Ein Kind - Zu Welchem Preis ?
Von Rabbiner Shabtaï A. Rappoport *
M. hat mit 35 Jahren geheiratet. Da sie auch nach mehreren Ehejahren kein Kind bekam, sucht sie schliesslich medizinische Hilfe. Diverse Untersuchungen ergeben, dass ihre Eileiter verschlossen ist. Aufgrund ihres Alters schliesst der Gynäkologe die Möglichkeit eines chirurgischen Eingriffs aus und empfiehlt die heutzutage gängige Technik der In-vitro-Fertilisation (IVF). Dem Körper der Mutter in einem chirurgischen Eingriff entnommene Eizellen werden im Labor mit den Samenzellen des Vaters befruchtet, und die entstandenen Embryos werden anschliessend wieder in die Gebärmutter der Mutter gebracht, wo sie sich einnisten.
M. und ihr Mann melden sich also für ein IVF-Programm an; um zugelassen zu werden, durchlaufen sie eine Reihe von medizinischen Tests mit vollständigen Bilanzen. Zu diesem Zeitpunkt diskutieren sie mit dem verantwortlichen Arzt, um über die Anzahl der später befruchteten Eizellen zu entscheiden. Diese Behandlung führt nämlich unvermeidlich zu folgendem Dilemma: die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft beinhaltet das Risiko einer Mehrfachgeburt. Der Arzt erklärt ihnen, dass die Überlebenschancen eines in IVF entstandenen Embryos nur 15% betragen. Damit die Aussicht auf eine Geburt möglichst gross wird, muss eine ausreichende Anzahl von Embryos in die Gebärmutter von M. eingeführt werden. Für Frauen, die über 40 Jahre alt sind, wie dies auf M. zutrifft, müssen es mindestens acht Embryos sein. Dann besteht jedoch die Gefahr, dass M. eine Schwangerschaft mit drei oder vier lebensfähigen Babys austrägt.
Bei jüngeren Frauen, führt der Arzt aus, können viel mehr Eizellen entnommen, befruchtet und dann eingefroren werden (unbefruchtete Eizellen können nicht in gefrorenem Zustand aufbewahrt werden). Anschliessend werden also einige Embryos wieder in die Gebärmutter eingepflanzt. Sollte der Versuch fehlschlagen – es entsteht kein lebensfähiger Fötus -, kann mit den nicht verwendeten tiefgefrorenen Föten ein neuer Versuch durchgeführt werden, bis es zu einer erfolgreichen Schwangerschaft kommt. Bei den über vierzigjährigen Frauen ergeben die gefrorenen Embryos jedoch keine guten Resultate. Misslingt der erste Versuch, müssen dem Körper von M. neue Eizellen entnommen werden, was undenkbar wäre angesichts der Schwierigkeiten, die beim ersten Versuch aufgetreten sind.
Andererseits kann eine Mehrlingsschwangerschaft sowohl für die Kinder als auch für die Mutter eine Gefahr darstellen.
Der Arzt schlägt nun folgende Lösung vor: es werden acht bis zehn Eizellen befruchtet und in die Gebärmutter von M. eingeführt. Im Falle einer Mehrlingsschwangerschaft besteht die Möglichkeit, die Anzahl der Föten «selektiv zu reduzieren». Dies bedeutet, dass vor dem dritten Schwangerschaftsmonat Kaliumchlorid in den Herzbeutel der « überzähligen » Föten injiziert wird, die dadurch wenige Minuten später sterben und vom Körper der Mutter ausgeschieden werden.
M. und ihr Mann müssen demnach eine Entscheidung treffen. Sollen sie den Rat ihres Hausarztes befolgen ? Schliesslich erscheint es ihnen unsinnig, dieses Unterfangen in Angriff und all diese Mühen auf sich zu nehmen, ohne den möglichen Erfolg zu garantieren – indem ausreichend Eizellen befruchtet werden.
Sollte jedoch M. zu viele lebensfähige Embryos produzieren, würde ihre Schwangerschaft mehr Risiken umfassen als üblich, da die Babys spontan abgehen, vorzeitig zur Welt kommen oder gar Schäden davontragen können. Die vom Arzt vorgeschlagene Lösung scheint angesichts des Dilemmas einen vernünftigen Ausweg darzustellen. Haben wir jedoch das Recht, «überzählige» Föten zu töten?
Die Frage, ob die Abtreibung eines weniger als sechs Wochen alten Fötus einen Mord darstellt oder nicht, wird von den Weisen der Halachah diskutiert. Zwei der grössten Halachah-Koryphäen des 20. Jhds. leiten von der Erklärung einer Mischnah von Maïmonides ab, dass die Abtreibung tatsächlich einem Mord gleichkommt. Die Mischnah (Ohalot Kap. VII Abs. 6) hält fest: «Wenn eine Frau eine schwierige Geburt erlebt (und ihr Leben in Gefahr zu sein scheint), muss das Kind in ihrem Bauch zerstückelt und entfernt werden, da das Leben (der Mutter) über demjenigen des Kindes steht.» Dazu muss betont werden, dass jede Bestimmung der Torah überschritten werden kann und muss, wenn es darum geht, Leben zu retten, mit Ausnahme der Verbote im Hinblick auf Götzendienst, Inzest (Ehebruch eingeschlossen) und Mord (Sanhedrin 74a). Folglich ist man selbstverständlich dazu berechtigt, eine Abtreibung durchzuführen, falls diese nicht als Mord angesehen wird, um das Leben der Mutter zu retten.
