Unser täglicher Exodus | |
Von Rabbiner Zalman I. Posner * | |
Die Haggadah von Pessach erzählt uns ab dem zweiten Kapitel die Geschichte von fünf zu den grössten ihres Fachs gehörenden Talmudmeistern und -exegeten, welche die Sedernacht in Bene Berak bei Tisch verbrachten und dabei die Geschichte des Exodus erzählten. Dieser Bericht folgt auf ein Kapitel, in dem von der Flucht aus Ägypten berichtet wird und das folgendermassen endet: "... je mehr man darüber spricht, desto mehr Lob verdient man." Einige Zeilen weiter heisst es in der Haggadah: "In allen Generationen muss jeder von uns sich vorstellen, er sei selbst aus Ägypten geflüchtet." Diesem Satz wurde von einigen Weisen später das Wort "heute" hinzugefügt. Auf den ersten Blick mag das, was uns diese drei Geschichten lehren, überraschen. Warum haben nämlich grosse Talmudmeister eine ganze Nacht damit verbracht, eine so bekannte Erzählung unablässig zu wiederholen ? Wieso fordert uns die Haggadah ohne triftigen Grund auf, Jahr um Jahr die Flucht aus Ägypten zu erzählen, wobei sie uns nahelegt, eine möglichst häufige Wiederholung mache uns des Lobes würdig und wir müssten uns in diese Geschichte einfühlen, bis wir uns als Teil eines historischen Ereignisses empfinden, das vor mehreren Jahrtausenden stattgefunden hat ? Die Torah und die Haggadah verwenden die Begriffe Sklaverei, Ägypten und Exodus nur als Symbole, da ihre wörtliche Bedeutung nur einen winzigen Teil ihres eigentlichen Sinns darstellt. Analysieren wir zunächst das Wort "Sklaverei". Es weckt in uns das Bild von Zwangsarbeit, bei der jedes Nachlassen mit der Peitsche bestraft wird, wie dies auch in den Lagern der Nazis oder im sowjetischen Gulag der Fall war. Es gibt jedoch auch eine andere Form der Sklaverei, die weniger brutal ist und dem wirtschaftlichen Druck entspricht. Auf den ersten Blick haben diese beiden Formen der Unterdrückung nichts gemein, doch im Grunde sind sie identisch. In beiden Fällen wird nämlich dem Individuum seine Entscheidungsfreiheit entzogen, ein anderer entscheidet an seiner Stelle. Die Sklaverei lässt sich folglich in das viel weiter gefasste Konzept des ständigen Drucks eingliedern. Bei jeder Bewegung, bei jeder Entscheidung, die ein Individuum zu treffen versucht, fühlt es sich beobachtet und fürchtet die unerwartete Reaktion eines unberechenbaren Unterdrückers. Die Definition der Sklaverei in der Haggadah ist weitgefasst und beschränkt sich nicht auf die Welt der Arbeit. Sie erwähnt in erster Linie die selbst auferlegte Einschränkung und die Abtretung der Entscheidungsgewalt an einen anderen, um dem sozialen Druck nachzugeben und von einer Umgebung akzeptiert zu werden, die uns ihre Gesetze aufzwingt. Die Haggadah sagt uns dies ohne Umschweife: Lassen wir niemand anderen über unser Leben entscheiden. Wenn wir uns selbst treu bleiben und gemäss unseren tiefen Überzeugungen und denjenigen der Torah leben, laufen wir natürlich Gefahr, unserer unmittelbaren Umgebung zu missfallen, doch gleichzeitig erzwingen wir dadurch ihren Respekt. Betrachten wir anschliessend den Begriff "Ägypten". Sowohl auf arabisch als auch auf hebräisch gilt dieses Wort, das "Mytsraïm" lautet, eigentlich als Symbol für die "Einschränkung", für eine Begrenzung, die uns auf den ersten Blick unüberwindbar erscheint. Wir wissen, dass jeder von uns über unzählige Möglichkeiten verfügt, dass aber unser Tun oft von Hindernissen aufgehalten wird, die wir in der Regel selbst errichten. So beschränken viele Leute ihre Spenden auf den Betrag, den man von den Steuern abziehen kann. Handelt es sich dabei nicht um eine von uns akzeptierte, jedoch von anderen beschlossene und erzwungene Beschränkung ? Das perfekte Beispiel für eine sanfte Form der gleichzeitigen Unterdrückung und Sklaverei. Zuletzt bleibt die Frage nach der Bedeutung des Wortes "Exodus" und vor allem nach dem Studium dieses Wortes während eines Teils der Nacht durch fünf grosse Talmudmeister. Warum haben sie dieses Ereignis wieder und wieder erzählt ? Hatten herausragende Persönlichkeiten wie Rabbi Eliezer, Rabbi Joshua, Rabbi Eleazar, Rabbi Akiba und Rabbi Tarphon nichts Wichtigeres zu tun ? Welche zusätzliche Lehre wollten sie diesen Worten entziehen ? In Wirklichkeit suchten sie nach neuen Herausforderungen und neuen Erfolgen. Die ernsthaften und bedeutenden Errungenschaften von gestern schienen ihnen unzulänglich, und wenn diese Talmudmeister sich damit begnügt hätten, hätten sie sich eine Einschränkung auferlegt..., sie wären in eine von sich selbst auferlegte Form der Sklaverei geraten. Jeder von uns wird täglich mit einem neuen "Ägypten", mit neuen Einschränkungen konfrontiert. Aus dieser Erkenntnis schöpft der Satz "In allen Generationen muss jeder von uns sich vorstellen, er sei selbst aus Ägypten geflüchtet" seine ganze Bedeutung, seinen Wert und seine Aktualität. Wir müssen reagieren, indem wir uns einen neuen "Exodus" vorschreiben, nicht nur durch die Verweigerung jeder Einschränkung, sondern auch durch die Festlegung neuer Ziele, neuer Herausforderungen und einer besseren persönlichen Entfaltung. Es geht darum, mehr Wissen zu erlangen, unsere Sensibilität zu entwickeln, und vor allem uns der Lehre der Torah, der Moral anzunähern und uns unserem Nächsten vermehrt zuzuwenden. Darin finden wir die grundlegende Lehre der Haggadah - die Botschaft von Pessach. * Rabbiner Zalman I. Posner lebt in Nashville, Tennessee. |