Jacob Kramer (1892-1962) | |
Von Philip Vann * | |
Zwischen 1915 und 1925 schuf JACOB KRAMER einige der herausragendsten Gemälde der modernen britischen Kunst. «Tag der Sühne» (1919), «Talmudgelehrte» (ca. 1919) und «Ruhala» (ca. 1917), die nun alle in der Leeds City Art Gallery im Norden Englands besichtigt werden können, sind Bilder von einer inneren geistigen Kraft, intensiv und machtvoll, voller präziser Formgebung und sanfter Farben. Es sind überzeugende moderne Kunstwerke, die beweisen, wie erfolgreich der Künstler die Entwicklungen der zeitgenössischen Avantgarde beobachtete und individuell verarbeitete. Von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen büsste sein Werk nach ungefähr 1925 im allgemeinen seine Qualität und Originalität ein. Kramer wurde am 26. Dezember 1892 in Klincy, einer Kleinstadt in der russischen Ukraine, geboren. Sein Vater und sein Onkel waren bekannte Hofmaler, seine Mutter eine berühmte Opernsängerin. Angesichts des wachsenden Antisemitismus des Zaren emigrierte die Familie im Jahr 1900 und liess sich in der jüdischen Gemeinschaft von Leeds nieder, wo der Vater durch das Retouchieren alter Fotografien sich mit Müh und Not den Lebensunterhalt verdiente. Die 1915 entstandenen Bleistiftzeichnungen Jacobs von seinen verhärmten Eltern sind uns überliefert, sowie auch ein Blatt mit zwölf Bleistiftskizzen eines ansässigen jüdischen Bettlers. Ein Ölgemälde aus dem Jahr 1916, «Tod meines Vaters», zeigt in vereinfachten, geometrischen Formen das Totenbett des Vaters, dessen langer schwarzer Bart sich scharf von dem weissen Leintuch abhebt. 1902 war Jacob von zu Hause ausgerissen und sechs Monate lang zur See gefahren. Nach seiner Rückkehr besuchte er Abendkurse für Bildende Kunst und studierte von 1908-11 dank eines Stipendiums an der Leeds School of Art, wo er von Michael Sadler, Vizekanzler der Universität von Leeds und Kunstkenner, entdeckt und gefördert wurde. 1912 gewann er ein Stipendium für das Studium an der Slade School of Art in London. Die Schüler, welche diese Akademie vor dem Ersten Weltkrieg besuchten, gehören zu den bekanntesten Vertretern des modernen Kunstschaffens Grossbritanniens: David Bomberg, Mark Gertler, C.R.W. Nevinson, der Dichter und Maler Isaac Rosenberg und Stanley Spencer. Innerhalb der oberen Mittelschicht von Slade galten Bomberg, Gertler, Kramer und Rosenberg - alles Juden - als Einwanderer oder Söhne von Einwanderern in gewisser Hinsicht als Aussenseiter. Die Jahre nach dem Abschluss des Studiums zählen zu den fruchtbarsten in Kramers Karriere. 1918 führte er eine lebhafte Korrespondenz mit dem Kunstkritiker und Dichter Herbert Read. Jahrzehnte später erinnerte sich Read an die «kreative Begeisterung dieser Jahre», in denen der radikal neue Kubismus und «grossartige Künstler -Picasso, Braque, Léger, Kandinsky… entdeckt wurden, die mit ihren täglich neuen Erfindungen unseren Enthusiasmus weckten». Kramer besuchte Paris im Jahr 1915 und liess sich im selben Jahr in London nieder, im Kreise einer machtvollen, entdeckungsfreudigen Kunstszene. Die Postimpressionisten Cézanne, van Gogh und Gauguin sprachen ihn sehr an. In einem sechzehnseitigen Brief an Read führte er sein künstlerisches Credo aus und beschrieb seine Bemühung, seinen tiefsten Gefühlen symbolisch Form zu verleihen: «Wenn die natürlichen und geistigen Elemente sich in meinem Bewusstsein einprägen, führt dies unvermeidlich zu einem schrecklichen Kampf, und ich bin nur mit grösster Anstrengung in der Lage, die eigentliche Substanz genauer Natürlichkeit in das Wesen der Geistigkeit zu übertragen.» Es ist interessant festzuhalten, dass Kramer unter dem Einfluss des Kubismus und Vortizismus Rabbiner und Talmudgelehrte in abstrakter, stilisierter Weise darstellte, so dass sie