Überleben
Von Roland S. Süssmann
Die jüdische Präsenz in Rumänien ist bereits sehr alt. Einige Experten gehen davon aus, dass Rumänien die erste Station der Juden war, die unmittelbar nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 vor unserer Zeitrechnung vor den römischen Horden flüchteten. Heute leben zwischen 13'000 und 14'000 Juden in Rumänien und ihre über das ganze Land verstreuten Gemeinden sind in einem Bund zusammengeschlossen, die eine herausragende Persönlichkeit leitet; es handelt sich um Professor NICOLAE CAJAL. Professor Cajal ist Facharzt für Virologie, Mitglied des Vorstands der Akademie und Präsident des Ärzteverbands und daher von jedermann und in allen Bereichen sehr geschätzt. Mit 77 Jahren hat er beschlossen, den grössten Teil seiner Zeit dem Wohlergehen der jüdischen Gemeinde zu widmen. Professor Cajal hat uns mit grosser Herzlichkeit in seinem Präsidentenbüro in den Räumlichkeiten der Gemeinde empfangen, die unmittelbar neben der Grossen Synagoge von Bukarest liegen.


Können Sie uns mit wenigen Worten die jüdische Gemeinde Rumäniens im Jahr 1998 beschreiben?

Vor dem Zweiten Weltkrieg umfasste die jüdische Gemeinde Rumäniens fast 800'000 registrierte Mitglieder. Nach dem Krieg waren es noch 400'000 und heute sind wir auf eine sehr kleine Gemeinde zusammengeschmolzen. Im letzten Jahr waren in unseren Registern ca. 13'000 Namen verzeichnet, und ich denke, heute müssen es ungefähr 14'000 sein. Ich bin aber überzeugt, dass es in Wirklichkeit mehr sind und vielleicht noch tausend weitere Juden hier leben, die nicht eingeschrieben sind. Als wir nämlich Suchmeldungen im Hinblick auf die namenlosen Vermögenswerte in der Schweiz ausschrieben, meldeten sich innerhalb einer Woche 360 Juden, die nie in einer Gemeinde registriert gewesen waren. Unsere Situation wird dadurch besonders erschwert, dass die meisten unserer Mitglieder, d.h. 70% unserer Gemeinde, über 65 Jahre alt sind. Nur 800 Juden sind zwischen 0 und 35 Jahre alt. Sie können sich lebhaft vorstellen, dass unsere Zukunftsaussichten aufgrund des hohen Alters unserer Gemeindemitglieder und der Tatsache, dass wir pro Jahr 300 bis 400 Todesfälle zu verzeichnen haben, eher düster ausfallen. Vernünftigerweise gehe ich davon aus, dass in 15 bis 20 Jahren keine Juden mehr in Rumänien leben werden. Ich glaube nicht an Wunder, und ich denke nicht, dass sich die Juden eines Tages wieder in grosser Zahl hier niederlassen werden. Interessanterweise kann man feststellen, dass das jüdische Leben trotz des stark reduzierten Umfangs unserer Gemeinde heute intensiver und vielseitiger ist als vor dem Krieg, als wir noch 800'000 Seelen zählten. Es scheint in der Tat paradox, dass die Aktivitäten der Gemeinde mit abnehmender Zahl der Juden verstärkt werden. Auf kultureller Ebene beispielsweise besitzen wir eine bemerkenswerte Zeitung auf hohem Niveau, "Realitatea Evreiasca", die von unseren Mitbürgern sehr gern gelesen wird. Sie trägt in weitem Ausmass zu einem besseren Verständnis zwischen unserer Gemeinde, der Bevölkerungsmehrheit und anderen Minoritäten bei, doch ich muss gestehen, dass wir auch dessen ungeachtet ausgezeichnete Kontakte zu diesen Gemeinschaften haben.


Wie steht es um den Antisemitismus ?

Ich lehne meinerseits den Gedanken entschieden ab, dass es in Rumänien Antisemitismus gibt. Es gibt natürlich einzelne Menschen, die antisemitisch eingestellt sind und es ist bedauerlich, dass es immer mehr werden, doch es gibt eigentlich keine massive oder gewalttätige judenfeindliche Aktivität in Rumänien.


Ihre Überzeugung, es gebe zwar Antisemiten, aber keinen Antisemitismus, scheint nur schwer verständlich und annehmbar. Könnten Sie Ihre Sicht der Dinge etwas genauer ausführen und erklären ?

Im allgemeinen ist das rumänische Volk nicht judenfeindlich und wir können es daher nicht als Ganzes des Antisemitismus anklagen. Wie überall gibt es hier allerdings Antisemiten, auch wenn ihre Zahl in Rumänien recht gering ist. Im Verlauf der letzten Jahre kam es zu keinem einzigen gewalttätigen Vorfall, es wurde kein einziges Mahnmal oder Gebäude zerstört. Die rechtsradikalen Nationalparteien sind in ihren antisemitischen Veröffentlichungen zwar sehr aktiv, und so bekämpfen wir sie auf dieser Ebene.


Wie denn?

