Pflicht und Herausforderung
Von Roland S. Süssmann
Der Jahreswechsel stellt immer einen Moment dar, in dem Hoffnung und Furcht zusammentreffen. Ein Satz aus der Liturgie drückt diese feierliche Stimmung, die den aussergewöhnlichen Festtagen des jüdischen Kalenders innewohnt, auf gelungene Weise aus: «Es geht dahin, das Jahr und seine Leiden – willkommen dem neuen Jahr und seinen Verheissungen.»
Um die tiefere Bedeutung von Rosch Haschanah und allen Feierlichkeiten im Zusammenhang mit dem «Jüdischen Neujahr» besser zu begreifen, haben wir uns mit Rabbiner MOSCHE DAVID TENDLER unterhalten, einer der bedeutendsten rabbinischen Koryphäen der heutigen Zeit. Neben seinem enzyklopädischen Wissen auf dem Gebiet des Judentums ist Professor Tendler ebenfalls ein Biologe von internationalem Ruf.

Weshalb ist es in unserer Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts noch notwendig, Rosch Haschanah weiterhin zu feiern und dabei unser Gewissen jedes Jahr einer Prüfung zu unterziehen ?

Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten irrtümlichen Annahme gedenkt man an Rosch Haschanah nicht der Erschaffung der Welt, sondern des sechsten Tages der Schöpfung, an dem der Mensch entstand. Die grossen Theorien der Kosmogonie lassen uns folglich ziemlich unberührt, uns interessiert vielmehr, welche Botschaft die Schöpfungsgeschichte dem Menschen vermittelt, was diese aussagt und welche Verantwortung der Einzelne auf dieser Erde trägt. Wir leben heute in einer sehr eigenartigen, wenn nicht gar schizophrenen Zeit. So nahm ich, während im Kosovo und in Afrika Männer, Frauen und Kinder munter umgebracht wurden, an verschiedenen Konferenzen über die Ethik in der Medizin teil, an denen darüber diskutiert wurde, ob die Verwendung dieser oder jener Therapie empfohlen werden könnte, da sie vielleicht etwas enthalte, was auf moralischer oder ethischer Ebene verwerflich sein könne. Es wurde z.B. die Frage gestellt, ob eine befruchtete Eizelle schon Leben enthält und ob es sich bereits um ein menschliches Element handelt, während gleichzeitig einige Flugstunden entfernt Frauen vergewaltigt und massakriert wurden, worüber alle Bescheid wussten und wovor viele in fast allgemeiner Gleichgültigkeit die Augen verschlossen. Können wir wirklich in einer so verrückten Welt leben ? Doch nun naht Rosch Haschanah heran und gebietet Einhalt: STOP ! Es ist unmöglich, so zu leben. Ein Neues Jahr tut sich vor uns auf – unternehmen wir einen erneuten Versuch, denn das vergangene Jahr war kein sonderlicher Erfolg. Wiederum neigt sich ein Jahr dem Ende zu, in dessen Verlauf es auf der Welt zu so zahlreichen Zusammenstössen kam, dass wir gar nicht mehr über alle informiert sein können. Rosch Haschanah ist da, um uns in die Realität zurückzuführen und uns aufzurütteln, damit wir begreifen, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung darstellt. In diesem Zusammenhang gibt es einen wunderbaren Satz des Propheten Jesaja, der lautet: «Du hast mich zum Ersten und zum Letzten gemacht.» Der Midrasch erklärt uns die tiefere Bedeutung dieser Worte: «Wenn der Mensch sich anständig benimmt, ist er das höchste Wesen der Schöpfung. Er trat wie ein König in diese Welt ein, als die Erde, das Universum und die Tiere bereits zu seinem Empfang bereit waren. Wenn er sich aber hässlich aufführt, erinnert ihn G’tt daran, dass er ganz am Schluss erschaffen wurde, noch nach dem Regenwurm und der Wespe. Sie entstanden noch vor dir, weil ihr Verhalten würdiger ist als deines.» Rosch Haschanah weist uns darauf hin, dass wir uns einmal mehr nicht wie das höchste Wesen der Schöpfung aufgeführt, sondern schlimmer als ein Regenwurm verhalten haben. Kein einziges Tier hat je die Greueltaten begangen, derer der Mensch sich gegenüber seinen Nächsten schuldig erwiesen hat. Einige wenige Menschen sind natürlich verehrungswürdig und haben ein von Würde, Güte und Barmherzigkeit erfülltes Leben gelebt, doch die Welt legt im allgemeinen ein grausames und unwürdiges Verhalten an den Tag. In dieser Hinsicht möchte uns Rosch Haschanah zum Nachdenken anregen.

