Die Nazi-verbrechen
Von Simon Wiesenthal*
EIN ALARMZEICHEN
Seit dem Ende des Nazi-Regimes haben zahlreiche grosse Persönlichkeiten über unsere Tragödie geschrieben. Dabei handelt es sich meiner Meinung nach um ein wesentliches Element beim Kampf gegen das Vergessen. Diesem Kampf habe ich die Hälfte meines Lebens gewidmet, obwohl sich meine Tätigkeit in erster Linie mit der Frage der Gerechtigkeit in direktem Zusammenhang mit dem grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit befasst. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, dass zukünftigen Generationen derartige Greuel erspart würden.
Meine Zeitgenossen und auch ich sind in dem Glauben an die zivilisierte Grösse des 20. Jahrhunderts aufgewachsen. Wir waren überzeugt, der Fortschritt und die kulturelle Entwicklung würden uns zu einer Art echten menschlichen Adels führen, der von Freundschaft und Toleranz geprägt wäre. Wir hätten uns nie träumen lassen, dass eine so gebildete Nation wie Deutschland die Schreckenstaten des Mittelalters wiederholen und in ihnen versinken würde. Wir glaubten felsenfest, eine Figur wie Hitler habe überhaupt keine Chance. Eine Bücherwand im Wohnzimmer meiner Eltern enthielt ausschliesslich die grossen deutschen Klassiker. Konnte ein Mann wie Hitler etwas anderes sein als ein nebensächlicher Vorfall in der Geschichte Deutschlands ? Der Alptraum würde bestimmt bald zu Ende sein. Nicht nur die Juden waren davon überzeugt; die unmittelbaren Nachbarn, ja die ganze Welt dachten, Hitler wäre machtlos, solange ihn nur alle ignorierten. Mit der zunehmenden Verschlimmerung der wirtschaftlichen Krise, scheiterten die demokratischen Parteien an ihrer Aufgabe, der Bevölkerung wieder Hoffnung zu geben. Die einzigen, die eine Antwort für die Millionen von arbeitslosen und unzufriedenen Menschen bereit hatten, waren die Nationalsozialisten. Es war für Hitler demnach ein Leichtes, die Kontrolle über Deutschland an sich zu reissen.
Während den Nürnberger Prozessen hatte ich Gelegenheit, mich mit einem Sturmbandführer zu unterhalten, der dem SS-Geheimdienst in Budapest angehört hatte und als Zeuge der Staatsanwaltschaft diente. Er erzählte mir folgende Geschichte: «Im Oktober 1944 waren wir, d.h. fünf SS-Leute, zusammen mit Adolf Eichmann in einem SS-Kasino in Budapest untergebracht. Einer der jungen SS-Leute fragte, wieviele Juden vernichtet werden müssten. Eichmann antwortete ihm: «Ungefähr fünf Millionen.» Ein anderer erkundigte sich daraufhin zweifelnd, was denn nach dem Krieg passieren würde, wenn jemand das Verschwinden dieser Millionen von Menschen ansprechen würde. Eichmann schnalzte mit den Fingern und meinte: «Hundert Tote sind eine Katastrophe – eine Million sind nur noch eine statistische Zahl.» Er sollte recht behalten. Eine Million Tote, das übersteigt unser Fassungsvermögen. Das Tagebuch der Anne Frank hat einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen als die gesamten Nürnberger Prozesse, denn man konnte sich mit jeder einzelnen tatsächlichen Figur des Buches identifizieren. Die Leute konnten sich vorstellen, es sei «meine Schwester, meine Enkelin oder eine Freundin meiner Tochter» gewesen.
Im Laufe meiner Tätigkeit habe ich mich oft an die Worte von Eichmann erinnert. Ich habe alles unternommen, damit die unglücklichen Opfer nicht anonyme Zahlen in den Statistiken blieben, sondern wieder zu Menschen wurden, die jeder eine persönliche Geschichte besassen und mit denen wir uns identifizieren konnten.
