Dänische Fakten
Von Roland S. Süssmann
Die Bezeichnung Oberrabbiner für eine so winzige Gemeinde wie diejenige in Dänemark mag einem zunächst ein Lächeln entlocken, doch in Kopenhagen ist dieser Titel durchaus gerechtfertigt. Neben der grundlegenden, rein auf die Gemeinde bezogene Arbeit besitzt der Grossrabbiner nämlich auch eine äusserst wichtige repräsentative Funktion bei der Monarchie und den Behörden. Um alle Aspekte dieser bedeutenden Aufgabe verstehen zu können, haben wir uns mit dem Grossrabbiner Dr. BENT LEXNER unterhalten, der dieses Amt vor ungefähr zwei Jahren übernommen hat und dabei der Nachfolger einer Persönlichkeit wurde, die das Judentum der Gegenwart nachhaltig prägte, Grossrabbiner Bent Melchior, der von 1969 bis 1996 im Amt war.

Worin unterscheidet sich die jüdische Gemeinschaft Dänemarks von den anderen jüdischen Gemeinschaften Europas ?

Es gibt eine typisch dänische Eigenart, die auf der Tatsache beruht, dass wir keine individuelle Geschichte der Schoah erlebt haben. In den meisten europäischen Gemeinschaften haben zahlreiche Familien während der Schoah nahe Angehörige verloren. In Dänemark hat der Grossteil unserer Mitglieder diese schreckliche Erfahrung nicht durchmachen müssen, denn die meisten dänischen Juden wurden 1943 nach Schweden übersiedelt, und diejenigen, die doch in die Hände der Deutschen gerieten (ca. 500 Menschen), wurden nach Theresienstadt geschickt, von wo aus kein einziger dänischer Jude in ein Vernichtungslager gebracht wurde. Die 50 dänischen Juden, die in Theresienstadt ums Leben kamen, starben an Krankheiten oder Mangelernährung. Diese Tatsache hat natürlich Auswirkungen gehabt, ich würde gar behaupten, sie beeinflusst noch heute die geistige Einstellung und die Funktionsweise unseres Gemeinschaftslebens.

Sie leiten Ihre Gemeinde unter dem Oberbegriff des orthodoxen Glaubens; bedeutet dies, dass Ihre Mitglieder grösstenteils gläubige Juden sind ?

Nein, dies ist nicht der Fall. Die Strukturen und die Organisation der Gemeinde sind gemäss der orthodoxen Tradition aufgebaut, doch im Hinblick auf den Einzelnen wird das gesamte Spektrum des zeitgenössischen jüdischen Lebens in ein und derselben Organisation zusammengefasst. Die Idee an sich ist natürlich wunderbar, sie besitzt jedoch einige schwierige Seiten, denn die Ansprüche der unterschiedlichen Ausrichtungen sind oft sehr gegensätzlich. Einerseits ist es unmöglich, jeden zufriedenzustellen, ohne den Rahmen der Verhaltensregeln zu durchbrechen, die wir für uns aufgestellt haben, und andererseits muss jeder verstehen, wie wichtig es ist zusammenzuhalten. Im Gegensatz zu anderen Ländern soll unsere Gemeinschaft nicht in Splittergruppen unterschiedlicher Ausrichtungen, wie beispielsweise reformiert, liberal usw. auseinanderfallen. Ich weiss nicht, wie lange dies noch funktionieren wird, ich wünsche es mir jedoch und unternehme alles in meiner Macht Stehende, um es zu schaffen. Meiner Ansicht nach möchten unsere Mitglieder eine Kontinuität in der Gemeinde vorfinden, die ihnen schon so lange vertraut ist… vergessen wir nicht, dass es in Dänemark nie eine Revolution gegeben hat und dass die Juden unter dem starken Einfluss der dänischen Mentalität und Kultur stehen.

Welches ist die grösste Sorge des Grossrabbiners der jüdischen Gemeinde Dänemarks ?

Die Assimilierung!

Was unternehmen Sie konkret, um ihr entgegenzuwirken ?

Ich habe alles daran gesetzt, damit die Aufgabe des Rabbiners von unseren Mitgliedern nicht als eine rein geistliche Funktion wahrgenommen wird, die sich auf die G´´ttesdienste beschränkt. Ich engagiere mich voll und ganz für das Gemeindeleben und bin überall dabei, sowohl im Sportklub, in den Jugendbewegungen und in den Spitälern, als auch in unseren beiden Altersheimen. Ich versuche jedenfalls, den Kontakt vor Ort herzustellen und einen Dialog zu etablieren, um das Bild eines lebendigen Judentums zu vermitteln und auf diese Weise u.a. das Fortschreiten der Assimilierung zu unterbinden. Der wesentliche Teil meiner Tätigkeit findet jedoch in der jüdischen Schule statt, wo ich meine Büros ganz bewusst und willkürlich eingerichtet habe, was manchen wiederum ein Dorn im Auge ist.

