Die Welt der Formen öffnet sich den Blinden | |
Von Judy Siegel-Itzkovitch * | |
Ein Unternehmen in Jerusalem hat ein System ausgearbeitet, dank dem Sehbehinderte Illustrationen auf einem Computerbildschirm „fühlen“, alphabetische Texte „lesen“ und sogar Computerspiele bedienen können. Die Wahrnehmung, die ein blinder Mensch heute von der ihn umgebenden visuellen Welt hat, beschränkt sich auf die Information, die er in Braille-Texten, auf Kassettenaufnahmen oder auf Computer finden kann, deren Klangkarte die Brailleschrift in Sätze verwandelt, die von einer künstlichen Stimme ausgesprochen werden. Diese Instrumente vermitteln den Blinden jedoch nur eine sehr eingeschränkte Kenntnis ihrer Umwelt. Sie sind beispielsweise nicht in der Lage, ein Foto oder ein Gemälde wahrzunehmen oder gar selbst ein grafisches Bild zu schaffen.
So war es jedenfalls bis jetzt. Heute, fast 170 Jahre nach der Erfindung durch Louis Braille der ertastbaren Buchstaben und der nach ihm benannten Blindenschrift, hat eine noch junge Firma, VIRTOUCH Ltd, das erreicht, was viele andere erfolglos versucht hatten: die Produktion eines Hardware-Software-Pakets (Maschine + Programme), das den Sehbehinderten ermöglicht, eine Grafik am Bildschirm zu „fühlen“, jeden alphabetischen Text eines Internetprogramms zu „lesen“ und sogar mit Computergames zu spielen. Vater dieser Erfindung ist Dr. Igor Karasin, der Direktor der Abteilung Forschung und Entwicklung (F&E) von Virtouch. Diese erst zweijährige Firma hat vom Industrie- und Handelsministerium eine Subvention von $ 250’000 erhalten und kam in den Genuss einer Risikokapital-Invesition von $ 75’000 der Gruppe Newton aus Tel Aviv. Dr. Igor Karasin, der aus Lettland stammt, jedoch in St. Petersburg aufgewachsen ist, wo er Computerwissenschaften lehrte, bevor er sich in Israel niederliess, ist einer der Gründer des Unternehmens. Virtouch liegt bei Jerusalem in der Industrieregion von Har Hotzwim, der „Software-Brutstätte“ (wo sich 16 andere junge Unternehmen im Bereich Forschung-Entwicklung befinden), hat den Durchbruch geschafft und ist mit ihren vier Angestellten zu einem richtigen Unternehmen geworden. Art Braunstein hingegen gehört nicht zu den technischen Mitarbeitern. Er besitzt ein Diplom der hebräischen Universität und ist für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Nachdem er sich von einer Karriere beim amerikanischen Aussenministerium vor zwei Jahren, in deren Rahmen er in zahlreiche Länder reiste - nach Vietnam, Senegal, Niger, Mali, Ägypten und Tunesien -, frühzeitig zurückgezogen hat, wanderte er nach Israel aus. Virtouch möchte sein Grundmodell verbessern und Ende 1999 die Produktion von Hunderten von Systemen starten, wozu es zusätzliche Mitarbeiter wird einstellen müssen. Die Virtual Touch System (VTS) genannte Technologie beruht auf einem grossformatigen Gehäuse, das einer Maus gleicht, auf das man drei Finger einer Hand legt (mit Ausnahme des Daumens und des kleinen Fingers). Jeder Finger berührt 32 abgerundete Nadeln, die in einem Viereck angeordnet sind vier Nadeln horizontal, acht vertikal ausgerichtet. Darüber hinaus ermöglichen sechs Knöpfe eine direkte Interaktion mit dem Bildschirm. Wenn der Benützer (auch wenn er gut sieht) seine Finger zum ersten Mal auf das Gehäuse legt und den Cursor einen Text oder eine Grafik entlang laufen lässt, ist er zunächst verwirrt. Ein Teil der Plastiknadeln