Typisch aschkenasisch !
Von Roland S. Süssmann
In der Medizin, wie auch auf dem Gebiet der Spitzentechnologie, erreicht Israel oft das höchste Niveau der Forschung und des Fortschritts. Zahlreiche Entdeckungen und Erfolge werden in bescheidenem Rahmen und mit recht beschränkten Mitteln erzielt. Im Krankenhaus Shaare Zedek von Jerusalem haben wir Frau Professor ORLY ELPELEG getroffen, eine Kinderärztin und Genetikerin, welche die Abteilung für Stoffwechselstörungen, insbesondere für Beschwerden infolge einer ungenügenden Leberfunktion, leitet.

Bei Symptomen wie Unwohlsein, starkem Fieber, Magen-Darm-Beschwerden, Ohnmacht, neurologischen Störungen oder gar bei plötzlichem Kindstod von Neugeborenen sucht man heute immer mehr nach einer im Bereich des Stoffwechsels liegenden Ursache. Befassen sich Ihre Arbeiten neben der Forschung auf dem Gebiet der Stoffwechselstörungen auch mit gewissen spezifischen Erkrankungen ?

Wir haben uns tatsächlich auf typische Krankheiten bei aschkenasischen Juden (westlicher - ursprünglich deutscher Herkunft) spezialisiert, in erster Linie auf diejenige namens "Canavan", die eine neurodegenerative, durch ein beschädigtes Enzym im Gehirn hervorgerufene Erkrankung ist. Ihre Auswirkungen treten bei Kindern auf, die bei der Geburt normal scheinen, bei denen aber drei bis vier Monate später bestimmte pathologische Anzeichen auftreten; die Augen des Säuglings folgen dem Finger nicht mehr, er lächelt nicht, der Kopf nimmt ungewöhnliche Ausmasse an, usw. Diese Kinder lernen nie sprechen und nur in ganz seltenen Fällen gehen. Ab und zu tritt im Alter von zweieinhalb Jahren eine geringe Verbesserung ein, doch sehr rasch verschlimmert sich die Situation wieder. Früher starben diese Kinder auf natürliche Weise im Alter von fünf bis sechs Jahren. Heute können einige von ihnen infolge der Fortschritte in der Medizin ungefähr zwanzig Jahre alt werden, wobei sie jedoch eine vegetative Existenz nie überschreiten.

Glauben Sie, dass es wirklich notwendig ist, das Leben dieser Kinder "dank den Fortschritten der Medizin" künstlich zu verlängern ? Sollte man nicht lieber die Natur walten lassen ?

Es handelt sich dabei um eine ethische und nicht um eine medizinische Frage. Mein Beruf verleiht mir nur ein Recht, nämlich zu helfen und heilen zu versuchen. Die israelischen Vorschriften auf diesem Gebiet sind übrigens äusserst streng. Beim heutigen Stand der Dinge sind wir allerdings noch nicht in der Lage, an der Canavan-Krankheit leidende Kinder zu heilen, doch wir tun alles, um dies eines Tages zu erreichen. Dazu müssen wir erst einmal die Ursachen und Umstände dieses Übels verstehen. Wenn wir uns in Israel nicht um eine Krankheit kümmern, die in erster Linie die aschkenasischen Juden berührt, wer soll es dann tun ?

Sie gehen also davon aus, dass Sie den betroffenen Familien gegenüber eine gewisse Verantwortung besitzen ?