Dass die Nazis nicht in grosser Zahl vor Gericht zur Rechenschaft gezogen wurden, lag in erster Linie am Kalten Krieg, der ab 1947-48 einsetzte. Seinetwegen erwies sich eine vertiefte Untersuchung aller Aspekte des Nationalsozialismus, seiner Folgen und Konsequenzen als unmöglich. Dies bedeutete auch, dass keinerlei Schutz sich gegen diese Art menschenfeindlicher Ideologie hat durchsetzen können und dass kein anderes System der Verteidigung aufgebaut wurde. Die jüngsten Entwicklungen (in Ruanda, in Ex-Jugoslawien usw.) haben die tiefgreifenden und dramatischen Folgen dieser Situation gezeigt. All diese Elemente haben bewirkt, dass letztendlich nur eine Gruppe als grosser Sieger aus dem Kalten Krieg hervorging, die Nazis !
Der Kalte Krieg, der ca. drei Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus begann, liess sowohl für Europa als auch für die gesamte Welt eine neue Gefahr entstehen: den Stalinismus. Stalin verschlang zunächst Osteuropa, bevor er seinen Appetit für das restliche Europa an den Tag legte. Diese im Osten entstandene echte Bedrohung veranlasste die westlichen Alliierten zu einem radikalen Wechsel in ihrer Einstellung gegenüber dem besiegten Deutschland und bewirkte eine fast allgemeingültige Amnestie für den Verlierer.
Während den zwölf Jahren des Kalten Krieges, der bis 1960 dauerte, schwieg sich die Justiz angesichts der Nazi-Verbrechen völlig aus. In dieser Epoche konnten zahlreiche Nazis ihre Verstecke in Deutschland und Österreich verlassen und nach Südamerika oder in verschiedene arabische Länder flüchten. Mit Hilfe illegaler Organisationen wie z.B. «Odessa», «Die Spinne» und «Sechs Sterne» konnten viele Nazis Deutschland und Österreich verlassen und somit einen gerichtlichen Prozess umgehen. Mit gefälschten Papieren, mit Geld und Visa versehen, die sie von Neonazi-Organisationen erhalten hatten, organisierten sie sich, um in den Genuss humanitärer Hilfe zu kommen oder die Unterstützung der Hilfsorganisationen der katholischen Kirche zu erhalten, um über Rom nach Südamerika zu gelangen.
Eine weiteres Hindernis bei meiner Arbeit und jeder gerichtlichen Verfolgung der Nazis bestand aus der Verwendung des Begriffs «Kriegsverbrechen» für die schrecklichen Greueltaten der Nazis. Die Benennung der von den Nazis begangenen Schrecken als «Kriegsverbrechen» kommt einer Verharmlosung der Greueltaten der Nazis gleich und verhindert das Verständnis der eigentlichen Natur der Vorgänge. Die Naziverbrechen besitzen in Wirklichkeit kaum eine direkte Beziehung zum Krieg. Während den Jahren 1942-43 erreichte die Zahl der in den Vernichtungslagern durchgeführten Morde ihren Höhepunkt, doch das erste Lager befand sich ungefähr 1000 km von der Front entfernt. Die Massenmorde, die in den Lagern durchgeführt wurden, standen in keinem Zusammenhang mit der direkten Entwicklung des Konflikts.
Nach Kriegsende wurden Militärgerichte und andere Gerichtshöfe ins Leben gerufen, um die Naziverbrecher zu verurteilen. Doch nur in Holland und Italien wurden eigentliche lebenslängliche Strafen verhängt. In den anderen Ländern beschränkten sich die Strafen auf 15 oder 20 Jahre Gefängnis. Das Verhältnis zwischen der Anzahl Opfer und der im Gefängnis verbrachten Zeit beträgt wenige Monate, einige Tage oder in gewissen Fällen nur wenige Minuten pro ermordetes Opfer.