Sie sprechen von der Art und Weise, in der sich die Menschheit als Ganzes aufführt, und es stimmt, dass wir in einer sehr gewalttätigen Zeit leben. Es kann jedoch nicht behauptet werden, dass jeder Einzelne von uns persönlich ein Vergewaltiger oder Mörder ist. Im grossen und ganzen arbeiten die Leute doch, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihrer Familie ein anständiges Dasein zu bieten. Können Sie die Idee von Rosch Haschanah auch auf jedes Individuum anwenden, insofern sie heute noch eine Bedeutung für sie besitzt ?

Die Botschaft, die sich an die gesamte Menschheit wendet, betrifft natürlich jeden Einzelnen, und die anlässlich von Rosch Haschanah an ihn gestellte Frage lautet: «Verhältst du dich wie das höchste Wesen der Schöpfung ? Gleichen deine Tätigkeiten letztendlich nicht eher denjenigen des Tieres, das nichts anderes tut, als zu arbeiten und sich zu ernähren ? Inwiefern bist du durch deine Einstellung und deine Taten menschlich geworden ?» Seltsamerweise liegt die Antwort in der Art und Weise, in der wir uns ausruhen! So legt sich eine Kuh beispielsweise zum Wiederkäuen unter einen Baum, während ein Mensch, der dieser Bezeichnung würdig ist, Zerstreuung bei einer geistigen oder humanistischen Tätigkeit findet. Es geht natürlich nicht darum, acht Stunden täglich zu arbeiten, um abends nach dem Nachhausegehen… vor dem Fernseher zu sitzen, sondern seine Arbeit dazu zu verwenden, sich auf das Studium der Torah vorzubereiten oder seine Zeit humanistischen Tätigkeiten zu widmen. Für mich bedeutet «Studium der Torah» sehr viele Dinge, die unser Verhalten bestimmen: die Art und Weise, wie wir uns an unseren Partner oder an unsere Angestellten wenden, besagt eindeutig, ob wir uns wie ein Mensch oder wie ein Tier verhalten. Wenn ein Tier die Möglichkeit besitzt, eine andere Art zu beherrschen, so folgt es seinem Instinkt und tut es. Dies sollte beim Menschen nicht der Fall sein. Die Torah lehrt uns nämlich, dass ein Wesen umso schutzloser ist, je schwächer es ist, und desto stärker obliegt uns die Verantwortung, ihm zu helfen. So können nämlich eine Gesellschaft und das moralische Niveau einer Nation beurteilt werden, indem man die Art und Weise beobachtet, in der sie ihre schwächsten Mitglieder, die Kränksten und Ärmsten behandelt. Rosch Haschanah sagt uns: «Erinnere dich, ich habe dir eine Welt gegeben, die du in eine ideale Stätte für die Menschheit verwandeln kannst. G’tt sagt, ich kann es nicht tun, doch ich habe dir alle Mittel zum Erfolg gegeben: das Gute und das Böse.» Der Mensch hat demnach eine Aufgabe zu erfüllen. In unseren Gebeten für Rosch Haschanah erklären wir unter anderem, G’tt als unseren König anzuerkennen und anzunehmen. Hat er uns wirklich nötig, um gekrönt zu werden ? Natürlich nicht, doch durch diese Erklärung bestätigen wir, dass wir uns Ihm unterwerfen, d.h. mit anderen Worten Sein Wertsystem akzeptieren. In diesem Sinne versinnbildlicht Rosch Haschanah also die Bestätigung und die Wiederbelebung dieser Verpflichtung und dieser tiefen Beziehung, die in jedem Augenblick zwischen dem Menschen und dem Ewigen bestehen. Durch diese Verkündigung teilen wir auch G’tt mit, dass wir ihn zu unserem König haben wollen, nicht als König, der in seinem Palast bleibt, sondern der sich um uns kümmert, uns schützt und uns führt. Wir erinnern G’tt daran, indem wir ihm an Rosch Haschanah sagen, dass alle unsere Errungenschaften in Wirklichkeit wertlos sind und dass alles sich von einer Sekunde auf die andere ändern kann, dass wir ohne Seinen Schutz und Seine Hilfe alles verlieren können. Wir bringen dieses Bewusstsein in herrlicher und bewegender Weise im Gebet des «Sane Tokef» zum Ausdruck, das lautet: «G’tt entscheidet, wer leben und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit usw.».

Diese Bewusstwerdung und diese schönen Erklärungen besitzen natürlich grossen Wert, doch wie sind sie mit dem Konzept der «Teschuwah», des aufrichtigen Bereuens, zu vereinbaren ?