Natürlich. Man muss sich der Tragödie einer Familie bewusst sein, deren Kind an dieser Krankheit leidet und mit Entsetzen entdeckt, dass sich derselbe Alptraum bei einem zweiten Kind wiederholen könnte. Es ist heute wirklich wichtig die Entwicklung zu sehen, die seit der einfachen klinischen Untersuchung in Richtung eines Verständnisses des Problems aus molekularer, enzymatischer usw. Sicht erfolgt ist. Wir wollen den Familien helfen und neue Tragödien vermeiden, deswegen setzen wir uns so dafür ein, die Pathogenie der Krankheit zu verstehen, was uns auch ermöglicht, vorgeburtliche Prävention zu betreiben.
Ich habe vor ca. zwanzig Jahren gelernt, wie man die Canavan-Erkrankung klinisch erkennen kann. Damals machte nur eine Gehirnbiopsie eine zuverlässige Diagnose möglich. Wenn die Familien die Tatsache akzeptierten, dass ihr Kind diesen Test durchläuft, konnten wir das Übel aus nächster Nähe untersuchen. Die Eltern erfuhren von uns, dass es sich um eine aschkenasische Krankheit handelte und dass sie der Gefahr ausgesetzt waren, ein weiteres Kind mit diesem Leiden zur Welt zu bringen. 1987 informierten uns französische und amerikanische Forscher darüber, dass man im Urin dieser Patienten Anomalien ausmachen konnte. Dank einer Spezialausrüstung, die wir bis vor kurzem als einzige besassen, haben wir die Urinproben untersuchen können, über die wir verfügten, und waren somit in der Lage, diese Anomalien zu bestätigen. Wir haben uns daraufhin die Frage gestellt, woher sie stammten. Wir haben Hautanalysen durchgeführt und konnten das auslösende Enzym isolieren. Wir haben eine sichere und wirksame Methode entwickelt, um die Krankheit festzustellen, ohne eine Gehirnbiopsie durchzuführen, was natürlich einen ungeheuren Fortschritt darstellte. 1993 wurde das Gen der Krankheit in Miami entdeckt; noch im selben Jahr wurden die Resultate der Tests veröffentlicht. Wir haben eine Reihe von Tests durchgeführt und konnten somit die pränatale Diagnose erstellen. Das von uns so leicht in der Haut gefundene Enzym war nämlich im Fruchtwasser nicht auszumachen. Zahlreiche Frauen hatten ungeduldig die von uns in Kürze vorausgesagte Entdeckung des Gens erwartet, um ein Kind zu zeugen. Einige von ihnen, die auf die vierzig zugingen, hatten sechs Jahre lang gewartet. Dank dem pränatalen Test können wir diesen Eltern heute normale Kinder garantieren.

Dieser Test ermöglicht demnach eine Vorbeugung und einen globalen Schutz in der aschkenasischen Bevölkerung. Die Krankheit sollte folglich allmählich verschwinden. Wie steht es damit in Wirklichkeit ?

Um an dieser Krankheit zu leiden, müssen zwei Gene beschädigt sein. Zahlreiche aschkenasische Juden weisen jedoch nur ein beschädigtes Gen auf. Verheiratet sich eine Person mit einer anderen, die an derselben Schwäche leidet, wird das Baby der beiden sehr wahrscheinlich die Canavan-Krankheit entwickeln. Wir haben bei der gefährdeten Bevölkerungsschicht (in Israel und Amerika) ein breit angelegtes Forschungsprogramm durchgeführt und dabei festgestellt, dass eine von fünfundvierzig Personen ein derart verändertes Gen aufweist. Es existiert also ein bedeutendes Präventionsprogramm, das sich dermassen gut durchgesetzt hat, dass es sozusagen gesetzlich obligatorisch geworden ist. In dieser Hinsicht bestehen in Israel zwei Programme, wobei das eine von der orthodoxen Gesellschaft und das andere von den Krankenversicherungen durchgeführt wird. Der orthodoxe Plan findet quasi anonym statt. Jeder spendet Blut, das auf die fünf klassischen jüdisch-aschkenasischen Krankheiten, wie z.B. Canavan, Tay-Sachs, die Gaucher-Krankheit usw., untersucht wird. Die Leute erhalten eine Nummer. Das Ergebnis der Bluttests wird nicht mitgeteilt, denn die Tatsache, Träger des einen oder anderen Gens zu sein, welche diese Erkrankungen auslösen kann, stellt für den Einzelnen keine Gefahr dar. Diese Aktion wird in den Sekundarschulen durchgeführt. Wenn zwei Menschen heiraten möchten, gibt jeder der Zentrale, die diese Informationen verwaltet, seine Nummer an und erhält den Bescheid, ob die Gene kompatibel sind oder ein Risiko beinhalten. Dieses Verfahren wurde durch die orthodoxe Gemeinschaft eingeführt, in der keine Fruchtwasseruntersuchung erfolgt. Weder in Mea Schearim noch in Brooklyn wird eine Hochzeit gefeiert, ohne dass sich beide Parteien zuvor darüber informiert haben, ob beide Nummern miteinander kompatibel sind. Die Verantwortlichen dieser Gemeinschaften haben die Dinge sehr ernsthaft, systematisch und wirksam in die Hand genommen. Sobald eine Erkrankung in ihrer Gemeinschaft häufiger auftritt, bringt uns ein Delegierter mit Etiketten versehene Blutproben, damit wir die notwendigen Tests durchführen. Heute wird eine einfache erzieherische Botschaft in diesen Kreisen verbreitet: jede Krankheit, für die ein Test durchgeführt wird, stellt keine Bedrohung mehr dar. Die gesamte, die jüdischen Schulen von Brooklyn absolvierende Bevölkerung, wird ebenfalls beständig getestet und registriert. Wird dieses Programm von der medizinischen Gemeinschaft gut akzeptiert ?