So war beispielsweise Franz Novak, einer der Nazis, der dank mir vor Gericht gestellt wurde, für den Transport verantwortlich. Wie viele andere Kollaborateure, die Eichmann nahe standen, war er Österreicher. Ihm oblag die Verantwortung, die Juden nach Auschwitz und in die umliegenden Lager zu transportieren, in einer Zeit, da die Frequenz der Vernichtungen ein Maximum erreichte. Novak war für den Transfer von über einer Million Menschen zuständig, von denen nur ca. 35’000 überlebt haben. Nach mehreren Prozessen und Berufungsverfahren verurteilte ihn der Hohe Gerichtshof Österreichs schliesslich zu neun Jahren Gefängnis. Nachdem er zwei Drittel seiner Strafe abgesessen hatte, wurde Novak freigelassen. Nach meinen Berechnungen hat er für jeden ermordeten Menschen genau drei Minuten und fünfzehn Sekunden Freiheitsentzug erhalten !
Kann man dabei von einem gerechten Urteil oder gar von Gerechtigkeit sprechen ? In anderen Fällen, bei weniger wichtigen Nazis, die «nur für einige tausend Morde» verantwortlich waren, fielen die Strafen ähnlich aus, ihre Haft bestand aus einigen Stunden oder wenigen Tagen pro Opfer. Doch die Länge der Gefängnisstrafe ist in Wirklichkeit nicht so wichtig. Entscheidend ist das Urteil, was die Erinnerung angeht und die Verhinderung des Vergessens. Die Proteste, die gegen die Art der Verurteilung von Franz Novak laut wurden, haben ebenfalls für eine Belebung der Erinnerung gesorgt. Nur in den allerersten Jahren nach Kriegsende haben die Militärgerichte Todesstrafen oder lebenslänglichen Freiheitsentzug verhängt. Die von Zivilgerichten in Deutschland und Österreich ausgesprochenen Urteile waren das Ergebnis einer Diskussion von Geschworenen. In den meisten Fällen fielen sie völlig unbefriedigend aus und standen in keinem Zusammenhang mit dem Umfang der begangenen Verbrechen, ganz zu schweigen von einigen Freisprüchen, die aufgrund der Passivität der Staatsanwälte nie einem anderen Urteil unterzogen wurden.
Unser Jahrhundert war von Grausamkeiten und Brutalität gekennzeichnet, geprägt von Aggressivität und dem ständigen Wunsch zu töten. Alle Errungenschaften und Erfindungen unserer Industriegesellschaft, sowohl der Rundfunk, als auch das Fernsehen und die Informatik, werden eingesetzt, um bei den Benutzern das Gift des Antisemitismus zu verbreiten. Die Tätigkeit der extremen Rechten wird von Jahr zu Jahr intensiver. Obwohl die rein nationalsozialistische Ideologie nicht in allen Fällen vorhanden ist, besitzen doch Organisationen wie die «Republikaner» und die «Deutsche Volksunion» eindeutig von den Neonazis geprägte Merkmale.
Die demokratischen Parteien können, wie immer, nicht mit attraktiven Programmen für die Jugend aufwarten, wodurch sie sich deutlich von den rechts- oder linksausgerichteten Diktaturen unterscheiden. Wenn man die Jungen sich selbst überlässt, liefert man sie sozusagen in die Hände der Extremisten aller Ausrichtungen.
Die Österreicher und die Deutschen haben den Nationalsozialismus immer noch nicht abgeschüttelt, während sich die Länder des ehemaligen Ostblocks aus eigener Kraft vom Kommunismus befreit haben. In Österreich wurde jede Diskussion über die Verstrickung des Landes in den Nationalsozialismus von einer unglücklichen Erklärung der Alliierten aus dem Jahr 1943 unterbunden, die besagte, Österreich sei in Wirklichkeit «das erste Opfer des Nationalsozialismus» gewesen. Auch wenn diese Behauptung sich technisch auf das Land als solches anwenden liesse, können die österreichischen Bürger keinesfalls in die Gunst einer derartigen Bezeichnung kommen.