Das Konzept der Teschuwah ist einzigartig und nur im Judentum zu finden. Es handelt sich nämlich um die vollständige Aufhebung einer religiös und moralisch verwerflichen Tat durch die Vergebung. Dies betrifft natürlich nur die Verfehlungen, derer sich der einzelne Mensch in seiner Beziehung zum Ewigen schuldig gemacht hat. Ein Mörder kann soviel Reue zeigen wie er will, er entgeht dennoch nicht seiner Strafe, obwohl er die Möglichkeit hat, seiner Seele im Angesicht G’ttes Frieden zu geben. Damit die Reue wirklich aufrichtig, vollständig und für G’tt annehmbar ist, erfolgt sie in drei eng miteinander verbundenen und unzertrennlichen Abschnitten: die vergangenen Fehler zutiefst bereuen - d.h. sie zuzugeben - , zu beschliessen, diese Art zu handeln sofort einzustellen, sowie sich vorzunehmen, in Zukunft nie wieder rückfällig zu werden. Es ist also nicht mit einer Beichte zu vergleichen, die zur Absolution durch einen Geistlichen führen kann, sooft dies nötig ist, sobald ein Mensch seine Fehler einsieht. Nur der Ewige weiss, ob unsere Reue wirklich echt ist.
Der Jude steht allein vor seiner Verantwortung, den Konsequenzen, die sich aus seiner Bewusstwerdung ergeben, und den Vorsätzen, die er für die Zukunft fasst. Hier kommt der Begriff der individuellen Verantwortung in ihrem ganzen Ausmass zum Tragen.
Die Reue verkörpert den Moment der Wahrheit, in dem wir zugeben, dass unser Verhalten nicht demjenigen entsprach, das der Ewige von uns erwartet und fordert. Rosch Haschanah gliedert sich nahtlos in die Zeit ein, die der aufrichtigen Reue gewidmet ist, denn es ist in erster Linie das Fest der Bewusstwerdung und der Bekräftigung der Verbindungen und Beziehungen, die zwischen dem Menschen und G’tt bestehen. Diese beiden Elemente führen uns demnach direkt zur nächsten Etappe, in der wir uns verbessern, unsere Fehler ablegen und allen Handlungen entsagen wollen, die nicht dem göttlichen Wertsystem entsprechen, dem wir soeben Treue und Gehorsam gelobt haben. Wenn ich bestätige, dass ich auf G’tt zähle, damit er mich beschützt und darauf achtet, dass alles in mir reibungslos funktioniert, dass jede meiner Kapillaren und Arterien offen bleiben, will ich meine Beziehung zum Ewigen bekräftigen und verbessern, falls ich mir etwas habe zuschulden kommen lassen. Deshalb gewährt uns G’tt in seiner Barmherzigkeit einen «Rettungsring», die zehn Tage der Busse, in deren Verlauf wir unsere Fehler aufrichtig und schmerzlich bereuen können. Wir können natürlich zu jedem Zeitpunkt des Jahres Reue zeigen, doch unsere Weise sagen, dass G’tt in diesen zehn Tagen besonders empfänglich ist für unsere Zerknirschung. Es ist, als ob er sagte: «An Rosch Haschanah prüfe ich euch und an Jom Kippur urteile ich. Benutzt diese zehn Tage des Wohlwollens, damit eure Anwälte für euch arbeiten.» Die Anwälte sind unsere Taten des Glaubens und der Wohltätigkeit, die Mitzwoth.

Ihre Ausführungen beziehen sich auf gläubige bzw. die Religion praktizierende Menschen. Wie steht es um diejenigen unter uns, die weder das eine noch das andere sind ?

Glauben Sie, dass G’tt unsere Mitzwoth, unsere Glaubensbeweise braucht ? Absolut nicht. Alle Mitzwoth bezwecken nur eines: Regeln für das menschliche Verhalten zu schaffen. Darüber hinaus sind die Mitzwoth nicht aus einem einzigen Guss, bei dem alles oder nichts gilt. Der Ewige hat uns 613 voneinander unabhängige Mitzwoth gegeben. Derjenige, der 612 von ihnen erfüllt und nur eine auslässt, ist ungläubig, doch derjenige, der nur eine einzige ausführt, begeht eine gläubige Tat. Vergessen wir nicht, dass es verschiedene Arten von Mitzwoth gibt und dass derjenige, der wohltätig ist, seinem Nächsten beisteht, anständig zu seinen Angestellten ist und seine Umgebung mit Respekt behandelt, einen der 613 von der Torah vorgeschriebenen Glaubensakte durchführt. Die Zehn Gebote sind überdies so strukturiert, dass fünf von ihnen die Beziehungen zwischen G’tt und den Menschen betreffen, während die fünf anderen sich auf den Menschen und seinen Nächsten beziehen.

Welches ist in Ihren Augen die grösste Herausforderung, der das jüdische Volk heute bei der Vorbereitung seiner Zukunft gegenübersteht?

