Die Hundert Tage Baraks
Von Emmanuel Halperin, unserem Berichterstatter in Jerusalem
Ehud Barak will seinem Namen Ehre machen: auf Hebräisch bedeutet Barak der Blitz. Er wurde gewählt, um «Frieden zu schliessen» - als Sieger gegen Netanyahu, dem man zu Unrecht Gleichgültigkeit, ja gar Feindseligkeit gegenüber den paradiesischen Vorspiegelungen der Normalität vorwarf – er braucht folglich einen Blitzfrieden. Einen Draufgängerfrieden. Nach hundertjährigem israelisch-arabischem Konflikt sollen seiner Meinung nach fünfzehn Monate ausreichen, um den Grundstein für eine friedliche Lösung zu legen. Dazu muss er innerhalb von hundert Tagen ein solides Fundament errichten, denn die Regeln in diesem Bereich sind bekannt: wenn eine neue Regierung Zeit verliert, zögert, den Anschluss verpasst, wird sie allmählich schwerfällig, ineffizient und verschläft letztendlich die grosse Aufgabe, die das Volk ihr übertragen hatte.
Hat aber das Volk wirklich von Barak verlangt, den gesamten Golan aufzugeben als Gegenleistung für einen kalten Frieden mit Damaskus ? Erwartet es wirklich von ihm, dass er in Gaza und Judäa-Samaria einen souveränen palästinensischen Staat anerkennt ? Ganz bestimmt nicht, und alles deutet darauf hin, wie ungemein vage, unentschlossen die öffentliche Meinung in Israel ist und wie sehr sie von Zweifeln geplagt wird. Dies hindert Ehud Barak jedoch nicht daran zu glauben, dass er von einem vielleicht kurzfristigen politischen Lichtblick profitieren kann, und dieser erfahrene Stratege geht davon aus, er habe keine andere Wahl als diesen Vorteil um jeden Preis zu nutzen, alles daran zu setzen, damit diese auf eine sowohl national als auch international günstige Lage zurückzuführende Schönwetterphase sich in einen strahlenden, beständigen und langfristigen Frieden verwandelt.
Sollte ihm dies tatsächlich vom Schicksal zugedacht sein – der Mann zu sein, dank dem der Frieden endlich Einzug hält – besitzt er kein Recht, es zu ignorieren, im Gegenteil, er muss alles unternehmen, damit dieses Schicksal sich erfüllt. Sein Vorgehen verdient unseren Respekt, denn es ist zweifellos auch untrennbar mit dem Konzept des Staatsmannes verbunden. Auch der Charakter, die Persönlichkeit spielen dabei eine Rolle: Barak hat sich auch in den schweren Stunden der Opposition, als er von seinen politischen Freunden angefochten wurde, immer als General des Sieges, als einen Mann gesehen und erwiesen, der es morgen schaffen wird, da er es schon gestern geschafft hat. Einige Spötter versehen ihn bereits mit dem Dreispitz Napoleons.
Dies alles erklärt die Eile der ersten Wochen, den ungestümen Reigen der Reisen und Begegnungen, die von Clinton bis Jelzin, von Mubarak bis Arafat reichten, lieber einmal zuviel als einmal zuwenig ; es erklärt aber auch den betonten Optimismus, die zur Schau getragene Aktivität, die nach allen Seiten verteilten Handschläge und Freundlichkeiten. Doch der Widerstand ist gross, und seine Gesprächspartner, die zu Beginn vielleicht sehr angetan waren, stellen nun einige einfache und entmutigende Fragen. Kein Problem, wir stehen erst am Anfang, sagt Ehud Barak, machen wir doch weiter.
Die politische Analyse des neuen Ministerpräsidenten beruht in erster Linie auf einer hellsichtigen Erkenntnis: in dieser Region der Welt zeigt niemand Erbarmen für die Schwachen, es heisst immer «vae victis», Unheil den Besiegten, und Israel darf sich, wie bereits Ben Gurion, Golda Meir oder Menachem Begin sagten, keine Niederlage erlauben, denn die erste würde auch die letzte sein, eine zweite Chance würden wir nicht erhalten.
