickern lassen können, um seinen Bericht letztendlich für eine horrende Summe an die Presse zu verkaufen. Mit ein wenig Glück wäre es ihm gelungen, eine eigene Talk-Show im Fernsehen zu erhalten, um auf diesem Weg diejenigen mit Ratschlägen zu versorgen, die Wert darauf legen, ihre seelischen Regungen vor einem Millionenpublikum auszubreiten. Seine Viertelstunde des Ruhms wäre ihm sicher gewesen. Stattdessen musste er sich mit dreitausendjährigem moralischem Einfluss begnügen.
Demut ist heutzutage wirklich nicht mehr gefragt. Charles Dickens versetzte ihr den Todesstoss mit der Beschreibung der süsslichen Figur des Uriah Heep, des Mannes, der bei jeder Gelegenheit wiederholte: «Ich bin die demütigste Person auf Erden». Der endgültige Niedergang des Begriffs erfolgte jedoch ein Jahrhundert später, als die Massengesellschaft den Menschen die Anonymität aufzwang, während gleichzeitig Quartiere und Gemeinschaften ihre Bedeutung verloren. Die Gemeinschaft ist ein Raum der Begegnung für freundschaftlich Gesinnte. Die städtische Gesellschaft hingegen besteht aus Fremden. Das Bedürfnis des Menschen nach Anerkennung bleibt dennoch extrem stark. Auf diese Weise ist eine Kultur entstanden, die auf den verschiedenen Arten beruht, Leuten «etwas anzuvertrauen», die uns unbekannt sind, von denen wir uns aber erhoffen, dass sie uns dennoch Aufmerksamkeit schenken. Unser Glauben, dem wir früher im Gebet Ausdruck gaben, gehören nicht mehr in den Privatbereich, sondern wird als Slogan auf T-Shirts aufgedruckt. Eine Reihe von Techniken wurden entwickelt, mit denen Individualität kundgetan werden soll; dazu gehören Autokennzeichen mit persönlicher Note, aber auch Kleider mit aussen und nicht mehr innen aufgenähten Designer-Labels. Diese kulturelle Metamorphose zeigt sich in der allmählichen Verschiebung der persönlichen Ziele: früher trachtete man nach einem guten Ruf, heute versucht man berühmt zu werden und misst diese Berühmtheit anhand der Zuschauerzahlen. Das Glaubensbekenntnis unserer Epoche lautet: «Was Sie auch zu bieten haben, tragen Sie es zur Schau!» Kurz, demütiges oder bescheidenes Verhalten ist vollkommen out.
Schade. Denn von allen Tugenden verleiht die Demut – wenn sie echt ist – der Existenz den schönsten Glanz. Demut bedeutet nicht, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, sondern andere hervorzuheben. Sie ist der Ausdruck einer gewissen Offenheit für die Grösse des Lebens, einer Bereitschaft zur Überraschung und zur Beglückung, die Güte dort zu entdecken, wo sie sich befindet. Ich habe den Sinn für Demut von meinem Vater gelernt. Er war im Alter von fünf Jahren auf der Flucht vor den Verfolgungen in Polen nach England gekommen. Seine Familie war arm und er musste die Schule als Vierzehnjähriger verlassen, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Den grössten Teil seiner Bildung hat er sich selbst angeeignet. Dies hinderte ihn nicht daran, in allen Bereichen nach höchsten Leistungen zu streben. Er begeisterte sich für klassische Musik und Malerei, er verfügte auch über einen ausgezeichneten literarischen Geschmack, der besser entwickelt war als meiner. Er war ein begeisterungsfähiger Mensch, er besass die Fähigkeit zu bewundern – und dies liebte ich besonders an ihm. Meiner Ansicht nach ist dies der wichtigste Bestandteil der Demut: eine gewisse Fähigkeit, sich für etwas Höheres, über uns Stehendes zu öffnen. Sich als klein zu bezeichnen ist nur falsche Demut. Die echte Demut besteht aus dem Bewusstsein, vor etwas Grossem zu stehen, was erklärt, weshalb die Demut die Tugend der Propheten ist, welche die Nähe zu G’tt am intensivsten erleben.
Als junger Mann, erfüllt von mannigfaltigen Fragen zum Glauben, reiste ich in die Vereinigten Staaten, wo, wie man mir versichert hatte, hervorragende Rabbiner lebten. Ich bin mehreren von ihnen begegnet und mir wurde das Privileg zuteil, mit dem bedeutendsten geistigen Führer meiner Generation sprechen zu können, dem verstorbenen Lubawitscher Rebben, Rabbiner Menachem Mendel Schneersohn s.A. Er entstammte einer Dynastie, die einer recht bescheidenen Gruppe von Mystikern vorstand, und war während des Zweiten Weltkriegs aus Europa geflohen; in den Vereinigten Staaten verwandelte er das jämmerliche Trüppchen der Überlebenden aus seiner Gefolgschaft in eine weltweite Bewegung. Überall lobte man seine bemerkenswerten Führungsqualitäten, die manchmal ans Wundersame grenzten. Man sagte mir, er sei einer der aussergewöhnlichsten und charismatischsten Persönlichkeiten unserer Zeit. Ich beschloss also, ihn um jeden Preis kennenzulernen.
