Editorial | |
Von Roland S. Süssmann - Chefredakteur | |
Liebe Leserinnen und Leser,
Ein wenig mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende der Schoah erleben wir eine aussergewöhnliche Zeit! Noch nie war im Verlauf der letzten zweitausend Jahre die Situation des jüdischen Volkes so bemerkenswert und angenehm. Es gibt keine Judenverfolgungen mehr, und ausser einigen antisemitischen Androhungen und Einschränkungen der Freiheit, den jüdischen Glauben auszuüben, besitzen wir heute das Privileg, uns überall in der Welt frei zu unserer Religion bekennen zu können. Gleichzeitig hat das jüdischen Volk einen unabhängigen, starken, beeindruckenden und modernen Staat geschaffen, der von einer nationalistischen Regierung voller Entschlossenheit geleitet wird, deren Endziel die Verwirklichung der Prophezeihung Jesajas ist: "Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben." Gewiss, der Frieden ist das oberste Ziel, doch heute lautet das Motto: Vorsicht, denn Hoffnung und Realität dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Für Israel ist es ausgeschlossen, die Errungenschaften der letzten fünfzig Jahre aufs Spiel zu setzen, die dank dem Heldentum seiner Bevölkerung und seiner Soldaten erreicht wurden, von den Kämpfern im Schatten, die vor der Staatsgründung im Einsatz waren, zu den Piloten, Panzerfahrer, Seeleute, Fallschirmspringer, Kommandos, Geheimagenten usw., die in Vergangenheit und Gegenwart sowohl in Israel als auch hinter den feindlichen Linien ihr Leben riskieren. Dazu kommt die harte tägliche Arbeit der Pioniere, die gestern wie heute an den Grenzen Israels leben, in Galiläa, im Negev, in Judäa-Samaria und Gaza, sowie die Unterstützung der Juden der Diaspora. Dank dieser gemeinsamen Anstrengung ist der hebräische Staat für jeden von uns zur sicheren Heimat geworden. Vergessen wir nicht, dass Israel eine Insel der Demokratie darstellt, einen Vorposten der Macht und der Kultur des Westens im Mittleren Osten, da es in dieser Region das einzige Land ist, das nicht von einer Diktatur regiert wird, und da es keinerlei Anzeichen gibt, dass eine mögliche Demokratisierung der arabischen Länder stattfinden wird. Die Existenz Israels wird von der arabischen Welt immer noch nicht als unumstössliche Tatsache akzeptiert. Zwar haben die ägyptischen (welche an der Spitze der diplomatischen Offensiven gegen Israel stehen) und jordanischen Staatsoberhäupter einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet, doch sind ihnen ihre Bevölkerung, die Intellektuellen, oder gar die Industrie- und Handelskreise ihrer Länder bei diesem Schritt gefolgt? Die Antwort lautet nein! In diesem Kontext kann es sich Israel nicht erlauben, "Abkommen zu unterzeichnen", nur um sich damit beliebt zu machen. Im Gegensatz zur PLO pflegt der jüdische Staat seine Versprechungen einzuhalten, was er mit der Abtretung des Sinai und bedeutender Gebiete in Judäa, Samaria und Gaza bewies. Im Zusammenhang mit dem letzen Abkommen, in welchem Benjamin Netanyahu Arafat einen Teil der Verwaltung von Hebron, der zweiten heiligen Stadt des Judentums, übertrug, hat die PLO keine einzige ihrer Verpflichtungen erfüllt. Dennoch ist die Regierung Netanyahu gewillt, territoriale Konzessionen zugunsten der palästinensischen Araber zu machen, aber nicht mehr einseitige. Sie ist sogar bereit, schmerzliche Anstrengungen und Opfer auf sich zu nehmen, wenn diese der israelischen Bevölkerung über die nächsten Jahrzehnte hinweg den Frieden garantieren können. Sie hat jedoch keinesfalls die Absicht, die rechtmässigen Ansprüche des jüdischen Volkes und