Daraus folgt, dass es für Israel nicht ausreicht, einen starken Staat, eine solide Gesellschaft zu besitzen; diese Kraft muss offensichtlich sein, von weither sichtbar und diejenige der Nachbarn haushoch übertreffen. Der Frieden setzt folglich, paradoxerweise, eine grössere militärische Macht, modernere Waffen und daher höhere Ausgaben voraus. Dies hat Barak dem Präsidenten Clinton ausführlich dargelegt. Wenn Israel auf die Golanhöhen verzichten soll, um den Forderungen Syriens Folge zu leisten, wenn der grösste Teil von Judäa-Samaria an Arafat abgetreten werden muss, wenn Irak und Iran morgen Atomwaffen und andere nukleare Einrichtungen erwerben – wie dies zu erwarten ist, da Russland es ablehnt, seinen Technologietransfer einzuschränken –, ist es unerlässlich, dass unser Land seine Feinde auf überzeugende Weise abschrecken kann. Dies heisst mit anderen Worten, dass neben den sechzig in den Vereinigten Staaten für 2,5 Milliarden Dollar bestellten F-16, neben den drei U-Booten, von denen das erste, der Dolphin, im Juli geliefert wurde, sehr viel Geld nötig sein wird, um die nationale Verteidigung zu verbessern, ganz zu schweigen von den neuen Lösungen, die man anstelle der Truppenpräsenz und Warnvorrichtungen auf dem Golan und den Anhöhen Samarias wird finden müssen. Clinton hat für diese Anliegen viel Verständnis gezeigt, doch wird dies auch anhalten, wenn sich erweisen wird, dass der amerikanische Steuerzahler in den nächsten zehn Jahren wird dafür aufkommen müssen ? Die Fachleute gehen davon aus, dass die Ermittlung der neuen militärischen Bedürfnisse Israels, zu der die zivilen Kosten jedes territorialen Rückzugs kommen (insbesondere die Kompensationszahlungen an die Bewohner der jüdischen Siedlungen, die verlegt werden müssen), eine Verdoppelung der amerikanischen Unterstützung an Israel ergeben wird, die von drei auf sechs Milliarden Dollar jährlich steigen wird. Wird der Kongress dem zustimmen ?
Es muss hervorgehoben werden, dass dies in den Augen von Ehud Barak die absolut notwendige Grundlage für jeden Schritt auf eine friedliche Lösung hin darstellt. Ohne glaubwürdige Sicherheitsvorkehrungen – wie dies beispielsweise im Sinaï zwischen Ägypten und Israel der Fall ist – können die politischen Vereinbarungen, die einschneidende territoriale Zugeständnisse nach sich ziehen, nicht in die Realität umgesetzt werden. Zeugt es nicht von übertriebenem Optimismus, an die ausserordentliche Grosszügigkeit des einzigen möglichen Geldgebers zu glauben ? Denn die Europäische Union wird sich an diesen Kosten ganz bestimmt nicht beteiligen.
Ehud Barak möchte anschliessend die Verhandlungen mit Syrien und mit der palästinensischen Behörde gleichzeitig führen. Was Syrien anbelangt, haben Assad und seine Sprecher nach dem Austausch einiger belangloser Höflichkeitsfloskeln über einen «Neuanfang» und eine «einmalige Gelegenheit» kaum ein paar Wochen verstreichen lassen, bevor sie «bittere Enttäuschung» an den Tag legten, obwohl die neue Regierung andeutet, dass eine Abtretung des Golans ab sofort wahrscheinlich wird – nach der Zustimmung der Knesset mit qualifizierter Mehrheit und einem Referendum. Doch Assad versteift sich darauf zu verlangen, dass Israel sich zum Rückzug innerhalb der Grenzen vom 4. Juni 1967 und nicht innerhalb der internationalen Grenze verpflichtet, d.h. sozusagen eine Kontrolle Syriens über das Ostufer des Tiberiassees akzeptiert. Nach einer leichten Erschütterung scheint die Situation demnach wieder festgefahren zu sein. Merkwürdigerweise hat dies Herrn Baraks gute Laune nicht beeinträchtigt.