fast wie Symbole auf einem antiken, hieratischen Fries erscheinen. Dies ist zweifellos der Fall bei «Tag der Sühne», Kramers bekanntestem und herausragendstem Werk. Das Gemälde zeigt in Gebetsmäntel gehüllte heilige Männer. Die Figuren stehen anbetend in einer Reihe, wahrscheinlich der Bundeslade der Synagoge zugewandt, und jede einzelne von ihnen entspricht trotz bewegender Menschlichkeit eher einem Archetyp als einem Individuum, mit identischen spitzen Bärten, sich entsprechenden geometrischen Formen und ähnlichen schwarzen, grauen und naturweissen Gewändern. Die Szene erinnert an die Weisung des Psalmisten «Schweige und wisse, dass ich G´´tt bin». Dieses Schweigen besitzt eine echte dreidimensionale Figürlichkeit, als ob die Figuren und Gegenstände geschnitzt wären. Kramer sagte später, «ein wirkliches Porträt sollte wie eine grossartige Skulptur ein Monument des menschlichen Lebens sein, kraftvoll geformt und erschaffen». Alle Rabbiner wurden, mit einer Ausnahme, mit geschlossenen Augen und in tiefer Versenkung dargestellt. Zwei über alle anderen herausragende Köpfe verstärken den klagenden Rhythmus des Werkes. Derart stilisierte Formen besitzen etwas bewusst Archaisches und Ungewöhnliches und erinnern in gewisser Weise an die Kunst primitiver Stämme. Seine Freunde und Zeitgenossen Gertler, Bomberg und Jacob Epstein besuchten häufig das British Museum, wo sie, wie Kramer, afrikanische und ozeanische Skulpturen bewunderten. Kramer sammelte sogar diese Werke, und das kleine Zimmer, das er in Leeds bewohnte - in einem 1920 erschienenen Zeitungsartikel war von einem uralten Klavier, einem unerträglich heissen Feuer und Wänden die Rede, die mit seinen Gemälden und Zeichnungen bedeckt waren -, war ebenfalls mit Stammeskunst vollgestopft. Kramer hat immer für und durch seine Kunst gelebt, und empfand die Provinzstadt Leeds als einen schutzbietenden und wohltuend vertrauten Ort, so dass er 1923 - ohne jegliche Ironie oder Pathos - verkündete, er finde «in Leeds mehr Anregungen als in London oder gar in Paris». Das Gefühl der intellektuellen und künstlerischen Befruchtung beruhte auf Gegenseitigkeit: Kramer wurde zu einer gefeierten und inspirierenden Persönlichkeit innerhalb der kleinen, in engem Kontakt zueinander stehenden Gemeinschaft von Künstlern, Musikern und Schriftstellern von Leeds, und stellte unzählige Zeichnungen von den Angehörigen der jüdischen Gemeinde der Stadt und deren Kinder her, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er gründete den Yorkshire Luncheon Club, und jedesmal, wenn eine in Künstlerkreisen bekannte Persönlichkeit Leeds besuchte, wurde sie eingeladen, anlässlich von ausführlichen, reichlich begossenen Mittagessen oder von anregenden, wortreichen Dinners zu sprechen. Der Adelige David Astor beschrieb Kramer, dem er 1935 begegnete, als «theatralische Ausgabe eines Bohemiens vom alten Schlag mit einem breitkrempigen Hut, locker gebundener Krawatte und einer üppigen Haarpracht, die auf den Kragen seiner Samtjacke niederwallte» - eine von den normalen Bürgern von Leeds misstrauisch beäugte Figur. Astor berichtet ebenfalls von Kramers «merkwürdiger Mischung von… Intelligenz und entwaffnender Einfachheit, Streitbarkeit und ungewöhnlich sanftmütiger Natur». 1938 schrieb Bomberg an Kramer: «Sie besitzen bestimmt Talent, doch Sie haben es unter einem Haufen Bierflaschen, Geschwätz, Sorgen, einem Anflug von Faulheit und gewöhnlichen weltlichen Gewohnheiten verloren.» Die besten unter Kramers Spätwerken, insbesondere zwischen 1946 und 50 entstandene Bibelillustrationen, weisen dennoch Spuren der prägnanten, linearen Schlichtheit und grossen symbolischen Kraft seiner frühen Werke auf. Er starb 1962. *Philip Vann wirkt als Kunstkritiker und Schriftsteller in England. |