Versiegte Quellen | |
Von Jennifer Breger * | |
Im vergangenen Sommer verbrachten wir drei Wochen in Osteuropa. Obwohl ich geplant hatte, einen Artikel über die von mir besuchten Museen und Ausstellungen zu schreiben, wusste ich sofort nach meiner Ankunft, dass er völlig anders und persönlicher ausfallen würde. Normalerweise sieht eine Reise nach Osteuropa für jüdische Touristen immer etwas ähnlich aus: sie verbringen einge Tage in Polen, besichtigen Warschau, Krakau und Auschwitz, vielleicht Budapest... Und dann Israel! Von der Vergangenheit in die Zukunft! Unsere Reise sah anders aus. Wir gingen zuerst nach Jerusalem, um dort am Vorabend des Fastentages vom 17. Tammuz auf dem Har Tzion die Bat Mitzwah meiner jüngeren Tochter zu feiern, danach fuhren wir nach Krakau, wo mein Mann drei Wochen lang an der Jagellonen Universität unterrichtete. Es war eine Reise in die Vergangenheit, eine sehr intensive und bewegende Erfahrung. Wir lebten drei Wochen lang in Krakau, einer wunderschönen mittelalterlichen Universitätsstadt mit dem grössten Marktplatz Europas, die jedoch auch moderne Aspekte und Annehmlichkeiten, wie beispielsweise riesige Supermärkte besitzt. Während mein Mann an der Uni lehrte, reisten meine Töchter und ich durch Polen und verbrachten einige Tage jenseits der Grenze in der Ukraine. Überall sah und hörte ich die Spuren der Vergangenheit. Die von jüdischem Leben erfüllten Jahrhunderte standen mir jederzeit greifbar nahe vor den Augen. Ab und zu führte mich mein Gehirn an der Nase herum und ich sah, wie sich leere Marktplätze mit Juden füllten, ich sah, wie sich in den Ruinen der Synagogen eindrückliche Rabbiner über Talmudbände beugten, wie chassidische Anführer in den Hallen und sogar in Badeorten wie Krynice, wo sie sich vor dem Krieg zu versammeln pflegten, von ihren eifrigen Anhängern umgeben wurden. Ich brauchte in Krakau nicht auf den Friedhof am 9. Aw zu gehen um zu fühlen, dass Tischa Be-Aw war. Unsere Familie begriff in diesen drei Wochen auf mancherlei Weise, was «Churban», Zerstörung, wirklich bedeutet. Am letzten Abend vor unserer Abreise zündete ich eine Jahrzeit Kerze für all jene an, die in Osteuropa ums Leben gekommen waren. Doch es war ebenfalls die Stärke des osteuropäischen Judentums im Verlauf der Jahrhunderte zu spüren. Man vergisst sehr leicht, wie kraftvoll das jüdische Leben über viele Jahre gewesen war. Obwohl die Juden nicht immer in Frieden und Wohlstand lebten, existierten starke und pulsierende Gemeinschaften. Die Juden fühlten sich hier in der Regel in Sicherheit. Bevor die jüdische Bevölkerung zum ersten Mal nach Polen gelangten, als sie nicht mehr wussten, wie sie den Verfolgungen entgehen sollten, fiel laut Agnon ein Stück Papier vom Himmel mit den Worten «Geht nach Polen». Sie legten das hebräische Wort für Polen als «Po-Lin» aus, das bedeutet: «Hier ruht euch des Nachts aus», und sagten: «Hier wollen wir uns ausruhen und solange bleiben, bis wir uns alle im Land Israel wiederfinden werden». Dies beweist ihr tiefes Gefühl der Sicherheit. Die Reise durch Polen war in mancher Hinsicht sehr angenehm: Es gibt wunderschöne Stadt- und Marktplätze, Flüsse, üppige grüne Landschaften und Wälder, doch überall fiel uns die Abwesenheit von Juden auf. Vor dem Krieg lebten dreieinhalb Millionen Juden in Polen, der grössten jüdischen Gemeinde Europas. Heute sind es vielleicht 10’000 Juden, doch genaue Zahlen sind unbekannt. Am traurigsten stimmt einen die Tatsache, dass die meisten Spuren des jüdischen Lebens auf die Friedhöfe führen, falls diese nicht auch zerstört wurden. Wir lernten rasch, welche Nachbarn den Schlüssel zu einem Friedhof besassen und in welche man hineinklettern konnte... Viele von ihnen wurden zerstört, weil die Steine von den Nazis oder anderen als Baumaterial verwendet wurde. Es wurden von den ansässigen Gemeinden, Spendern aus dem Ausland und Organisationen wie der Lauder Foundation