Bereitschaft - Kompetenz - Hingabe
Von Roland S. Süssmann
Guy de Maupassant legte einer seiner zynischsten Figuren, Bel-Ami, folgende Worte in den Mund : „Ich hasse die Armut und die Krankheit… sie sind entwürdigend.“ Glücklicherweise sind nicht alle dieser Ansicht, und es gibt zahlreiche Männer und Frauen, die ihr Leben der Aufgabe widmen, das Schicksal der „Armen und Kranken „ zu mildern und zu verbessern. Dies war mein erster Gedanke, als ich in Paris eine bemerkenswerte Einrichtung besuchte, das CASIP, „Comité d’action sociale israélite de Paris“ (Israelitisches Komitee für Sozialarbeit in Paris), das täglich durch eine grosse Anzahl weitreichender Hilfsaktionen den vom Schicksal gebeutelten Menschen der jüdischen Gesellschaft in der französischen Hauptstadt Unterstützung und Hoffnung zukommen lässt.
Der im 20. Arrondissement befindliche Sitz des Verbands umfasst neben den Büros verschiedene Versammlungsräume, eine Tagesstätte, eine Ludothek, ein Freiluftzentrum, „Le Vestiaire“, und die Residenz Michel Cahen, ein Wohnheim für 41 geistig Behinderte. In diesen zweckmässig, jedoch nicht unfreundlich eingerichteten Räumlichkeiten wurden wir von GABRIEL VADNAI, dem Generaldirektor des CASIP und des Schabbat-Büros, sehr herzlich empfangen.

Können Sie Ihren Verband unseren Lesern kurz vorstellen ?

Das „Comité d’action sociale israélite“ von Paris ist die Nachfolgeorganisation der „Chewroth“, dieser jüdischen Solidaritätsvereine, die seit dem Mittelalter in allen Gemeinschaften der Welt existierten. Sie kümmerten sich jeweils um eine Stadt. Ihr Zweck war es, die härtesten Schicksalsschläge auszugleichen und die Begräbnisse zu organisieren, wie dies auch heute noch der Fall ist. Als Napoleon damit begann, die gesamte Verwaltung des Landes zu zentralisieren, betraf diese Bemühung auch die jüdische Gemeinschaft. Auf seine Anfrage wurde der Vorstand (Konsistorium) offiziell im Mai 1809 gegründet, und auch die sozialen Tätigkeiten wurden zusammengefasst. So schuf die jüdische Gemeinschaft das „Comité de secours de la ville de Paris“ (Hilfsausschuss für die Stadt Paris) ; eine seiner ersten Aktivitäten bestand darin, den Armen, die in die Stadt kamen, eine Bestätigung auszustellen, dass die jüdische Gemeinde für sie aufkommen würde. Diese von den Vorstandsmitgliedern verwaltete Organisation wechselte im Laufe des 19. Jhds. mehrmals den Namen. Das Konsistorium beschäftigte sich nämlich mit allem, was im weitesten Sinne mit Religion zu tun hatte (Herstellung der Matzoth, Beerdigungen, Synagogen, Schulen, jüdische Krankenhäuser usw.). Im Jahre 1905 trat das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat in Kraft, das es den religiösen Organisationen untersagte, andere Güter zu besitzen als das, was für den Gottesdienst bestimmt war. In der Folge kam es zur Aufspaltung von Wohltätigkeitsausschuss und Vorstand, doch die sozialen Dienstleistungen blieben weiterhin indirekt mit dem Vorstand verbunden. Heute sind wir ein unabhängiger Verband, der sich um alle Personen der Gemeinschaft kümmert, die soziale Hilfe benötigen. Unser Präsident, Eric de Rothschild, ist nicht Mitglied des Vorstands, doch in unserem Ausschuss sitzen ein oder zwei Miglieder, die den Vorstand vertreten.


Können Sie uns, bevor Sie uns die verschiedenen von Ihnen abgedeckten Sektoren der Unterstützung vorstellen, über die Art ihrer Finanzierung Aufschluss geben ?

