Zeugnis der First Lady Israels I.E. Sarah Netanyahu | |
Von Roland S. Süssmann | |
Eine Woche, bevor Israel sein Staatsjubiläum feierte, beging das gesamte Land wie jedes Jahr "Yom Haschoah", den Gedenktag für die von den Deutschen und ihren aktiven und stillschweigenden Komplizen getöteten sechs Millionen Juden, vom denen anderthalb Millionen erst Kinder waren. Dieses Jahr jedoch erhielt "der Marsch der Lebenden", der sich in Form einer Prozession von Krakau nach Auschwitz begibt und an dem jeweils Tausende von jungen Leuten aus aller Welt teilnehmen, eine ganz besondere Bedeutung. Die 7000 Jugendliche umfassende Delegation wurde nämlich von S.E. Benjamin Netanyahu, dem israelischen Ministerpräsidenten, und seiner Gattin, sowie von einer bedeutenden Abordnung von Ministern und einem Ehrenkommando der drei Waffengattungen der Armee angeführt.
Um einen detaillierten Bericht über diese aussergewöhnliche Reise zu erhalten, haben wir ein exklusives Gespräch mit Frau SARAH NETANYAHU, der "First Lady" von Israel geführt, die einen grossen Teil ihrer Familie in der Schoah verloren hat. Können Sie uns in wenigen Worten die Geschichte Ihrer Familie erzählen und uns von ihrem Schicksal während der Schoah berichten ? Mütterlicherseits stammen wir aus Russland ab, wobei ich der siebten Generation angehöre, die in Israel lebt; daher sind wir eigentlich echte Palästinenser. Die Familiengeschichte meines Vaters ist ebenfalls von grosser Bedeutung und beweist, dass in Wirklichkeit viel mehr Juden hätten gerettet werden können. Mein Vater liess sich 1933 allein als Jugendlicher in Palästina nieder. Als er Warschau verliess, begleitete ihn die gesamte Familie in Tränen aufgelöst an den Bahnhof und beschwor ihn mit folgenden Worten, nicht fortzufahren: "Auch wenn wir das Geld für das Zugbillett verlieren, fahr nicht fort; du wirst dort allein in der Wüste leben, bleib doch bei uns !". Dies war das letzte Mal, dass mein Vater seine Familie sah, die vollständig vernichtet wurde und von der keine Spur übrigbleibt. Niemand weiss, wo und wie seine Angehörigen ums Leben kamen. Wir erfuhren von einigen Überlebenden, die meinen Grossvater, seinen Bruder, seinen Sohn und einen Neffen gesehen hatten, dass sie während des ganzen Krieges von einem Polen versteckt worden waren. Als sie hörten, die russische Armee sei schon ganz nah, kamen sie aus ihrem Versteck heraus, doch sie wurden von einem Polen gesehen. Dieser holte die flüchtenden Deutschen ein und sagte ihnen: "Da sind noch einige Juden, die ihr nicht getötet habt". Trotz der heranrückenden russischen Streitkräfte kehrten die Deutschen zurück und ermordeten meinen Grossvater, meinen Onkel, seinen Sohn und seinen Neffen. Dies ist der einzige Augenzeugenbericht, den wir über die Art und Weise besitzen, wie meine Familie umkam. Als Kind wuchs ich also ohne Grossvater und Grossmutter väterlicherseits auf, übrig blieben einzig die Geschichten dieser hingemordeten Familie. Mein Vater, der Bibellehrer Schmuel Ben Arzi, ist auch Schriftsteller und Dichter. In seinem letzten Gedichtband veröffentlichte er mehrere Hymnen zur Schoah. Im vergangenen Jahr hat mich der Verband israelischer Dichter anlässlich von Yom Haschoah gebeten, einige seiner Gedichte vor Publikum vorzulesen, und dieses Jahr hat mein Mann auf unserer Polen-Reise eines seiner Werke in der Synagoge von Warschau vorgetragen. Es war ein tief bewegender Augenblick. Hatten Sie Polen vor Ihrer Teilnahme am "Marsch der Lebenden" bereits besucht ? Wenn nicht, könnten Sie uns Ihre Gefühle vor