Nein, denn es man geht in der Regel davon aus, dass man einem Patienten die Ergebnisse eines Tests mitteilen muss. Im vorliegenden Fall begnügen sich die Besitzer der Information damit anzugeben, ob die Nummern miteinander kompatibel sind, ohne dabei mitzuteilen, wer Träger welcher Gene ist. In der ultraorthodoxen Gemeinschaft, muss man nämlich wissen, zirkulieren Gerüchte sehr rasch, und ein Ruf ist sehr schnell zerstört. Wenn bekannt wird, dieser oder jener sei Träger eines bestimmten Problems, leidet die gesamte Familie darunter und niemand heiratet mehr ein Mitglied dieser Familie. Seit den zwei Jahren, wo die Canavan-Krankheit zu diesem Präventionsprogramm gehört, ist kein neuer Fall mehr aufgetreten, wurden keine kranken Kinder eines neuen Paares mehr geboren. Neue Fälle treten nur in Familien auf, in denen kranke Kinder bereits zur Welt kamen, und die sich weiterhin weigern, die pränatalen Tests durchzuführen.


Für welche andere Krankheit unternehmen Sie besondere Forschungsanstrengungen ?

Bevor ich Ihnen antworte, möchte ich unsere Vorgehensweise erläutern. Unser Verfahren besteht darin, von der klinischen Diagnose her eine Genmutation zu erkennen; danach wenden wir uns den Gemeinschaften zu, um die Häufigkeit der Krankheit festzustellen; und schliesslich kehren wir zum Patienten zurück und versuchen, eine Behandlung zu finden.
Vor fünf Jahren sind wir auf eine andere aschkenasische Krankheit gestossen, die vor allem die Leber befällt, die "Lipoamide Dehydrogenase Defizienz". Dieser zunächst kompliziert klingende Name bezeichnet eine Lebererkrankung, die seit fast zwanzig Jahren erforscht wird.


Welche Symptome treten dabei auf ?

Wir hatten es mit anscheinend völlig normal wirkenden Kindern zu tun, deren Alltag nichts Ungewöhnliches aufwies. Ein oder zweimal pro Jahr, im allgemeinen wenn sie Opfer einer Entzündung der Nasen- und Rachenschleimhaut waren, fielen sie in Ohnmacht, erbrachen sich in grossen Mengen oder litten unter schrecklichen Magenschmerzen. Ihre Leber wies ein vergrössertes Volumen auf und sie verloren oft die Orientierung für Raum und Zeit. Damals verstand niemand die Ursache, es wurden verschiedene Hypothesen angestellt, und man schloss in Ermangelung eines besseren Wissens auf eine Hepatitis oder einen Virus.


Wie kamen Sie auf die Idee, es könnte sich um etwas anderes handeln ?