Unser Budget beträgt ca. 38 Millionen Französische Franken. Zu einer bestimmten Zeit erhielten wir grosszügige Subventionen vom „Fonds Social Juif Unifié“, doch dieser steht vor zahlreichen Schwierigkeiten und hat aus diesem Grund seine Unterstützung massiv gesenkt. Da das CASIP bereits seit Jahren existiert, stammen ungefähr 50% unseres Einkommens von Menschen, die uns Schenkungen gemacht, Stiftungen gegründet oder uns in ihr Testament eingeschlossen haben (das CASIP verfügt über eine Beratungsstelle für die Verfassung von Testamenten und alle juristischen Fragen im Zusammenhang mit Hinterlassenschaften). Wir arbeiten eng mit dem öffentlichen Dienst zusammen und profitieren somit von einigen Subventionen, die aber insgesamt nicht von grosser Bedeutung sind. Bei unserer Integration in das Leben der Stadt spielen sie allerdings eine sehr wichtige Rolle. Ein Teil unserer Aktivitäten werden vom Staat bezahlt, doch in diesen Fällen werden die betroffenen Menschen direkt unterstützt und nicht das CASIP. Darüber hinaus kommt der Staat fast vollumfänglich für unsere Altersheime, unser Heim für geistig Behinderte, unser Sozialheim mit 74 Betten (provisorische Unterbringung für drei bis zwölf Monate von Menschen, die gesellschaftlich und beruflich wieder eingegliedert werden sollen) und unsere Tagesstätte auf.

DAS CADI
Ihre soziale Tätigkeit ist sehr weitreichend. Begegnen Sie dabei auch jüdischen Clochards oder Obdachlosen ?

Es geht hier um zwei klar abgegrenzte soziale Kategorien. Die Obdachlosen sind Menschen, die keinen Boden mehr unter den Füssen haben, regelmässig die Unterkunft wechseln, indem sie bei diversen Verwandten oder immer wieder in anderen Übernachtungszentren unterkommen. Sie haben eine eigene Lebensform gefunden und warten dabei auf bessere Zeiten. Die Clochards hingegen haben jeden Halt verloren und wissen daher auch nicht mehr, wer sie sind und natürlich auch nicht, dass sie Juden sind. Diejenigen, die sich an uns wenden, erinnern sich daran, dass sie Juden sind, und so können wir mit ihnen zu arbeiten anfangen. Dasselbe gilt für die Drogenabhängigen. Sie kommen zu uns, weil sie sich der Gemeinschaft irgendwie verbunden fühlen, und so können wir ihnen helfen.


Wer sind diese jüdischen Drögeler in Paris ?

Von diesem Phänomen sind alle Gesellschaftsschichten betroffen. Wir besitzen eine besondere Abteilung, das CADI, „Comité d’aide aux détenus israélites“ (Hilfskomitee für israelitische Häftlinge), das sich ursprünglich um jüdische Gefangene kümmerte. Ich denke dabei an die Epoche, als die meisten Häftlinge noch nicht drogenabhängig waren. Heute sind fast drei Viertel der Gefängnisinsassen drogenabhängig. Im Rahmen dieses Dienstes betreuen wir ehemalige Häftlinge und Menschen, die demnächst inhaftiert werden sollen. Die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Kriminalität und Drogen betreffen vor allem jüngere Leute zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Ich möchte hinzufügen, dass das CADI in bestimmten Fällen Rechtshilfe leistet, die sie mit jüdischen Rechtsanwälten abspricht.

DIE SOZIALDIENSTE

Der Hauptteil Ihrer sozialen Tätigkeit betrifft jedoch nicht die Personen ausserhalb von Familie und Gesellschaft. Welche anderen Hilfeleistungen erbringen Sie ?