Die wichtigste Sorge, die unsere Verantwortlichen beschäftigt, ist meines Erachtens die Frage nach dem Überleben unseres Volkes. In dieser Hinsicht ist die Art der Beziehungen, welche das Verhältnis zwischen traditionellem Judentum und Reformbewegung prägen, von grundlegender Bedeutung, denn wir können es uns nicht erlauben diejenigen von ihnen zu verlieren, die echte Juden sind. Hitler hat uns zuviele Menschen geraubt ! Wir müssen uns anstrengen, einen Schritt auf die Reformbewegung zuzugehen und uns dabei auf Realitäten zu berufen, ohne dass die grundlegenden Fragen ausgeklammert werden. Die Situation ist recht schlimm, eine von der Reformbewegung selbst veröffentlichte Statistik über vier Generationen hat gezeigt, dass von 100 Juden, die der Reformbewegung angehörten, 11 Juden geblieben sind; von jeweils 100 Mitgliedern der Synagogen der konservativen Strömung identifizieren sich noch 37 Personen als Juden; von 100 orthodoxen Juden sind hingegen 961 Juden (9 mal mehr) ! Die Reformbewegung hat in ihrer Erklärung von Pittsburgh 1999 zugegeben, dass sie eine Rückkehr zur Tradition anregt, ohne jedoch bestimmte, ihr eigene Gewohnheiten aufzugeben, wie z.B. Heiraten zwischen Homosexuellen, gemischte Ehen usw. Wir müssen also ein Gespräch beginnen, damit die reformierten Juden in den Schoss des traditionellen Judentums zurückfinden. Sie besitzen die Kraft, die Mittel, die Intelligenz, den Erfolg und vor allem eine zahlreiche Bevölkerung, dank denen sie für die Zukunft des jüdischen Volkes eine entscheidende Rolle spielen können. Wir gehören hingegen zur aussterbenden Spezies und müssen alles unternehmen, um diejenigen unter uns zu retten, die es für eine gute Idee hielten, die Disziplin der Torah abzuändern. Die Zahlen und Statistiken beweisen, dass das Streben nach einer extremen Vereinfachung der religiösen Riten nur zum Verlust zahlreicher Glaubensbrüder geführt hat. Es ist höchste Zeit, diesem Ausbluten ein Ende zu bereiten. Das moderne orthodoxe Judentum hat zum grössten Teil entschlossen in der moderne Welt Einzug gehalten, ohne dabei die Regeln der jüdischen Gesetzgebung und die Traditionen aufzugeben. Erinnern wir daran, dass das jüdische Volk nach der Schoah 12,5 Millionen Menschen umfasste und dass diese Zahl bis 1996 unverändert geblieben ist. Eine Art, die sich nicht vermehrt, ist jedoch zum Aussterben verurteilt. Dazu haben wir nicht das Recht, und heute stehen wir stärker denn je vor der Herausforderung, uns mit den nichtorthodoxen Juden zu verstehen, um den Fortbestand unseres Volkes zu gewährleisten.

Denken Sie, dass Rosch Haschanah 5760 trotz des Umstandes, dass unser Kalender nichts mit dem Anbrechen des Jahres 2000 zu tun hat, in irgendeiner Weise vom neuen Jahrtausend beeinflusst sein wird ?

Auf religiöser Ebene bestimmt nicht. Dennoch denke ich, dass jedes Innehalten, jede Überlegung «was haben wir im Verlauf dieser 2000 Jahre erreicht, wie haben wir uns verhalten, wie haben wir in dieser Weise handeln können und was können wir von uns für das nächste Jahrtausend erwarten?» nützlich und wertvoll ist. Es ist vielleicht auch der Zeitpunkt gekommen, das Christentum, das während 2000 Jahren versucht hat, den Menschen mit den ihm eigenen Methoden menschlicher werden zu lassen und die uns bekannten Ergebnisse erzielt hat…, den 3500 Jahren Judentum und dem Leben gemäss der Torah gegenüberzustellen! Noch nie besassen wir so häufig wie jetzt die Gelegenheit, etwas zu erreichen. Wir besitzen das Privileg in einer Epoche zu leben, in der es dem Menschen gelungen ist, sich die Natur zu unterwerfen, was uns das Leben unsäglich erleichtert hat und uns von zahlreichen körperlichen Anstrengungen befreite. Folglich verfügt der Mensch über viel mehr Freizeit. Es drängt sich nun die Frage auf, sowohl für Rosch Haschanah 5760 als auch für das neue Jahrtausend, wie wir denn all diese Zeit verwenden werden, die uns geschenkt wird. Was können wir unternehmen, um das Schicksal unserer Mitmenschen zu erleichtern und den wunderbaren Titel Mensch und Krone der Schöpfung zu verdienen ?