Ihrer Abreise beschreiben ? Ich war noch nie in Polen gewesen und hatte immer gedacht, ich würde nie in dieses Land reisen müssen. Ich trat die Reise demnach mit einer gewissen Furcht an. Ich hatte dasselbe in bezug auf Deutschland empfunden, doch ich war gegen meinen Willen gezwungen gewesen, aus Pflichtgründen und zu beruflichen Zwecken das Land aufzusuchen. Die Situation war in Polen trotz allem ganz anders. Die Tatsache, dass meine Familie von hier stammte und hier ermordet worden war, erfüllte mich mit tiefer Traurigkeit. Ich konnte mir ausserdem nicht vorstellen, wie ein Jude diesen Boden betreten kann, der noch heute von der Asche der Nazi-Opfer bedeckt ist. Ich konnte mich auch nicht daran hindern zu denken, dass die Nazis ihre Verbrechen nur deshalb so leicht in Polen begehen konnten, weil man sie hier kräftig unterstützte... Welches waren Ihre allerersten Eindrücke bei Ihrer Ankunft ? Wir landeten in Krakau und fuhren direkt nach Auschwitz. Die ganze Strecke bis dorthin war von blau-weissen Fahnen mit dem Davidstern gesäumt. Ich sass an der Seite meines Mannes in der offiziellen Limousine und wurde den Gedanken nicht los, wie "absurd" doch diese Situation irgendwie war. Ich, Sarah, Ehefrau des israelischen Ministerpräsidenten, der das jüdische Volk vertritt, fuhr umgeben von unserer Nationalflagge auf einer polnischen Strasse ! Da spürte ich in mir das Gefühl des Sieges des Überlebens des jüdischen Volkes, gleichzeitig aber auch eine überwältigende Traurigkeit. Ich empfand wie nie zuvor das Ausmass der Katastrophe, die unser Volk heimgesucht hatte. In Polen wurde mir stärker als irgendwo sonst bewusst, wie sehr die Wiederauferstehung des jüdischen Staates einem Wunder gleicht. Ich sagte mir auch, wie falsch - wenn nicht gar zynisch - es doch ist, den jüdischen Staat als etwas anzusehen, "das man uns schuldig ist". Ab und zu sollten wir uns daran erinnern, wo wir vor fünfzig Jahren, vor allem in Polen, standen. Sie sind also der Ansicht, der "Marsch der Lebenden" sei an sich eine gute Sache, obwohl dadurch die Juden veranlasst werden, nach Polen zurückzukehren ? Ich glaube, dass die Erinnerung, der Besuch der KZs, das Gespräch mit den Überlebenden, die heute nur noch vereinzelt unter uns sind, ein Muss für jeden jungen Israeli und jeden jungen Juden überall auf der Welt darstellen. Wir müssen uns immer an die Asche erinnern, aus der wir uns erhoben haben. Ist ein Besuch in der Gedenkstätte Yad Vaschem Ihrer Ansicht nach nicht ausreichend ? Yad Vaschem ist ein sehr bewegender und eindrücklicher Ort. Ich bin tatsächlich der Meinung, dass jeder Israeli, jeder nach Israel reisende Jude oder Nichtjude diesen Ort der Erinnerung aufsuchen sollte. Ich denke allerdings nicht, dass ein Besuch in Yad Vaschem mit einer "Pilgerfahrt" nach Auschwitz oder in ein anderes Todeslager verglichen werden kann. Erst in Polen, wenn man an dem Ort steht, wo die Tragödie stattfand, kann man den Umfang dessen ermessen, was sogenannte "Menschen" anderen Menschen angetan haben. Erst in Auschwitz erkennt man wirklich das Ausmass der Tragödie angesichts der Berge von Haaren, Bürsten, Koffer usw. Sie sagten, Sie seien mit dem Wissen um die Schoah erzogen worden. Wann werden Sie mit Ihren Kindern darüber sprechen ? Dieses Jahr hat mein ältester Sohn, der sechs Jahre alt ist, zum ersten Mal in der Schule davon gehört. Seine erste Frage, als er nach Hause kam, lautete: "Warum hatten wir keine Armee, um die jüdischen Opfer zu verteidigen ?" Ich habe ihm geantwortet: "Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn damals gab es niemanden auf der ganzen Welt, der uns verteidigte oder uns half, denn niemand kümmerte sich um das Schicksal des jüdischen Volkes. Wir besassen weder einen Staat noch eine Armee. Heute haben wir einen Staat und eine Armee, und wir setzen alles daran, dass sich eine derartige Tragödie nicht noch einmal ereignen kann". Ich erinnere mich daran, dass Ihr Gatte nach Auschwitz gefahren ist, als er noch israelischer Botschafter bei der UNO war. Nun ist er als Ministerpräsident des jüdischen Staates dorthin zurückgekehrt. Denken Sie, dass diese Reise und die Tatsache, dass er sie als Träger dieses wichtigen Amtes erlebte, ihn besonders berührt hat und dass er sie während der schwierigen Verhandlungen, die er gegenwärtig führt, vor Augen haben wird ? Ja, ganz bestimmt. Er ist gefühlsmässig stark von unseren Erfahrungen in Polen beeinflusst worden. Was meiner Familie zugestossen ist, geht ihm sehr nahe, und ihm sind die tiefen Empfindungen, die er im Verlauf dieser Pilgerfahrt fühlte, sicher nicht fremd. Ich versichere Ihnen, dass diese Reise für beide von uns sowohl auf moralischer, gefühlsmässiger und auch körperlicher Ebene sehr schwierig und sehr anstrengend war. Jedermann, der sich an diese Orte begibt, kann seine dort empfundenen Gefühle weder vergessen, noch verdrängen. Man muss sich klar machen, dass es ein sehr tiefgreifendes Erlebnis darstellt. Ist man einmal in Auschwitz gewesen, ist es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, zu verstehen, was dort wirklich passiert ist. Es übersteigt jedes logische Vorstellungsvermögen. Sehen Sie, bis zu dieser Reise hatte ich von den Ereignissen der Vergangenheit immer nur von anderen gehört. Es war nicht immer einfach, doch es blieb trotz allem etwas Abstraktes. Heute muss ich damit leben, dass diese Realität stärker denn je in mir präsent ist. Ich bin davon überzeugt, dass jeder, der die Lager besucht hat, mit anderen Wertvorstellungen und Grundsätzen zurückkehrt. Zwei weitere Aspekte haben mich besonders erschüttert. Einerseits die Tatsache, dass unser Volk wirklich knapp davor stand, für immer ausgelöscht zu werden, und andererseits das bewusste Wahrnehmen, dass die Gefahr immer noch vorhanden ist. Selbst wenn es heute dank einem starken Israel keine aktive Verfolgung mehr gibt, dürfen wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Die Gefahr ist noch nicht gebannt. Wir müssen uns mehr denn je daran erinnern, was geschehen könnte, wenn wir weder einen Staat noch eine Armee besässen, um uns zu verteidigen. Wir haben kein Recht zu vergessen, dass während der Schoah niemand auch nur das geringste zu unserer Rettung unternommen hat, und dass uns auch in Zukunft kein Mensch helfen wird, wenn wir nicht in der Lage sind, dies selbst zu tun. Werden Sie nach dieser so intensiven Erfahrung jetzt in Israel ein besonderes Programm für den Unterricht in bezug auf die Schoah lancieren ? Ein derartiges Programm existiert bereits, es wird vom Erziehungsministerium geleitet; ich denke nicht, dass das Büro des Ministerpräsidenten oder ich selbst in diese Aktivität eingreifen können. Anlässlich aller meiner öffentlichen Auftritte werde ich jedoch die Schoah erwähnen, und ich denke, dass der Ministerpräsident und ich selbst uns ab sofort stärker in den Programmen und Aktivitäten im Zusammenhang mit der Schoah engagieren werden. Es ist von höchster Bedeutung, dass wir den Bürgern von Israel zeigen, wie wichtig die Information über und die Erinnerung an die Schoah für uns sind und wie sehr