Ich war überzeugt, es könne sich weder um das eine noch um das andere handeln, denn die Symptome traten wiederholt auf und betrafen Mitglieder einer selben Familie, immer dieselben fünf von dreizehn Kindern eines Haushalts. Es konnte sich ganz einfach nicht um einen Virus handeln. Oft sagte mir die Mutter, sie könne ihrem Kind helfen, indem sie ihm alle Viertelstunde einen Teelöffel Zuckerwasser verabreiche (was nichts anderes ist als eine oral verabreichte intravenöse Infusion). Sie beschrieb mir, wie sie den körperlichen Zerfall ihres Kindes von innen her veränderte, indem sie ihm auf oralem Weg Kalorien zuführte. Es waren noch zwei weitere Familien mit denselben Symptomen vonnöten, damit ich begriff, dass es sich um eine jüdisch-aschkenasische Krankheit, wahrscheinlich metabolischen Ursprungs handelte, die sowohl Jungen als auch Mädchen befiel. Ich wollte vertiefte Nachforschungen anstellen, doch die Familien sind nur selten damit einverstanden Biopsien durchführen zu lassen, wenn dies nicht absolut unerlässlich ist - eine durchaus verständliche Einstellung. Ich wurde aber mit dem sehr ernsten Fall eines Kindes konfrontiert, das seit seiner Geburt sehr viel erbrach und sich nicht in normaler Weise entwickelte. Das betroffene Baby hatte Kusins, welche die "leichteren" Symptome der Krankheit aufwiesen, wie ich sie weiter oben beschrieben habe und die ihre Entwicklung nicht beeinträchtigten. Es wurde mir klar, dass es sich eigentlich um zwei Formen derselben Krankheit handelte. Beim ernsthaft kranken Kind erhielt ich von den Eltern das Recht, eine Muskelbiopsie durchzuführen. Ich stellte fest, dass ein sehr wichtiges Enzym fehlte. Es handelte sich um das "Lipoamid Dehydrogenase", das Glukose, Kohlenhydrate, Aminosäuren und Fette verarbeitet (alle unsere Kalorienquellen). Es war selbstverständlich undenkbar, regelmässig und in jedem Fall eine Muskelbiopsie durchzuführen. Wir haben in der Folge einen Test über den Blutweg eingeführt. Von diesem Zeitpunkt an verfügte ich über eine enzymatische Diagnose, dank der ich zum Schluss kam, dass das Lipoamid Dehydrogenase sowohl in der Leber als auch in den Muskeln fehlte. Ich befasste mich dann mit der Genforschung auf diesem Gebiet und kam zur Schlussfolgerung, dass die wenig betroffenen Kinder zwei beschädigte Enzyme aufwiesen, während das stark erkrankte Kind ein fehlendes Enzym sowie ein Enzym aufwies, dessen eine Hälfte schlecht funktionierte. Ich beschäftigte mich daraufhin mit der Frage nach der Häufigkeit dieser Krankheit in der jüdisch-aschkenasischen Bevölkerung. Diese Studie ergab, dass eine Person von neunzig Träger des Gens war.


Welchen Stand haben Ihre Forschungen heute erreicht ?

Uns ist es gelungen, mehrere Ziele zu erreichen. Zunächst einmal sind wir in der Lage, einen pränatalen Test durchzuführen, in der Regel in der neunten oder zehnten Schwangerschaftswoche. Weil wir nun die Krankheit erkennen können, ersparen wir den Eltern und ihren Familien das traumatische Erlebnis mühseliger Nachforschungen, wie z.B. einer Leberbiopsie. Wir können die Familien folgendermassen informieren: "So sieht ein Anfall aus, so kann man ihn erkennen, dies sind die möglichen Reaktionen und Behandlungen". Und schliesslich konnten wir die Medikamente entwickeln, die eine direkte Behandlung dieser Krankheit ermöglichen. Es handelt sich im allgemeinen um Enzymaktivatoren, die in der Apotheke hergestellt werden müssen. Seit wir sie einsetzen, konnten wir eine grosse Zahl neuer ernsthafter Krisen vermeiden. Ihre Leser sind sicher daran interessiert, dass unsere Abteilung am Abend nach Jom Kippur am aktivsten ist: die jungen Leute haben gefastet und erhielten von aussen keinerlei Kalorienzufuhr. Der Gewebezerfall wird aktiviert, und all jene, die sich wohl fühlten, solange sie assen, erlebten eine Krise.


Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus ?

Im Hinblick auf die Canavan-Erkrankung hoffe ich, bis im September bedeutende Schlussfolgerungen zu erreichen. Da wir jetzt über die nötige Ausrüstung verfügen, führen wir gegenwärtig Nachforschungen für das nichtjüdische Gen in den europäischen Ländern durch und haben interessanterweise eine Reihe von Elementen bei den Zigeunerbevölkerungen gefunden. Im Hinblick auf die Lipoamid Dehydrogenase Defizienz fahren wir mit unseren Arbeiten, insbesondere mit den therapeutischen Experimenten, fort. Auch die Forschungsarbeiten im Bereich der Stoffwechselstörungen werden fortgesetzt.

Frau Professor Orly Elpeleg und ihr Team arbeiten an sehr bedeutenden Projekten, deren Ziel es ist, den an Krankheiten, von denen heute erst die klinischen Symptome bekannt sind, leidenden Patienten Erleichterung zu verschaffen, sowie die Prävention für genetische Krankheiten durch pränatale Tests zu verbessern.