Glauben Sie, dass es für die Juden Dänemarks Zukunftsperspektiven gibt ?

Am Anfang des Jahrhunderts hat ein Grossrabbiner von Kopenhagen vorausgesagt, dass es in den 30er Jahren in Dänemark keine Juden mehr geben würde. Er konnte nicht ahnen, was in Deutschland und Russland geschehen würde. Daher möchte ich lieber nicht den Propheten oder die Kassandra spielen; eine objektive Beurteilung der Situation erlaubt mir jedoch zu sagen, dass es auch in einer Generation noch Juden in diesem Land geben wird.
Es besteht kein Zweifel, dass unsere Gemeinschaft langsam ausblutet. Dies ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: wir sind eine alternde Gemeinde, und für einen grossen Teil unserer jungen Leute ist es üblich, nach der Matura ein Jahr in Israel zu verbringen. Glücklicher- oder unglücklicherweise bleiben unsere besten Elemente danach für immer dort. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor besteht aus dem sehr hohen Prozentsatz der Assimilierungen, da 80% der Eheschliessungen gemischt sind. Dazu muss ich ebenfalls sagen, dass sehr gläubige oder in der Gemeinde sehr aktive Familien Dänemark verlassen oder zumindest ihre Kinder dazu veranlassen, dies zu tun, während wir gleichzeitig dem Phänomen beiwohnen, dass eine Reihe von Menschen, die mit dem Judentum nichts mehr zu tun haben, wieder nach den Wurzeln ihrer jüdischen Identität suchen. Dadurch wird die Zahl unserer Mitglieder nicht wirklich erhöht, doch es wirkt sich allmählich auf die Zusammensetzung unserer Gemeinschaft aus.
Was die Einwanderungsgesetze angeht, sind sie dermassen streng, dass wir nicht mit einem Zustrom jüdischer Familien aus den osteuropäischen Staaten im allgemeinen und aus Russland im besonderen rechnen können. Darüber hinaus will Dänemark nicht wahrhaben, dass es in Russland ein schwerwiegendes Problem mit dem Antisemitismus gibt, was die Juden veranlasst, das Land zu verlassen und hier Zuflucht zu suchen.

Wie sehen Ihre Beziehungen zum Königshaus und der Kirche aus ?

Ich muss sagen, dass die jüdische Gemeinschaft sowohl bei den politischen und administrativen Stellen, als auch bei der Monarchie hohes Ansehen geniesst, und dass ich als Grossrabbiner von den Mitgliedern dieser Institutionen immer zuvorkommend und mit viel Ehrerbietung behandelt werde. Jedesmal, wenn die «Geistlichkeit» von der Königin empfangen wird, gehöre ich auch zu den geladenen Gästen. Unsere Beziehungen zur lutherischen Kirche sind überdies ausgezeichnet, doch ich pflege auch regelmässige Kontakte mit den Vertretern der katholischen Kirche. Wie Sie wissen, gibt es in Dänemark keinen Antisemitismus, und da die Kirche nicht sehr streng gläubig ist - am Sonntag sind die Kirchgemeinden leerer als unsere Synagoge am Schabbatmorgen - existiert auch kein religiöser Antisemitismus.