Unsere Familienberatungsstelle kümmert sich um die tägliche Unterstützung und beschäftigt 19 Sozialarbeiter, welche die Familien empfangen, ihre Probleme ermitteln, ihnen finanzielle Hilfe zukommen lassen, falls dies notwendig ist, oder sie an die spezialisierten Stellen verweisen. Folgende Angaben vermitteln Ihnen eine Idee vom Umfang unserer Arbeit : unsere Telefonzentrale erhält ca. 300 Anrufe pro Tag und 1997 wurden 4192 Haushalte betreut, was bedeutet, dass für 9856 Menschen etwas unternommen wurde! Im Verlauf desselben Jahres haben wir 700 neue Anfragen in den unterschiedlichsten Bereichen registriert, darunter Arbeitslose, Personen in finanziellen Schwierigkeiten mit chronischer Verschuldung und geringem Einkommen, Alleinerziehende usw. Je nach Bedarf sorgen wir für Unterstützung bei den Nahrungsmitteln (Gutscheine für Metzgereien, Tickets für Sozialrestaurants usw.), Budgetzuschüsse, um die Strom- oder Heizungsrechnung zu bezahlen, Notunterkünfte, Wohnungshilfe oder Schulgeld u.a. Es kommt vor, dass dieselbe Familie Unterstützung für Nahrungsmittel, für Miete und einen zusätzlichen finanziellen Zuschuss braucht. In bestimmten Fällen beteiligen wir uns auch an den Begräbniskosten. Der Sozialarbeiter des CASIP unterscheidet sich von seinen Kollegen in anderen wohltätigen Organisationen, da er die Umgebung des von ihm unterstützten Menschen mit einbezieht, sowohl die Lebensumstände als auch die Familie und die kulturellen und religiösen Besonderheiten. Wir gehen davon aus, dass man einer Familie nicht helfen kann, ohne die Beziehungen zur Gemeinschaft ihrer Herkunft und zum Aufnahmeland zu berücksichtigen. Auf diese Weise können wie Freiwillige einsetzen, die mit der Situation der betroffenen Familie vertraut sind und so viel wirksamer eingreifen können.
Es ist ebenfalls interessant zu wissen, dass ein weiterer wichtiger Posten in unserem Budget die Ferienbeihilfe ist. Dies mag auf den ersten Blick zweitrangig erscheinen, doch wir haben hier ein doppeltes soziales und auch erzieherisches Ziel vor Augen. Die Kinder aus Familien, die vom CASIP betreut werden, sollen die Möglichkeit erhalten, die Sommerferien mit der Familie oder in einem Gemeinschaftszentrum zu verbringen. Wir leisten dadurch vorbeugende Arbeit, denn die Jugendlichen hängen in dieser Zeit nicht in den kritischen Quartieren herum, lernen das Familienleben ausserhalb des alltäglichen schwierigen sozialen Umfelds kennen und schliessen Bekanntschaften in einem weniger problematischen Milieu.
Eine weitere Tätigkeit, die direkt in unseren Räumlichkeiten stattfindet, nennt sich „Le Vestiaire“ (Garderobe). 1997 haben wir 2864 Menschen, darunter 1429 Kinder von Kopf bis Fuss eingekleidet (einschliesslich Hand- und Badetüchern, Schlafsäcken usw.). Die Kleider werden von jüdischen Herstellern kostenlos zur Verfügung gestellt oder von Mitgliedern der Gemeinschaft abgegeben ; diese gebrauchten Kleider werden von uns zunächst gereinigt und danach verteilt.
An dieser Stelle möchte ich hervorheben, dass unsere Familienstelle sich nicht um alleinstehende Menschen kümmert, die von einer speziellen Organisation der Gemeinschaft betreut werden, mit der wir zusammenarbeiten, falls dies notwendig ist. Wir verfügen jedoch über eine Stelle für Soforthilfe, die sich SEPIA nennt.

SEPIA
Wie funktioniert diese Stelle  ?

Diese Abteilung schufen wir 1992 auf Anregung und dank der Grosszügigkeit von Samuel Amaraggi ; daher wird sie neben der Abkürzung auch „Fonds Amaraggi“ genannt.
Die Dienstleistungen von SEPIA, „Service d’entraide aux personnes âgées, isolées ou malades“ (Hilfsorganisation für alte, einsame oder kranke Menschen) werden in der Regel von alleinstehenden Personen in Anspruch genommen, die in ihrer Einsamkeit nach Kontakten suchen. Diese Begegnungen sind für uns oft eine Gelegenheit soziale Not zu entdecken, über die sonst geschwiegen würde. Die Menschen, die sich an SEPIA wenden, möchten nicht von einem Sozialarbeiter aufgesucht werden, sondern bitten vielmehr um eine kleine Dienstleistung, wie beispielsweise die Lieferung von Mahlzeiten nach Hause oder Hilfe, wenn sie sich irgendwohin begeben müssen. Die Verantwortlichen von SEPIA haben sich also zum Ziel gesteckt, in erster Linie Menschen zu helfen, die vorübergehend behindert oder krank sind oder für kurze Zeit zu Hause Hilfe brauchen und nicht mit der Unterstützung der Sozialhilfe rechnen können. Seine Tätigkeit könnte folgendermassen zusammengefasst werden : Begleitung bei einem Gang zur Bank oder zum Arzt, Lieferung von Mahlzeiten (streng koscher), Beistand beim Verkehr mit den Ämtern, Organisation des täglichen Lebens (Einkäufe, Korrespondenz usw.). Die Organisation verfügt selbstverständlich über eine vom CASIP unabhängige Telefonberatung.