grosse Anstrengungen unternommen, die Gräber wieder herzustellen, denn sie sind unsere stärkste Verbindung zu unserer Vergangenheit. Die durch die Gräber verkörperte rabbinische Gelehrsamkeit ist unendlich gross. Ramah, Rav Mosche Isserles, Yom Tov Lippman Heller, Rabbi Bach in Krakau und viele andere. Schalom Schachna, der Maharaschal und der Maharam von Lublin in Lublin. Der Schlüssel zum Friedhof von Lublin gehört einem alten, über achtzigjährigen jüdischen Greis, der uns von den wenigen Juden erzählte, die noch in der Stadt wohnen - ein frappierender Kontrast zum vielfältigen jüdischen Leben, von dem der Friedhof berichtet. Jüdische Friedhöfe faszinieren durch die in ihnen enthaltene Geschichte, die Inschriften und Skulpturen auf den Einzelgräbern sind wie ein Fenster in die Vergangenheit. Es findet gegenwärtig eine Ausstellung unter dem Titel «Carved Memories: Heritage in Stone from the Russian Jewish Pale» im berühmten Brooklyn Museum of Art in New York statt; es werden Fotografien eines Künstlers aus St. Petersburg, David Goberman, gezeigt. Diese Bilder beschwören die Schönheit der Skulpturen - die Hände einer Frau, die Kerzen anzündet, der Krug für die Leviten. Die Grabsteine sind echte Kunstwerke. Wir fanden während unserer Reise im Sommer Steine, die an verschiedenen Orten das Leben symbolisierten, darunter auch Steinfragmente, von denen einige heute die Wände von Gedenkstätten bilden, sowie riesige Mausoleen, wie z.B. dasjenige der Familie Poznanski in Lodz. Der Friedhof in Warschau zählt ca. 250’000 Gräber und ist der grösste jüdische Friedhof in Polen. Doch am stärksten haben mich die Gräber der chassidischen Anführer bewegt. Viele von ihnen, wie z.B. Ger (Gora Kolwaria) oder Kotzk, habe ich nicht besuchen können, doch ich reiste nach Rimanov, wo Menachem Mendel begraben ist, und nach Novy Sacz (Sanz), wo ich das Grab des Divrei Chayyim besuchte, des ersten der Dynastie Sanz. In der Ukraine sahen wir die Gräber der ersten Belzer Rabbis - und Belz selbst verkörpert eigentlich ein Schtetl aus der Vergangenheit, mit Enten und Gänsen, aber auch Pferden und Wagen. Noch bewegender war die Reise nach Mezhibezh weit in der Ukraine; dort besichtigten wir die Gräber des Ba'al Schem Tow und seines Enkels Baruch von Mezhibezh sowie des Rabbis, der als «Ohew Yisrael» bekannt ist, R. Heschel von Apt, der nur die Worte «Ohew Yisrael» als Inschrift auf seinem Grabstein wünschte. Dies steht tatsächlich darauf, schlicht und doch so ergreifend. Als wir in Lvov (Lemberg) eintrafen, war uns die Bedeutung der Friedhöfe, die wir an den verschiedenen Orten gesehen hatten, zutiefst bewusst, denn in Lvov war der berühmte Friedhof, der bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht und auf dem Rabbiner wie Chacham Tzvi, der Taz begraben liegen, teilweise von den Nazis, doch hauptsächlich nach dem Krieg von den Kommunisten zerstört worden. Die Grenzüberschreitung von Polen in die Ukraine war für meine Kinder bereits eine aussergewöhnliche Erfahrung. Wir waren mit den Visas bewaffnet, die wir bereits in Amerika beantragt hatten, doch völlig unvorbereitet auf die lange Wartezeit und die misstrauischen Beamten auf beiden Seiten. Wir konnten uns sehr leicht zurückversetzen und uns vorstellen, wie die Juden damals die Grenze passiert hatten, erfüllt von Panik und Unsicherheit. Im Gegensatz zu Polen besitzt die Ukraine immer noch eine grosse jüdische Gemeinde, insgesamt ca. 500’000 Menschen. In Lvov leben heute 5-6000 Juden, die meisten von ihnen haben den Krieg überlebt und sind ältere, alleinstehende Menschen, doch es gibt auch jüngere und ganz junge Juden. Fast alle kamen nach dem Krieg aus anderen Teilen der Ukraine nach Lvov, da nur wenige der Einheimischen überlebt hatten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind 80’000 Juden aus Lvov nach Israel, Amerika und Deutschland ausgewandert. In Kiew leben wahrscheinlich noch 