auch ihnen dies am Herzen liegen sollte. Wenn Sie gestatten, wechseln wir jetzt das Thema und sprechen ein wenig von der Art und Weise, wie Sie ihre Rolle als "First Lady" erfüllen. Hätten Sie es sich als Studentin träumen lassen, dass Sie einst für diese Aufgabe ausgewählt werden würden ? Während meiner Jugend dachte ich nicht an diese Frage. Heute gehe ich tatsächlich davon aus, dass mir eine Aufgabe übertragen wurde, und ich tue mein Bestes, um sie sowohl in Israel als auch im Ausland so gut wie möglich zu erfüllen. Ich unterstütze natürlich meinen Mann nach Kräften, sei es auf diplomatischer Ebene, sei es in anderen Bereichen, wo meine Hilfe von Nutzen sein kann. Ich setze mich vor allem dafür ein, Kindern in Not zu helfen (Frau Netanyahu ist unter anderem Vizepräsidentin der Organisation Yad Beyad, die notleidende Kinder aufgreift und ihnen Nahrung und Unterkunft gibt) und das Problem der Gewalt in der Familie zu bekämpfen. In diesem Bereich arbeite ich mit einer Organisation namens "Meital" zusammen, die sich insbesondere um Kinder, die sexuell missbraucht wurden, und um misshandelte Frauen kümmert. Dazu muss ich sagen, dass mein Mann diese Probleme sehr ernst nimmt und er wahrscheinlich der Ministerpräsident ist, der sich am meisten dafür engagiert hat, die aus dieser Art von Gewalt entstehenden Probleme lösen zu helfen. Ich denke nicht, dass das Problem in Israel grösser ist als anderswo, obwohl seit kurzem die Zahl der ermordeten Ehefrauen gestiegen ist. Ausserdem versuche ich denjenigen zu helfen, die Unterstützung brauchen, und ich öffne meine Türe auch Aids-Kranken, behinderten Kindern usw. Diese Aktivitäten verkörpern für mich auch einen Weg, mit meinem Beruf der Kinderpsychologin in Kontakt zu bleiben und weiterhin etwas zu arbeiten. Sie begleiten den Ministerpräsidenten auf fast allen seinen Reisen. Wie ist dies mit Ihrem Familienleben zu vereinbaren ? Wenn die Reise während eines Wochenendes oder über eine längere Zeitdauer stattfindet, nehmen wir die Kinder mit. Ich tue alles, um möglichst viel Zeit mit ihnen zu verbringen, wenn wir hier sind. Es ist weder für sie noch für uns immer einfach. Doch neben allen Verpflichtungen, die meine Position mit sich bringt, begleite ich sie nach Möglichkeit jeden Morgen in die Schule, hole sie auch wieder ab und verbringe nachmittags und abends Zeit mit ihnen. Ausserdem sind die Schabbatot ganz ihnen vorbehalten. Geht man davon aus, dass der Ministerpräsident die nächsten Wahlen gewinnt, steht er nach zwei Amtsperioden im Alter von 55-56 Jahren als junger Mann ... ohne Arbeit da ! Wie sehen Ihre Pläne aus ? Denken Sie ab und zu über diese Frage nach ? Zunächst werden wir eine noch junge Familie sein, das Leben wird weitergehen und wir haben zahlreiche gemeinsame Pläne. Mein Mann wird sich wohl einer seiner Lieblingsbeschäftigungen hingeben, dem Bücherschreiben. Und ich werde meinerseits bestimmt wieder in meinen Beruf einsteigen. Wir werden also in ein "normales" Leben zurückkehren und mehr Zeit mit unseren Kindern verbringen können. Wie sollen sich die Leute nach Ablauf Ihrer Amtszeit an Sie erinnern ? Ich möchte, dass sich die Menschen an mich wie an jemanden erinnern, der immer den Zugang zu den Herzen der Menschen und Kinder gesucht hat und denjenigen half, die anderswo keine Unterstützung fanden. Dies trifft auf die Israelis, aber auch auf die Juden im allgemeinen zu. Auf internationaler Ebene möchte ich in der Lage sein, in unserer so komplexen Welt einen Hoffnungsschimmer zu schaffen, vor allem für die Kinder. |