stehen ein Maximum hoch, andere sind nur zur Hälfte draussen, während man die restlichen nicht einmal erfühlen kann. Sobald man aber versucht, über eine Grundfigur wie eine Diagonale, einen Kreis oder ein Viereck zu fahren - und mit der Zeit über komplexere Formen wie z.B. eine Karte von Israel, ein Fussballfeld oder eine Zeichnung von Picasso -, begreift man ihre Bedeutung. Die Sehbehinderten, welche die Brailleschrift lesen, besitzen in der Regel sehr sensible Finger. Daher sind sie sehr viel schneller als Sehende in der Lage, grafische Bilder oder Buchstaben zu schaffen. Früher oder später ist es ein Kinderspiel für sie, indem sie sich der unterschiedlichen Höhe der Nadeln bedienen, vier Schattierungen - schwarz, dunkelgrau, hellgrau und weiss - herzustellen. Führt man die Maus auf die Buchstaben und Zahlen, sieht man deutlich die Vertiefungen und Erhöhungen auf dem Nadelviereck erscheinen, das auf diese Weise drei Buchstaben gleichzeitig darstellt. Dr. Igor Karasin betont, dass das Team die Form der Maus zunächst für Kinder und Linkshänder anpassen wird und dann vorhat, andere Elemente des Tastsinns einzuschliessen, wie Temperaturunterschiede in der Handfläche, damit die Benutzer die „warmen“ (wie z.B. Rot) und „kalten“ (wie Blau) Farben „sehen“ können. Die VTS Technologie, die in Zusammenarbeit mit zahlreichen Sehbehinderten und Blinden in Israel und im Ausland entwickelt wurde, eröffnet diesem Teil der Bevölkerung auf diese Weise eine ganze Palette von Berufen, die ihnen bis anhin verschlossen waren, so beispielsweise im Bereich der Elektronik, der Informatik, des Zeichnens und der darstellenden Künste. Nach Schätzungen des Unternehmens wird der Kaufpreis des Systems zunächst ca. 4000 - 4500 Dollar betragen, und es hofft, diesen Betrag auf $ 3000 senken zu können, wenn die Produktion 40’000 Einheiten pro Jahr erreicht hat. Die potentielle Kundschaft ist sehr gross: in der westlichen Welt leben ungefähr 17 Millionen Blinde, davon allein 15’000 in Israel (2’000 von ihnen sind Kinder und Jugendliche). 500 israelische Sehbehinderte arbeiten in der Informatikindustrie, und Dr. Igor Karasin ist der Ansicht, dass diese Zahl schnell ansteigen wird, sobald das Produkt seiner Firma zur Verfügung steht. Das VTS System ersetzt oder ergänzt, je nach Beruf und Lebensweise des Benutzers, die Apparate, welche die Brailleschrift übersetzen. Das nationale Versicherungsinstitut, das in bestimmten Fällen den Kauf von spezialisierten Apparaten für Sehbehinderte finanziert, dürfte die $ 4’000 für den Erwerb eines VTS Systems als gute Investition ansehen, da es den Benutzern die Möglichkeit gibt, ansptuchsvollere Jobs mit hohem Einkommen zu finden, unterstreicht der Direktor der F&E-Abteilung der Firma. Dank dieser Technologie können Blinde sogar chemische und mathematische Formeln mit Hoch- und Tiefzeichen „lesen“, sowie geometrische Kurven und Formen, was ihnen mit den herkömmlichen Methoden nicht gestattet war. „Der grösste Teil des Marktes wird sich jedoch ausserhalb unserer Grenzen befinden und von den Vereinigten Staaten bis nach Japan reichen“, fügt Dr. Igor Karasin hinzu. Die Gesellschaft hat in verschiedenen europäischen Ländern Patentierungsanträge für ihr System eingereicht. Als sie im vergangenen Juli das VTS dem nationalen Blindenverband in Dallas sowie im Oktober an der Ausstellung „Closing the Gap“ in Minneapolis vorführte, wurden