Die Palästinenser brauchten noch weniger Zeit um ihre Enttäuschung kundzutun. Sie hatten eine sofortige und umfassende Umsetzung der Abkommen von Wye Plantation, die von Netanyahu unter dem Druck der Amerikaner unterzeichnet worden waren, erwartet. Arafats Forderungen waren nicht unbegründet: vor und während der Wahlkampagne dieses Frühlings war es der Arbeitspartei in der Opposition ein Leichtes gewesen, die Likudregierung für den «üblen Trick» zu kritisieren, den man sich gegenüber den Palästinensern erlaubt hatte, d.h. die Nichtanwendung der Klauseln über die Abtretung von 27% der Gebiete Judäa-Samarias an Arafat. Netanyahu rechtfertigte sein Verhalten mit der Weigerung der Palästinenser, ihren Teil des Vertrags zu erfüllen, insbesondere die Bekämpfung des Terrorismus, die Reduzierung der unzulässig hohen Zahl von Soldaten in der palästinensischen «Polizei», die Beschlagnahmung illegaler Waffen, das Verbot, in den palästinensischen Schulen und in der Presse zum Hass gegen Israel und die Juden aufzurufen.
Doch die Opposition ging kaum auf diese Erklärungen ein, die sie für einen Vorwand und für ein Ausweichmanöver hielt. Und nun wird Barak kurz nach seiner Wahl bei Arafat vorstellig und verkündet, es wäre besser, mit der Anwendung der Abkommen von Wye wenigstens teilweise abzuwarten, um sie in die Verhandlungen über die endgültige Beilegung des Konflikts einzuschliessen. Der am weitesten «links stehende» Minister der Regierung Barak, Yossi Beilin, doppelte nach: das von Netanyahu unterzeichnete Abkommen, so der Justizminister, ist bei weitem nicht vollkommen, es sollte demnach nicht als unantastbar angesehen werden, denn das Wichtigste sei es doch, eine umfassende Einigung zu erzielen usw. Kommt überhaupt nicht in Frage, antwortet Arafat. Und der Präsident der palästinensischen Behörde erlaubt sich gar die Bemerkung, Barak sei genauso ein Lügner wie Netanyahu, wenn auch weniger elegant».
Was der Ministerpräsident nicht sagt, ist die Tatsache, dass die in Wye versprochene Abtretung der Gebiete (noch vor einer Gesamtvereinbarung, welche – so heisst es im Programm der Arbeitspartei – die Gründung eines Palästinenserstaates ermöglicht, ohne dass die PLO dabei auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge von 1948 verzichten muss) bedeutet, dass Israel nur noch über geringe territoriale Verhandlungsgrundlagen verfügt. Er versucht nun, den Rückwärtsgang einzulegen oder zumindest auf die Bremse zu treten, genau wie sein Vorgänger, und schon ist sein positives Image «eines Friedensmannes» in den Augen der propalästinensisch eingestellten angeschlagen. Einmal mehr wird deutlich, dass ein israelischer Staatschef, der unabhängig von seinem Wunsch nach Frieden in erster Linie die Interessen seines Landes zu wahren sucht, wenig Aussicht hat, vor den systematischen Verächtern der «israelischen Okkupation» Gnade zu finden.
Hundert Tage sind natürlich herzlich wenig, um die Maschine in Gang zu setzen, es ist jedoch ausreichend, um sowohl die Rechte als auch die Linke, um sowohl im Inland wie auch im Ausland zu enttäuschen.
Diejenigen, die Ehud Barak in Israel kritisieren und ihm das ankreiden, was sie seinen «Bonapartismus» nennen, ergehen sich noch nicht in der düsteren Vorahnung eines politischen Waterloos, doch sie erspähen bereits die ersten Anzeichen für ein sicheres Debakel.