Ich denke, dass die Menschen in Rumänien vor allem aus Unwissen, Einfachheit und mangelnder Bildung antisemitisch sind. Der Idee des Antisemitismus stelle ich die Idee des "Realsemitismus" gegenüber. Dieser Begriff wurde von mir erfunden und beschreibt den Kampf gegen den Antisemitismus mit Hilfe von Bildung, Unterricht und Wissen. Ich setze also alle meine Kräfte ein, um den jüdischen Beitrag zur Evolution der Menschheit bekannt zu machen. Nehmen wir doch ein Beispiel aus meinem Fachbereich, der Virologie. Zahlreiche bedeutende Entdeckungen und Erfindungen wurden von Juden gemacht, ich denke dabei insbesondere an Kinderlähmung, Hepatitis, Tollwut usw. Das Ziel des "Realsemitismus" ist es folglich, die jüdischen Realitäten zu zeigen, vor allem über erzieherische Aktivitäten. Im Rahmen unseres Verlags "Hasefer" haben wir 84 Bücher herausgegeben, die sich mit diesem Thema befassen. Die Titel reichen von "Die jüdischen Maler rumänischer Abstammung" über "Der Beitrag der Juden zur rumänischen Industrie" bis zu "Der Beitrag der rumänischen Juden zu Kultur und Zivilisation" usw. An jedem Sonntagmorgen organisieren wir öffentliche Vorträge, deren Themen sich entweder mit dem Judentum im allgemeinen, oder mit dem Beitrag der Juden zu Wissenschaft, Kultur und Zivilisation beschäftigen. Wir greifen nie direkt ein und wir lassen uns auch nicht auf öffentliche Debatten mit offensichtlich antisemitischen Volkstribunen ein, wie z.B. Vadim Tudor, der immer wieder sagt: "Ich bin nicht antisemitisch, aber ich hasse die geschäftetreibenden und mafiaorganisierten Juden. Ich mag aber die intellektuellen Juden in Rumänien." Von solchen Reden lassen wir uns natürlich nicht hinters Licht führen. Als optimistischer Charakter bin ich davon überzeugt, dass wir es mit dem "Realsemitismus" schaffen werden, den Antisemitismus mit der Zeit zu bekämpfen. Das rumänische Volk besteht aus einer Bevölkerung, die gern liest, und meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Es stimmt, dass unsere Veranstaltungen von zahlreichen nichtjüdischen Intellektuellen verfolgt werden, dass der Abonnentenkreis unserer Zeitung fast mehr Nichtjuden als Juden umfasst und dass unsere Bücher innerhalb von 3 bis 4 Wochen nach ihrer Veröffentlichung ausverkauft sind. Ich habe demnach einige gute Gründe zu glauben, dass mein Projekt des "Realsemitismus" seine Früchte tragen wird.


Denken Sie nicht, dass die schwierige Wirtschaftslage Rumäniens vielmehr die Entwicklung einer antisemitischen Aktivität begünstigen wird, unabhängig davon, dass die Juden in allen Bereichen Herausragendes geleistet haben ?

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, denen wir zur Zeit gegenüberstehen, stellen zwar nicht für die Juden, aber für die Demokratie eine echte Gefahr dar. Die ökonomischen Probleme sind keine Quelle für Antisemitismus, da es sich um Fragen allgemeiner Art handelt, wie die um sich greifende Korruption oder die extreme Armut.


Sie sprechen von "Armut". Wie sieht die Situation der Juden aus ?

Wir sind eine alternde, jedoch keine senile Gemeinschaft. Die älteren Menschen leiden folglich sehr unter ihrer Armut. Dank der bedeutenden Unterstützung des amerikanischen "Joint" sind wir in der Lage, das schwere Los unserer Glaubensbrüder zu erleichtern, die dadurch etwas weniger schlecht leben oder überleben als der Rest der Bevölkerung. Wir entfalten eine grosse medizinisch-soziale Tätigkeit und verfügen über eine Polyklinik, die ausschliesslich Juden offensteht, sowie über ein Netz von Arztpraxen und drei Altersheime in Bukarest, Arad und Timisoara. Ausserdem kommen regelmässig amerikanische und israelische Ophtalmologenteams (es besteht eine ausgezeichnete wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den israelischen Universitäten, dem Institut Weizmann und den rumänischen Fakultäten) für zweimonatige Aufenthalte nach Rumänien, um grauen Star, Glaukome usw. zu operieren. Auf diese Weise können wir die tägliche Mühsal unserer Glaubensbrüder etwas lindern, die insgesamt in grosser Not leben.


Gibt es in Rumänien noch zahlreiche jüdische Ärzte ?

Leider nicht. Im Gegensatz zur früheren Situation studieren heute nur noch ein oder zwei junge Leute Medizin. Im übrigen ist fast das gesamte Personal im Rahmen unserer sozio-medizinischen Aktivitäten nichtjüdisch.

Professor Nicolae Cajal ist sich der Tatsachen sehr wohl bewusst, mit denen die jüdische Gemeinde in Rumänien heute zu kämpfen hat. Mit recht beschränkten Mitteln kann er vieles verwirklichen, doch leider beschränkt sich die Haupttätigkeit der Gemeindeinstitutionen heute darauf, die Armut von fast 50% der jüdischen Bevölkerung in den Griff zu bekommen und sie zu lindern zu versuchen. Wird es ihm durch seine Art, den Antisemitismus zu bekämpfen, indem er in gewisser Weise versucht den Nutzen der Juden für das Gemeinwohl und ihren ausserordentlichen Beitrag zum Aufschwung Rumäniens zu beweisen, gelingen die Juden zu retten, wenn die Lokalbevölkerung sie angreifen will, weil sie davon ausgeht, dass sie für die katastrophale Wirtschaftslage des Landes verantwortlich sind ? Dank seinem unerschütterlichen Optimismus hat Professor Cajal beschlossen, daran zu glauben.