70’000 Juden. Lvov hat einen grossen Eindruck auf uns gemacht. Wir kannten das umfangreiche jüdische Erbe der Stadt (s. Artikel in SHALOM Vol. XXIII - April 1995), doch an Ort und Stelle zu sein war etwas ganz Besonderes. Es ist eine typische grosse «königlich-ungarische»-Stadt wie Krakau, Budapest, Prag und Wien, obwohl sie aufgrund der schlechten Wirtschaftslage viel weniger gut erhalten ist. Die jüdischen Stätten wurden hauptsächlich während des Krieges zerstört, die Stadt ist voller Schilder mit Inschriften wie «Hier stand die Synagoge des Taz», wie wir bereits in Lublin in Polen gesehen hatten, wo ähnliche Tafeln lauteten: «Hier stand die Synagoge des Maharaschal» oder Hier trat der Vierländerrat zusammen». Wir waren so glücklich zu sehen, dass das Gebäude der berühmten Yeschiwah von Rav Mayer Schapiro unbeschädigt ist und als Schule für Ärzte benützt wird. Hier in Lvov sahen wir die Tafel, die den früheren Standort des liberaleren G´´tteshauses anzeigte: «Hier stand die Synagoge der progressiven Juden», Tempel genannt, der von Lvovs Intelligentsia besucht wurde. Sie wurde von 1844-5 erbaut und von den deutschen Soldaten zerstört, die 1941 in Lvov einmarschierten. Am Vernichtungswerk waren nicht nur die Deutschen beteiligt, sondern auch die Ukrainer. Leider denken wir Juden im Licht der Massaker von Chelmienko (der Anführer gilt als ukrainischer Nationalheld) in den Jahren 1648-9 und der von Petlyura anfangs des 20. Jahrhunderts veranstalteten Pogrome an die Ukraine. Gleichzeitig gibt es hier auch fromme Juden. Viele von jenen, die unter sowjetischer Herrschaft keinen Kontakt mehr zur Religion hatten, entdecken heute ihr Erbe wieder, und jüngere Leute werden dazu ermutigt nach Israel zu reisen. Zwei Synagogen halten tägliche Gottesdienste ab, bieten Mahlzeiten an und dienen den Kindern als Schule. Die Juden leiden unter der allgemein schlechten Wirtschaftslage - der Kontrast zum westorientierten, von Konsumgütern überquellenden Polen war augenfällig. Ein amerikanischer Rabbiner und seine Frau, das Ehepaar Bald, verwandt mit den Stolin-Karlin Chassidim, widmen sich mancherlei Art der Unterstützungsarbeit, wie auch der Gemeinschaftsaktivist Meylech Scheykhet, der sich stark für die jüdische Gemeinde engagiert und unermüdlich an der Lösung der Probleme einzelner Juden arbeitet. Er beschäftigt sich ebenfalls mit dem Schutz der Friedhöfe, er hat in den vergangenen 10 Jahren 58 Friedhöfe in der Ukraine recherchiert und legte ihre Umrisse fest; heute setzt er sich dafür ein, dass sie wieder in jüdischen Besitz gelangen, so dass man sich in angemessener Weise pflegen kann. Unsere Reise war nicht dem Holocaust gewidmet. Der Besuch von Auschwitz und Birkenau mit zwei jungen Mädchen war schrecklich genug und hat uns tief erschüttert. Ich verliess Osteuropa, diese von jüdischem Blut getränkten Länder, ohne die Schrecken des Holocausts besser verstehen zu können. Je mehr wir sahen, desto unbegreiflicher wurden all diese Ereignisse, da wir über das Wesen der menschlichen Natur und die Abgründe nachdachten, in welche die Menschen im 20. Jhd. sanken. Abschliessend kann gesagt werden, dass der Glanz des osteuropäischen Judentums der Vergangenheit angehört und nicht wieder auferstehen wird. In der Gegenwart gibt es jedoch immer noch Leute, denen man helfen kann, Dinge, die gerettet werden müssen. Ich empfand einen riesigen, schmerzlichen Verlust, als ich durch diese Gegend reiste, aber auch tief in mir innen den Reichtum des Erbes von Osteuropa. Wir können es nicht retten oder in der Vergangenheit leben. Doch wir müssen mit dem Wissen um unsere Geschichte in die Zukunft schreiten und unsere Vergangenheit in uns tragen, bestärkt von der Kraft derer, die vor uns gelebt haben. *Jennifer Breger ist von Oxford und der Hebräischen Universität in Jerusalem diplomiert. Sie ist Spezialistin für jüdische Bücher und Manuskripte. Sie lebt heute in Washington. |