Maïmonides interpretiert jedoch die Erlaubnis in diesem Fall abzutreiben auf unterschiedliche Weise (Gesetze über Mord Kap. I Abs. 6-9). Es existiert eine Ausnahme von diesem Gesetz, die besagt, dass man sein Leben nicht durch einen Mord retten darf: wenn ein Mensch einen anderen verfolgt (Rodef), um ihn umzubringen, muss er als erster getötet werden. «Daher haben die Weisen entschieden, dass es im Falle einer schweren Geburt erlaubt ist, das Kind im Mutterleib zu zerstückeln… es wird nämlich als ‘Rodef’ angesehen – einen Verfolger - der ihr Leben bedroht.» Rav Chaim Soloveitschik aus Brisk (in seinem Kommentar zu Maïmonides) und Rav Mosche Feinstein (Igrot Mosche Hoschen Mischpat 2. Teil Responsa CXIX) kommen zum Schluss, dass Maïmonides die Rechtfertigung der Abtreibung durch das Gesetz des ‘Rodef’ als notwendig empfand, weil er die Abtreibung als Mord ansah. Rav Mosche Feinstein beweist im weiteren, dass diese Meinung von allen klassischen Talmudkoryphäen vertreten wird und sich auf logische Weise aus dem Kommentar von Maïmonides ergibt.
Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der Erlaubnis, einen ‘Rodef’ umzubringen, und dem Recht, alle anderen Gesetze im Fall einer lebensbedrohlichen Situation zu missachten. Gemäss dem Talmud (Yoma 85b), ist das Töten eines Menschen nur dann zulässig, wenn absolut feststeht, dass er im Begriff ist, seinerseits ein Leben auszulöschen. Man darf jedoch nicht töten, wenn man nur vermutet, es bestehe eine Absicht zu töten. Alle anderen Gesetze müssen hingegen ausser acht gelassen werden, selbst wenn nur ein leichter Verdacht vorhanden ist, dass menschliches Leben in Gefahr schwebt. Nach Maïmonides darf ein Baby also nur dann abgetrieben werden, wenn das Leben der Mutter einer unmittelbaren und konkreten Gefahr ausgesetzt ist.
Diese Regel gilt natürlich nur für einen lebensfähigen Fötus. Selbst die Entfernung eines bereits geborenen, jedoch nicht lebensfähigen Kindes (auf Hebräisch ‘Ben Schmona’ genannt, d.h. ein vorzeitig geborenes Kind) wird nicht als Mord angesehen (Sanhedrin 84b). Darüber hinaus ist es nicht erlaubt, den Schabbat zu missachten, um sein Leben zu verlängern (Schabbat 135a). Ein solcher Fötus kann abgetrieben werden, um jede noch so leichte Gefährdung der Mutter zu vermeiden.
Daraus können wir also schliessen, dass eine Mehrfachschwangerschaft folgendes Problem aufwirft: besteht eine unmittelbare und konkrete Gefahr für das Leben von M., ist die Entfernung einiger Föten erlaubt. Doch dieses Risiko sollte a priori vermieden werden. Ein Mensch darf sich nicht selbst in eine für ihn lebensgefährliche Situation begeben. Wenn die Föten so zahlreich sind, dass feststeht, dass sie nicht alle überleben können, ist es ebenfalls zulässig, einige von ihnen abzutreiben, um den anderen eine normale Entwicklung zu gewährleisten. Von dem Zeitpunkt an, da die reduzierte Zahl den übrigbleibenden Föten eine vernünftige Überlebenschance garantiert, darf jedoch keiner von ihnen unter dem Vorwand abgetrieben werden, die anderen vor Schaden bewahren zu wollen. Ist die anfängliche Zahl der Föten so gross (in der Regel vier oder gar fünf), dass sie lebensfähig sein können, ohne das Leben der Mutter unmittelbar zu gefährden, dürfen sie nicht abgetrieben werden.
Unter Einbezug dieser Faktoren - das Verbot sich in Gefahr zu begeben und das Verbot zu töten - wäre die Befruchtung einer geringeren Zahl von Eizellen sowie die Verpflanzung weniger Embryos in den Uterus (sechs oder sieben) die ideale Lösung für M.. Sie müsste sich – wie bei jeder Schwangerschaft – in die Vorsehung fügen und hoffen, dass G’tt sie mit einem Kind segnen wird. Letztendlich erweist sich der Glaube an die Allmacht der menschlichen Technologie als grosser Fehler.

* Rabbiner Schabtaï A. Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-mail-Adresse: shrap@mofet.macam98.ac.il.