Das Gespräch fand tatsächlich statt und ich war äusserst erstaunt. Er besass kein Charisma im herkömmlichen Sinne des Wortes. Er war diskret, reserviert, sprach mit leiser Stimme, und wenn die Ehrfurcht seiner Anhänger nicht gewesen wäre, hätte man ihn kaum bemerkt. Und dennoch veränderte diese Begegnung mein Leben. Er war ein weltweit bekannter Mann. Ich war nur ein namenloser, von weither angereister Student. In seiner Gegenwart hatte ich jedoch den Eindruck, der bedeutendste Mensch der Welt zu sein. Er stellte Fragen, hörte mir aufmerksam zu, ermutigte mich, Führungsaufgaben anzustreben, was mir bis anhin nie in den Sinn gekommen war. Ich verstand schnell, dass er stärker an mich glaubte als ich selbst. Als ich den Raum verliess, wurde mir bewusst, dass er von meiner Präsenz und seiner Abwesenheit erfüllt gewesen war. Vielleicht ist dies die Art, jemandem im religiösen Sinne zuzuhören. Ich verstand, dass die Grösse sich daran misst, wie wir vor einem anderen Menschen oder einer Sache in den Hintergrund treten. Sein Wesen war frei von jeder Übertriebenheit und von jeder falschen Bescheidenheit. Er war gelassen, würdevoll, majestätisch, ein Mensch von transzendenter Demut, der einen ganz umfasste und einem Würde lehrte.
Echte Tugend muss nie auf sich aufmerksam machen. Deshalb finde ich es so bedauerlich, dass eine Persönlichkeit heute auf so aggressive Weise angepriesen werden muss. Dadurch tritt die tiefe und ständige Einsamkeit einer Welt zu Tage , in der Treue und Vertrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen keinen Platz mehr haben. Sie zeugt letztendlich von einem mangelnden Glauben, vom Verlust einer Gewissheit, die in den Augen früherer Generationen so wertvoll war: die Tatsache, dass jenseits der sichtbaren Dinge dieser Welt eine Präsenz vorhanden ist, die uns kennt, die uns liebt, die unsere Handlungen beobachtet. Wäre in dieser beruhigenden Gewissheit das Bedürfnis nach anderen Dingen noch vorhanden?
Jedes Mal, wenn ich eine Bestattung vornehme und die trauernden Hinterbliebenen aufsuche, entdecke ich, dass der Verstorbene ein Leben voller Grosszügigkeit und Güte geführt hat, ohne dass irgendjemand, auch seine Angehörigen nicht, dies ahnte. Daraus habe ich geschlossen, dass die meisten frommen oder grosszügigen Taten schweigend und unbemerkt erfolgen, ohne dass nach öffentlicher Anerkennung gestrebt wird. Bevor ich in das private Reich der Menschen eindrang, hätte ich mir dies nie träumen lassen. Dies ist wahre Demut, und sie zeigt die menschliche Seele in ihrer ganzen Schönheit.
Die Demut ist, wie man sieht, mehr als eine einfache Tugend: es geht um eine Form der Wahrnehmung, eine Sprache, in der das «Ich» verstummt, um das «Du» besser zu hören, sie ist der Ruf jenseits der menschlichen Sprache, das in jeder Kreatur vorhandene göttliche Murmeln, diese Stimme aus dem Anderswo, die uns auffordert, unsere Einsamkeit durch eine Geste der Liebe zu durchbrechen. Dank der Demut stehen wir der Welt zur Verfügung.
Was ändert es, dass diese Einstellung nicht mehr den Forderungen unserer Zeit entspricht? In Wirklichkeit berührt die moralische Schönheit, wie auch die Musik, immer noch diejenigen, welche die entsprechenden Töne aus dem Lärm und dem Trubel heraushören können. Natürlich ist Tugend heute nicht mehr «in», doch in Wahrheit kommt sie nie aus der Mode. Alles, was die Aufmerksamkeit auf sich lenken möchte, verliert schnell an Interesse, daher lässt unsere Konzentrationsfähigkeit immer mehr nach. Die Demut – das andere Extrem der «Aufwertung des Ichs» - hinterlässt immer eine leuchtende Spur. Wenn wir auf unserem Lebensweg einem Wesen begegnen, der von G’tt erfüllt ist, können wir ihn nicht ignorieren. Wir fühlen uns zu Recht stärker, grösser, weil wir jemandem begegnet sind, der sich selbst nicht ernst nimmt und uns zeigt, wie wir uns mit grösstem Ernst allem zuwenden können, was nichts mit dem «Ich» zu tun hat.