Das jüdische Museum in London
Von Roland S. Süssmann
Wodurch unterscheidet sich ein jüdisches Museum von einem anderen ? Entstehen sie nicht alle nach dem selben Modell und mit der selben Einstellung ? Ist eine im Jewish Museum von New York ausgestellte Torah-Krone wirklich anders als ihr Gegenstück in der Galerie für jüdische Kultgegenstände (Judaika) des Israel Museums ? Was bringt es, überall auf der Welt jüdische Museen zu gründen, zu finanzieren und zu unterhalten ? Wäre ein zentrales Museum in Israel nicht ausreichend ? Ist "ein weiteres" jüdisches Museum wirklich notwendig ?
Auf alle diese Einwände und Fragen gibt das neue jüdische Museum von London mit dem vielversprechenden Namen "The Jewish Museum - London's Museum of Jewish Life" dank seiner Konzeption und seinem Reichtum in Verbindung mit seiner Einfachheit eine überzeugende, eindeutige und klare Antwort. Es zeigt, wie sehr ein jüdisches Museum einer kulturellen, vor allem aber auch pädagogischen Notwendigkeit entspricht und sich sowohl an ein jüdisches als auch nichtjüdisches Publikum wendet.
Das jüdische Museum von London wurde eigentlich schon 1932 von einer kleinen Gruppe von Freunden und Kunstliebhabern gegründet, die sich zusammentaten, um die schönsten Gegenstände der jüdischen Kultur zu sammeln, derer sie habhaft werden konnten. 1995 verliess das jüdische Museum von London die veralteten und vollgestellten Räumlichkeiten, die es seit 1932 beherbergten, und zog in das "Raymond Burton House" um. Dieses herrliche Gebäude aus dem Jahr 1844 liegt im Viertel von Camden und ist ein Geschenk Raymond Burtons an das Museum; es wurde vollständig renoviert und neu eingerichtet. Das Museum an und für sich ist zwar recht klein, doch es wird dadurch zu einem wahren Juwel oder Diamanten, die ja auch als "klein" gelten.
Der Besuch beginnt in der "History Gallery", die vom Leben der Juden in England seit dem Jahr 1066 bis zu ihrer Vertreibung durch Edward I. im Jahr 1290 berichtet. Offiziell kehrten sie erst 1656 nach Grossbritannien zurück, als Oliver Cromwell dem Rabbiner Menasseh Ben Israel (der übrigens von Rembrandt porträtiert wurde) die Bitte gewährte, dass die Juden sich wieder in England niederlassen durften. Als erste kamen die sephardischen Juden aus Amsterdam zurück. Von ihnen wurde 1701 die herrliche Synagoge "Bevis Marks" errichtet, deren Inneres der berühmten portugiesischen Synagoge von Amsterdam gleicht. Zahlreiche Persönlichkeiten, welche die Geschichte des englischen Judentums prägten, wie z.B. Sir Moses Montefiore und Disraeli, besassen hier einen eigens reservierten Sitz. Noch heute werden an jedem Montag, Donnerstag, am Schabbatmorgen und am Sonntag regelmässig Gottesdienste abgehalten. Diese aus Holland eingetroffenen Juden bildeten den Grundstein der Gemeinschaft, die im allgemeinen als die "neue" jüdische Gemeinde Grossbritanniens bezeichnet wird. Auf diese Immigration folgte diejenige der osteuropäischen, und in der Gegenwart diejenige der deutschen und österreichischen Juden. Die Galerie berichtet von der nacheinander stattfindenden Ankunft dieser verschiedenen Gruppen von Juden sowie von den verschiedenen Schichten der jüdischen Gesellschaft, von den Rabbinern, Bankiers und Grossindustriellen, von der Gewerkschaft der jüdischen Bäcker in London, aber auch von den jüdischen Hausierern und Bettlern. Interessanterweise ist eine ganze Abteilung den jüdischen Boxern gewidmet. Dazu muss man in Erinnerung rufen, dass Daniel Mendoza, der als der "Vater des englischen Boxsports" gilt, ein sephardischer Jude war. Eine interaktive elektronische Karte ermöglicht es dem Besucher, die verschiedenen Entwicklungen der jüdischen Bevölkerung Englands im Verlauf der Jahrhunderte zu entdecken. Die Galerie zeigt auf Holzbrettchen eingravierte Quittungen für die von den Juden bezahlten Steuern, eine Reihe von Porträts von Persönlichkeiten aus dem 17. Jahrhundert sowie eine Sammlung von Silbergeräten und Porzellan.