Ostdeutschland hat sich wiederum aufgrund seiner Zugehörigkeit zum sowjetischen Block aufgeführt, als ob es den Krieg gewonnen hätte, und zählte sich zu den Siegern. Man muss allerdings zugeben, dass in den vergangenen vierzig Jahren in Westdeutschland ein eindrückliche Zahl kritischer Arbeiten - Bücher, Filme und Fernsehsendungen - zum Thema Nationalsozialismus entstanden sind. Fast nichts dergleichen wurde in Ostdeutschland unternommen, wo die Propaganda jahrelang alles unternahm, um die Idee durchzusetzen, dass alle bedeutenden Nazis frei und unbehelligt in Westdeutschland und in der freien Welt lebten und sich kein einziger von ihnen in Ostdeutschland aufhielt. Dieses Bild wurde selbstverständlich auch zu internen Propagandazwecken verwendet, insbesondere in den Ländern, die von den Nazis besetzt worden waren und anschliessend dem Ostblock angehörten.
Doch kehren wir zum eigentlichen Ziel meiner Arbeit zurück. Dazu möchte ich wiederholen, dass ich immer gegen das Vergessen angekämpft habe. Meiner Ansicht nach ist es eine Pflicht unserer Generation und unsere grösste Verantwortung, alles zu unternehmen, um unseren Nachkommen das zu ersparen, was wir durchgemacht haben. Wenn wir etwas für die Zukunft tun können, dann sollten wir verhindern, dass die von den Nazis verübten Verbrechen nie vergessen werden. Man hat mir oft vorgeworfen, nach kranken Greisen zu suchen, die Naziverbrechen begangen oder sich im ganzen Reich als freiwillige Kollaborateure betätigt hatten. Ich denke, dass diese Kollaborateure, insbesondere in den baltischen Staaten, in der Ukraine oder in Weissrussland, fast noch schuldiger sind als die Nazis selbst.
Es stimmt in gewisser Weise, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Verbrechen ist. Wenn man zulässt, dass nach Verübung dieser Verbrechen genügend Zeit verstreicht, fühlen sich die Verbrecher in Freiheit und Sicherheit. Es ist unsere Aufgabe, dieses Gefühl der Sicherheit zu zerstören. Ich habe dies immer getan, denn es ist ein Weg, zu einer besseren Zukunft beizutragen. Ab heute sollte sich jeder Verbrecher darüber bewusst sein, dass unsere Welt so klein und überschaubar geworden ist, dass er sich nirgendwo mehr sicher fühlen kann.
Ich habe meine Arbeit immer als Warnung für zukünftige Verbrecher bezeichnet, die heute bereits geboren sind.
Wenn wir uns heute umschauen und junge Leute sehen, die ihre Freiheit und alle Vorteile unserer modernen Welt geniessen – ja, oft davon ausgehen , dass sie ein Recht darauf besitzen –, ist es natürlich an uns, ihnen zu sagen, dass es mit der Freiheit wie mit der Gesundheit ist: man schätzt ihren wahren Wert erst, wenn man sie verloren hat. Meine Generation hat diese Lektion unter grossen Schmerzen lernen müssen. Die Freiheit ist kein Geschenk des Himmels, wir müssen sie uns jeden Augenblick schwer erkämpfen.

*Simon Wiesenthal, der berühmte Nazi-Jäger, wurde am 31. Dezember 1908 in Buczacz in Galizien geboren. Er studierte Architektur in Prag und in Lemberg. Er verbrachte viereinhalb Jahre in diversen Konzentrationslagern. 1947 gründete er in Wien das bekannte Dokumentationszentrum, um die Nazis aufzuspüren und hat somit die Festnahme von 1’100 Nazis ermöglicht, die alle vor Gericht gelandet sind, unter ihnen auch Adolf Eichmann.