Hebräische Manuskripte aus dem Mittelalter in der British Library | |
Von Philip Vann * | |
Illuminierte Manuskripte aus dem Mittelalter sind von Hand geschriebene Bücher, die mit leuchtenden Farben und Edelmetallen, mit Gold oder Silber, verziert wurden. Zahlreiche Exemplare christlicher und islamischer Werke haben die Jahrhunderte unbeschadet überdauert, was für illuminierte hebräische Manuksripte viel seltener der Fall war. Einige wunderschöne Stücke können in der British Library in London bewundert werden. Diese ehrwürdige Institution, die bis zum vergangenen Jahr in einem Flügel des British Museum untergebracht war, ist in ein grandioses neues Gebäude umgezogen, das ihr im Norden von London zur Verfügung gestellt wurde. Die dort befindliche Galerie John Ritblat besitzt einige der schönsten illuminierten Manuskripte der Welt, darunter auch eine herrliche Sammlung von illustrierten Bibeln, Haggadoth und Gebetbüchern in Hebräisch.
Beim Entdecken dieser alten hebräischen Manuskripte, die von den sephardischen Schriftgelehrten mit Schilfhalmen und von den aschkenasischen Schreibern mit Gänsefedern auf heute brüchiges oder durch die Jahre und die Abnützung fleckig gewordenes Pergament oder Velin geschrieben wurden, steigen tiefe Emotionen auf. Ein derartiges Manuskript in den Händen zu halten, stellt eine bewegende Erfahrung dar. Mir wurde in der Abteilung Indien und Orient der British Library das Privileg zuteil, die spanische Bibel des Herzogs von Sussex durchblättern zu dürfen. Dieses aus Katalonien stammende Werk aus dem Ende des 16. Jahrhunderts besitzt einen doppelseitigen Vorsatz, auf dem die Gerätschaften des Tempels abgebildet sind, darunter eine Menorah, verschiedene Instrumente für die Wartung der Lampen, die Bundeslade, der Tisch mit den Schaubroten mit den zwölf Laiben und eine entzückend naive Darstellung des Ölbergs, der die messianische Hoffnung symbolisiert. Die aussergewöhnliche bildliche Macht dieser geprägten und vergoldeten Illustrationen auf gewürfeltem Hintergrund wird noch erhöht durch die Tatsache, dass sie hier fast wie greifbare, dreidimensionale Gegenstände erscheinen, vor allem wenn sie bei jeder Bewegung des Lesers zu schimmern beginnen. Diese Werke sind so eindrücklich, weil sie darüber hinaus seltene und kostbare Überlieferungen von lange untergegangenen historischen Gemeinschaften sind; im oben zitierten Fall beschwören sie eine versunkene Welt herauf, diejenige der reichen Sepharden, die im 14. Jahrhundert (vor den gewaltsamen Angriffen von 1391, denen das jüdische Judentum zu Opfer fiel, und natürlich vor der grossen Vertreibung aus Spanien) um Barcelona herum lebten. Zahlreiche spanische Juden nahmen ihre hebräischen Bücher, die ihnen ans Herz gewachsen waren, mit und brachten sie nach Italien und in andere Länder. So gelangte die spanische Bibel des Herzogs von Sussex letztendlich in die Sammlung eines Sohnes von George III. von England, bevor sie 1844 vom British Museum erworben wurde. Dr. Christopher de Hamel, Spezialist für illuminierte Manuskripte bei Sotheby’s in London und Verfasser bedeutender Bücher auf diesem Gebiet, erwähnte mir gegenüber die einzigartigen Eigenschaften des hebräischen Manuskriptes: „Bücher besitzen in der jüdischen Kultur einen unschätzbaren Wert, sie sind absolut grundlegend. Selbst auf einer mittelalterlichen Karikatur oder auf einer respektvolleren Darstellung wird der Jude immer mit einem Buch in der Hand gezeigt. Da Bücher bewegliche Habe sind, nahmen die Juden sie überall hin mit, was auf den Büchern natürlich Spuren hinterliess ! Einige hebräische Manuskripte befinden sich durch die Abnützung in einem extrem schlechten Zustand und wurden mit den Namen unzähliger aufeinanderfolgender Besitzer versehen. Die Juden wurden am Ende des 13. Jhds. aus England, ab 1492 aus Spanien und Portugal vertrieben, so dass ihre Bücher später in Nordafrika oder im Mittleren Osten wieder auftauchten ; sie folgen auf diese Weise den Irrwegen ihrer Besitzer durch die Länder und die Jahrhunderte.“ Dr. de Hamel betonte ebenfalls, dass die Sammler christlicher Manuskripte es vorziehen, diese in unbeschädigtem und makellosem Zustand zu besitzen, während die Liebhaber hebräischer Werke gerade die abgenutzen Exemplare schätzen, die immer und immer wieder gelesen wurden. Dr. de Hamel wies auch darauf hin, dass die aus dem Mittelalter stammenden hebräischen Manuskripte in der Regel „nicht so reich illuminiert und verziert sind wie die Werke der christlichen Tradition der westlichen Welt. Ein frommes christliches Buch ist meistens vollständig mit Illustrationen versehen, denn die Christen besassen weniger Hemmungen angesichts der Bebilderung ihrer Bücher. Auch der finanzielle Aspekt spielte eine Rolle, da die Illuminierung eines Werks eine sehr kostspielige Angelegenheit war. Die Juden befanden sich immer auf der Reise und massen in erster Linie dem Text Bedeutung bei. Die hebräischen Texte sind deshalb wahrscheinlich genauer als die lateinischen Schriftstücke. Sie fallen oft durch eine herrliche Kalligraphie auf, wohingegen die Qualität christlich-westlicher Manuskripte sehr unterschiedlich ausfallen kann.