die Vertreter von Virtouch von Reaktionen überflutet, erzählt Karasin. Aryeh Gamliel, Berater im Erziehungsministerium für den Bereich der Blinden, der selbst zu den Betroffenen gehört, ist von dieser Erfindung sehr angetan. „Ich benutze oft den Computer, bei der Arbeit und auch zu Hause. Ich bin sehr beeindruckt von den beständigen Bemühungen, die unternommen werden, um die Blinden bei allen Aspekten des Prozesses miteinzubeziehen. Diese echte Sorge um diejenigen, die letztendlich das Produkt verwenden werden, ist sehr selten und lässt daher die grössten Hoffnungen zu. Die Schnittstelle Virtouch besitzt die potentielle Fähigkeit, den Blinden andere Bereiche der Informatik zugänglich zu machen. Ich verfolge mit gespanntem Interesse die Entwicklung des Produkts und warte sehr hoffnungsvoll auf die Resultate.“ Schmouel Retby, 49 Jahre alt und blind, arbeitet seit langem als Programmierer für das Justizministerium im Bereich Informatik. Er kannte keine Probleme, bis das ursprüngliche Computersystem, das mit einer Optocon-Linse verbunden war, um ihm den Text am Bildschirm verständlich zu machen, durch ein PC-Netzwerk ersetzt wurde (Mikrocomputer). Man erwarb in der Folge für ihn einen sehr kostspieligen neuen Apparat namens Papenmayer Braillex 40, dank dem er weitere 3 oder 4 Jahre „überleben“ konnte. „Dann erhielt ich von einem privaten Spender einen Stimmsynthesizer DecTalk, mit dem ich die Spitze des Programmierens durch Blinde in diesem Land erreichte. “Doch sein Büro führt jetzt das Betriebssystem Windows 95 mit hochentwickelten grafischen Elementen ein, so dass die VTS Technologie zu seiner grössten Hoffnung wird, in diesem Beruf weitermachen zu können. Dr. Hanan Yaniv, Abteilungschef für die Anpassung von Computertechnologien am College für pädagogische Ausbildung in Tel-Haï, war nach seinem Besuch bei Virtouch sehr beeindruckt. „Die Tatsache, eine Form und nicht nur einen Text am Bildschirm fühlen zu können, bietet denjenigen, deren Wahrnehmung sich bis jetzt auf die lineare Schrift beschränkte, ungeahnte Zukunftsperspektiven. Die Erweiterung durch eine grafische Schrift ist allein schon sehr bedeutungsvoll. Die Blinden werden konzentriertere, reichhaltigere und verständlichere Informationen erhalten können, als dies bisher mit verbaler Information möglich war.“ Obwohl die VTS Technologie den Blinden ermöglicht, gewöhnliche Computerprogramme einschliesslich der Vergnügungssoftware zu benutzen, hat die Gesellschaft bereits einige Computerspiele speziell für Sehbehinderte entwickelt, z.B. ein Schiessspiel. „Ein Training dieser Art wird ihre Geschicklickeit verbessern“, bemerkt Art Braunstein. Die Bemühungen von Virtouch F&E konzentrieren sich zwar hauptsächlich auf die Blinden, doch der Direktor dieser Abteilung sieht bereits den Tag kommen, an dem diese Technologie auch von den Sehenden verwendet wird, um ihren Tastsinn zu verbessern und Mitteilungen - beispielsweise über den Rücken - zu bekommen, während ihre Finger anderweitig beschäftigt sind. „Ein VTS System könnte zum Beispiel in wissenschaftlichen Museen eingesetzt werden, damit die Leute besser verstehen, was sie mit den Fingern erfühlen“, gibt Igor Karasin zu bedenken. Auch Piloten und Autofahrer könnten mit dem Rücken oder den Armen Kontakt zu Nadeln haben, die sie notfalls auf Gefahren aufmerksam machen, ohne dass sie dazu die Steuerinstrumente loslassen müssen. |