DIE CAROLINESKOLEN
Die Zukunft einer Gemeinschaft und ihre Überlebenschancen lassen sich oft an der Schülerzahl und dem Niveau der jüdischen Schule ermessen. In Kopenhagen befindet sich eine der ältesten jüdischen Schulen Europas, die Carolineskolen, die 1805 gegründet wurde! Damals war es eine reine Knabenschule, die den Namen «jüdische Gemeindeschule für Knaben» trug. Ihr Hauptziel war es, den jüdischen Kindern, die damals nur Jiddisch konnten, die dänische Sprache beizubringen. Einige Jahre später wurde eine Mädchenschule eröffnet, die Carolineskolen, die nach einer dänischen Prinzessin benannt wurde; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden beide Schulen dann in eine einzige Lehranstalt unter demselben Namen zusammengeschlossen. Heute erinnert der in der Schule erteilte Unterricht in keiner Weise mehr an ihren ursprünglichen Zweck, der zur Gründung geführt hatte. Die Dänen, die ihre Kinder in die jüdische Schule zu schicken beschlossen haben, möchten in erster Linie, dass sie Hebräisch lernen und die Grundlagen des Judentums erwerben, wobei diese Fächer ca. 18% des Lehrplans ausmachen. Die Schule, die gegenwärtig von 185 Schülern besucht wird (plus ungefähr fünfzig Kinder im Kindergarten), akzeptiert Kinder bis zum 16. Lebensjahr und befindet sich in einem grossen Gebäude in einem nahen Vorort von Kopenhagen.
In einem informellen Gespräch mit dem Präsidenten des Schulausschusses, Dr. ALLAN ROSENBAUM, haben wir erfahren, dass ca. 65% der jüdischen Kinder im Schulalter an der jüdischen Schule eingeschrieben sind. Überraschend ist die Tatsache, dass ein Kind automatisch aufgenommen wird, wenn einer der beiden Eltern ein echter Jude ist. Dies bedeutet demnach, dass auch nichtjüdische Kinder, d.h. deren Mütter nicht zum Judentum übergetreten sind, sondern bei denen nur der Vater Jude ist, diese Schule besuchen. Dies gilt ebenfalls für die Kinder, deren Mutter von einer reformierten oder liberalen Glaubensgemeinschaft konvertiert wurde, auch wenn dieser Glaubenswechsel natürlich wertlos und nicht anerkannt ist: solange der Vater ein authentischer Jude ist, werden diese Kinder an der Schule akzeptiert…
Als wir ihn zu diesem Thema befragten, erklärte der Grossrabbiner Bent Lexner uns folgendes: «Es handelt sich hierbei um eine bewusste Politik der jüdischen Gemeinschaft Dänemarks, die ausserdem weit in die Vergangenheit zurückreicht. Bis vor ungefähr vierzig Jahren, zwang das dänische Gesetz die Eltern, bei der Geburt eines Kindes schriftlich festzuhalten, in welchem Glauben sie das Kind erziehen wollen. Die Verantwortlichen der Gemeinde gingen daher davon aus, dass es aufgrund des elterlichen Wunsches, ihr Kind solle Jude sein, die Pflicht der jüdischen Schule sei, ihnen den entsprechenden Unterricht und die religiöse Ausbildung angedeihen zu lassen. Diese Situation schafft natürlich auch eine Reihe von Problemen. Heute werden alle Kinder im Alter der Bar/Bat-Mitzwah konvertiert, selbst wenn die Mutter nichtjüdisch bleibt. Wenn das Problem aktuell wird, führen wir ein Gespräch mit den Eltern, und wenn sie möchten, dass ihr Kind an der Schule bleibt und sein Leben auch weiterhin als Jude führt, führen wir die Konvertirung durch und dieses Kind wird ein authentischer Jude. Wenn die Eltern den Glaubenswechsel des Kindes verweigern, bitten wir sie, das Kind von der Schule zu nehmen.» Trotz all dieser Erklärungen und eines klaren Reglements (die Konvertierung des Kindes um die Bar/Bat-Mitzwah herum ist jedoch nicht Teil des Statuten der Schule) wird diese Situation nicht mehr von allen akzeptiert und ist sowohl innerhalb der Gemeinschaft als auch im Rahmen der Schulinstanzen Gegenstand einer ernsthaften Diskussion geworden.
Die Schule an sich wird von einer nichtjüdischen Direktorin geleitet, die jedoch ein Diplom für die Geschichte des dänischen Judentums besitzt. In organisatorischer Hinsicht muss erwähnt werden, dass die Schule keine Mahlzeiten für die Kinder anbietet, die gemäss der dänischen Tradition ihr eigenes Essen mitbringen, doch jede Form von nichtkoscheren Nahrungsmitteln ist verboten; das Institut verfügt über Sportanlagen sowie über ein kleines Gebethaus, das im Gegensatz zu anderen jüdischen Schulen überall auf der Welt keinen täglichen G´´ttesdienst veranstaltet. Jedes Jahr organisiert die Carolineskolen während der Schulzeit für die beiden obersten Klassen eine zweimonatige Reise nach Israel, in deren Verlauf die Schüler das Land entdecken und gleichzeitig ihr Hebräisch verbessern und ihr Wissen in den jüdischen Fächern vertiefen können.
Für die Finanzen fällt die Schule unter die Bestimmungen der «Gesetze über die Privatschulen», so dass sie grosszügige Subventionen des Staates für den Betrieb der Schule in Anspruch nehmen kann. Der Rest des Budgets wird durch die von den Eltern bezahlten Schulgebühren und durch die Gemeinde gedeckt.
«Die Zukunft und die Überlebenschancen einer Gemeinde lassen sich oft an der Schülerzahl und am Niveau ihrer jüdischen Schule abmessen»: vor 25 Jahren zählte die Carolineskolen 325 Schüler, heute sind es nur noch 185, doch es scheint, dass diese Zahl wieder stetig zunimmt!