“ Da es im Hebräischen keine Grossbuchstaben gibt, pflegten die Künstler ganze Wörter oder gar Anfangssätze zu vergrössern und zu illuminieren, während man sich in lateinischen Texten damit begnügte, die Anfangsbuchstaben zu verzieren. Man kann sich die jüdischen Gelehrten jener Zeit gut vorstellen, wie sie diese vergoldeten Zeichen bei Tageslicht oder im flackernden Schein einer Kerze betrachteten: sie mussten ihnen wie erleuchtet erscheinen vom Wort G’ttes. In vielen hebräischen Manuskripten setzte man die Mikrographie geschickt ein, die Kunst, je nach Thema eine Zeichnung mit Hilfe langer, gewundener Textzeilen in winzigen Buchstaben zu bilden; ein Ausschnitt der biblischen Exegese wurde beispielsweise in der Form von Jonas im Bauch des Walfisches dargestellt. Die Namen zahlreicher Schriftgelehrter, Autoren und Mäzene der hebräischen Manuskripte sind uns bekannt (die Schriftgelehrten unterzeichneten oft ihr Werk), die Illuminatoren hingegen blieben, mit wenigen Ausnahmen, meistens anonym. Viele von ihnen waren nämlich nichtjüdische Künstler, die in Werkstätten des jeweiligen Hofes oder der Kirche arbeiteten. Die hebräischen Manuskripte wurden zwar von der traditionellen jüdischen Ikonographie inspiriert, doch sie unterlagen auch dem nachhaltigen Einfluss der Kultur des Gastlandes und des unmittelbaren Umfeldes. So wurde das erste Wort des Deuteronomiums im deutschen Pentateuch des Herzogs von Sussex, das um das Jahr 1300 im Süden Deutschlands entstand, das Wort Elèh, auf einem Hintergrund von Glasfenstern, Türmen und gothischen Kirchturmspitzen gezeichnet. In der Goldenen Haggadah (um das Jahr 1320 in Nordspanien, wahrscheinlich in Barcelona hergestellt) erkennt man unter dem illuminierten hebräischen Wort Matzah (ungesäuertes Brot) eine grosse, runde Matzah, deren goldene und sehr komplexe Ornamentverzierung stark an eine islamische Arabeske erinnert. Die am üppigsten verzierten alten hebräischen Manuskripte sind die Haggadoth. Dank den im Verlauf von Jahrhunderten während den Sedernächten hinterlassenen Weinflecken werden die Illustrationen, die dadurch teilweise verdeckt werden, paradoxerweise noch verschönert. Diese zerlesenen, doch sorgfältig (trotz so vieler misslicher Umstände) aufbewahrten Werke symbolisieren in gewisser Weise die eigentliche Botschaft von Pessach: sie verkörpern den gemeinsam zurückgelegten geistigen Weg, die Standhaftigkeit und die Erlösung. Zwei bemerkenswerte Haggadoth der British Library verdienen es, an dieser Stelle erwähnt zu werden. Die Goldene Haggadah ist eines der ältesten illuminierten spanischen Manuskripte, die uns überliefert wurden. Dem Text gehen vierzehn ganzseitige Miniaturen voraus - vier Darstellungen der biblischen Szenen der Genesis und des Exodus auf jedem Blatt, wobei die letzte Seite die rituellen Vorbereitungen zum Pessachfest zeigen. Die Zeichnungen im französischen gothischen Stil scheinen eindeutig von zwei verschiedenen Künstlern zu stammen, wobei der zweite sich als geschickter erwies als der erste. Wie auf diesen Illustrationen ersichtlich ist, wurden das höfische Leben und dasjenige des Volkes in zeitgenössischem, stilisiertem Realismus auf goldenem Grund dargestellt. Die Haggadah von Barcelona, die ca. zwanzig Jahre nach der Goldenen Haggadah in derselben Stadt hergestellt wurde, verbindet Text und Illustrationen in einem Stil, der im allgemeinen mit den aschkenasischen Haggadoth in Verbindung gebracht wird. Sie bildet das Ritual eines bereits modernen Seders ab: der Vater, links im Bild, bricht die Matzah, die Mutter, rechts, versteckt ihren Teil. Um diese rührende Familienszene und um den Text herum (in der Art der lateinischen Stundenbücher) befinden sich eine Fülle von pflanzlichen und tierischen Abbildungen, die manchmal unsinnig und grotesk erscheinen: man erkennt einen Hasen, der ins Horn bläst, und einen Reiter auf einem Hahn. Diese Haggadah ist nicht nur unglaublich geistreich und eindrücklich, sondern auch von häuslicher Innigkeit und hat zweifellos zahlreiche Sederabende mit besonderer Freude erfüllt. Der Autor möchte sich bei Ilana Tahan von der British Library und bei Dr. Christopher de Hamel von Sotheby’s, London, für ihre wertvolle Hilfe bei seinen Nachforschungen bedanken. *Philip Vann ist Kunstkritiker und Schriftsteller in England. |