DAS SCHABBAT-BÜRO
Sie haben das „Schabbat-Büro“ erwähnt. Worum handelt es sich genau und wie funktioniert diese Einrichtung ?

Wir sind das grösste Arbeitsvermittlungsbüro einer religiösen Gemeinschaft in ganz Europa, da wir im Durchschnitt 1500 Personen pro Jahr vermitteln, obwohl noch viel mehr Anfragen bei uns eintreffen. Wir befassen uns als Vereinigung demnach ausschliesslich mit Stellenvermittlung. Das soziale Kriterium kommt nicht zum Tragen, doch wenn eine Schwierigkeit dieser Art auftritt, wenden sich die Verantwortlichen des Büros zunächst an das CASIP, bevor sie sich um die berufliche Frage kümmern. Das Schabbat-Büro kennt eine statutarische Auflage, die verlangt, dass alle angebotenen Arbeitsplätze am Schabbat und an jüdischen Feiertagen freigeben. Diese Bedingung stellen wir jedem potentiellen Arbeitgeber, sei er nun Jude oder nicht. Es kommt auch vor, dass nichtjüdische Unternehmen mit uns Kontakt aufnehmen. Wir bieten somit eine sehr weitreichende Unterstützung an, die vom praktischen Beistand über das gesamte Verfahren von Werbung und Einstellung bis zum Verfassen eines Lebenslaufs und der Vermittlung von kleinen Ferienjobs für junge Leute reicht. Einmal pro Jahr führen wir eine grosse Werbekampagne mit dem Titel „Doppelter Einsatz für Arbeit“ für das Schabbat-Büro durch.

Glauben Sie nicht, dass es für einen Arbeitslosen am allerwichtigsten ist, eine Arbeit zu finden, damit er seine Familie in Würde ernähren kann, auch wenn er dazu am Schabbat arbeiten müsste ?

Jedermann kann dies frei entscheiden. Das Schabbat-Büro besitzt eben seine statutarische Forderung, die es verpflichtet, nur Arbeitsplätze zu vermitteln, an denen der Schabbat und die jüdischen Feiertage eingehalten werden können. Wenn jemand um jeden Preis arbeiten will, ohne die religiösen Vorschriften zu befolgen, kann er sich jederzeit an eine andere Arbeitsvermittlung wenden.

Das CASIP hilft tatkräftig allen, wie wir sehen, die sich ihm hilfesuchend zuwenden. Wieviele Personen arbeiten ganztags, und in welchem Ausmass können sie auf freiwillige Mitarbeiter zählen ?

Ungefähr 70 Personen sind ganztags angestellt, wir können uns auf ca. fünfzig freiwillige Mitarbeiter stützen und wir arbeiten auch mit freiwilligen Organisationen zusammen. Man muss aber einräumen, dass es weniger Freiwillige gibt als früher. Dies rührt vor allem daher, dass immer mehr Frauen beruftstätig sind und daher keine Zeit für diese Tätigkeit mehr haben. Für die Ausbildung der Freiwilligen ist innerhalb unserer Organisation der SEPIA zuständig.


Neben den Aktivitäten, die wir kurz angesprochen haben, unterstützt das CASIP die Hilfebedürftigen noch in manch anderer Form. Abschliessend soll unbedingt unterstrichen werden, dass die meisten Menschen, die sich an das CASIP wenden, nicht nur Hilfe suchen, weil sie sich in einer schwierigen Situation befinden, sondern auch, weil sie eine Verbundenheit mit der Gemeinschaft verspüren und ihre Probleme „innnerhalb der Familie“ lösen möchten. In diesem Sinne übernimmt das CASIP die Betreuung der Menschen und bringt damit letztendlich nur dieses alte jüdische Motto zur praktischen Anwendung, das lautet : „Kol Israël arevim ze baze“ - Ganz Israel ist füreinander verantwortlich !