Das Herzstück des Jewish Museum of London befindet sich im ersten Stock in der "Ceremonial Art Gallery". Der Besucher folgt den verschiedenen Etappen des jüdischen Lebens von der Beschneidung bis zum Grab und lernt den Zyklus der Feste und Traditionen kennen. Eine sehr vielfältige Auswahl von Kultgegenständen wird auf attraktive, abwechslungsreiche und intelligente Weise ausgestellt. Die jüdische Existenz wird somit durch sowohl seltene als auch wunderschön gearbeitete Gegenstände veranschaulicht, die vom Silbergerät bis zu den Textilien, von illuminierten Eheverträgen und Amuletten bis zum Schmuck reichen. Im Gegensatz zu anderen Museen wird jede Abteilung dieser Galerie wie eine eigene und einzigartige Ausstellung präsentiert, so dass der Besucher den Eindruck erhält, anstelle einer grossen Schau mit vielen identischen Vitrinen eine aufeinanderfolgende Reihe von Mini-Ausstellungen zu besichtigen. Der Höhepunkt des Besuchs der "Ceremonial Art Gallery" ist zweifellos die aus dem Venedig des 16. Jahrhunderts stammende heilige Lade.
Ausserdem besitzt das Museum Räume, die für wechselnde Ausstellungen vorgesehen sind. So ist vor kurzem eine Ausstellung zum Thema "Child's Play" mit Spielzeug und jüdischen Kinderbüchern abgelaufen. Es wurden zahlreiche aus Osteuropa stammende Bücher mit herrlichen Illustrationen bekannter Künstler präsentiert, aber auch deutsche Werke aus der Zeit vor der Schoah. Beim Spielzeug handelte es sich in erster Linie um Spiele für Purim und Chanukkah, aber auch um Kartenspiele oder Modelle zum Ausschneiden zum Thema der jüdischen Feste. Anlässlich des israelischen Staatsjubiläums veranstaltet das Museum eine Ausstellung über die zionistischen Aktivitäten in England.
Das Museum verfügt über ein weiteres Haus in Finchley, das sich mehr auf das jüdische Leben im 20. Jahrhundert, insbesondere in East-End, spezialisiert hat und sich ganz besonders mit den jüdischen Kaufleuten befasst, die sich nach ihrer Ankunft aus Osteuropa dort niederliessen. Dieses kleine Museum zeigt ebenfalls eine ständige Ausstellung über die Schoah und bietet ein aussergewöhnlich vollständiges, interessantes und ständig verbessertes Lehrprogramm zu diesem Thema an. Das Museum von Finchley besitzt bedeutende Bild- und Tonarchive zum jüdischen Leben in England.

THE JEWISH MUSEUM
Raymond Burton House
120-131 Albert Street
London NW1 7NB
Tel. 0171 284 1997
Öffnungszeiten: Sonntag bis Donnerstag von 10.00 - 16.00 Uhr.
Geschlossen: Freitag, Schabbat, jüdische und offizielle Feiertage.

THE JEWISH MUSEUM FINCHLEY
80, East End Road
London N3 2SY
Tel. 0181 349 11 43
Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag von 10.30 - 17.00 Uhr - Sonntag von 10.30 - 16.30 Uhr.
Geschlossen: Freitag, Schabbat, jüdische und offizielle Feiertage sowie Sonntage im August.

BEVIS MARKS SYNAGOGUE
Bevis Marks
London EC 3A 5DQ
Besichtigung: Sonntag, Montag, Mittwoch und Freitag: 11.30 - 13.00 Uhr. Dienstag: 10.30 - 16.00 Uhr.
Für die Gottesdienste: Tel. 0171 626 1274