die nationale Sicherheit zu gefährden. Neben den Gefahren, denen Israel seit dem Beginn seiner Existenz als Staat trotzen muss - Tausende von Soldaten bewachen Tag und Nacht sämtliche Grenzen des Landes -, wird der jüdische Staat mit den Bedrohungen konfrontiert, die sich aus der Verschwörung von Oslo ergeben haben. So versucht die PLO sich unter offensichtlicher Verletzung der unterzeichneten Abkommen die tragbaren Raketenwerfer MANPADS (man-portable-air-defense-system) zu beschaffen, mit denen jedes Militärflugzeug im Flug abgeschossen und Raketen auf die Zivilbevölkerung gerichtet werden können. Die Araber haben sich, wie wir feststellen können, keineswegs geändert. Sie haben die Niederlagen von 1948, 1956, 1967 und 1973 nicht verwunden, und die Vernichtung Israels bleibt weiterhin ihr oberstes Ziel, wie es die PLO-Charta beweist, die nie modifiziert wurde! Die Politik der gegenwärtigen Regierung, auf Gegenseitigkeit zu bestehen und jedes Zugeständnis ohne konkrete und überprüfbare Gegenleistung abzulehnen, beruht auf einem gesunden Menschenverstand. Kein Druck, weder seitens der USA, Europas noch der israelischen Linken, wird sie von dieser Einstellung abbringen. In den Tagen, in denen Israel - militärisch stark und in Wissenschaft und Industrie an der Spitze des Fortschritts stehend - sein fünfzigjähriges Jubiläum begeht, muss man feststellen, dass die Diaspora von denselben Sorgen geplagt wird, wie zu der Zeit, als Israel sein 25jähriges Bestehen feierte: ständig steigende Assimilierung, Verlust der jüdischen Identität und gemischte Ehen. Dies sind die direkten Folgen einer mangelhaften jüdischen Ausbildung und einer unzulänglichen und unbefriedigenden jüdischen Erziehung, wie sie überall auf der Welt halbherzig erteilt werden. Heute stellt sich die Frage, wie unsere Situation in der Diaspora aussehen wird, wenn Israel 75 oder gar 100 Jahre alt ist. Werden wir in der Lage sein, diese Übel zu bekämpfen, die Tag für Tag die Stärke unseres Volkes untergraben? Werden wir dann über eine Führerschaft verfügen, die aus einer mächtigen, aus mutigen und mit einem soliden jüdischen Wissen ausgestatteten Männern und Frauen zusammengesetzten Elite besteht ? Oder werden wir uns mit Führungsspitzen begnügen, die ausschliesslich der Oligarchie des Geldes und nicht derjenigen des Geistes entstammen? Wird sich das Rabbinat immer noch darauf beschränken, sich mit der Krise herumzuschlagen und über das Versagen zu klagen? Oder wird es ihm gelungen sein, sich zu erneuern und ein die Jugend überzeugendes und begeisterndes Programm zu entwickeln? Wird die Mehrheit der jüdischen Kinder eine jüdische Schule besuchen, in denen sie eine hochstehende weltliche und jüdische Ausbildung erhält? Es stimmt, wir leben in einer "phantastischen Epoche", und es wäre schockierend, wenn wir es nicht verstünden, diesen äusserst seltenen Glücksfall zur Vorbereitung der Zukunft zu nutzen. Es handelt sich nicht um eine Herausforderung, vor die man uns stellt, sondern um eine einfache Aufforderung, unsere Verantwortung und Pflichten wahrzunehmen. Es geht nicht darum, pompöse und sinnlose Projekte in Angriff zu nehmen, sondern eine Reihe von Programmen auszuarbeiten, die nach und nach durch eine tägliche Kleinarbeit verwirklicht werden können, sei es auf der Ebene des Individuums, der Schule oder der Gemeinde. Die technischen und finanziellen Mittel stehen uns zur Verfügung... Wir brauchen nur noch den Willen und die Fähigkeit, diese Chance zu nutzen! In diesem Sinne wünscht Ihnen das gesamte Shalom-Team ein wunderschönes Pessach-Fest. Roland S. Süssmann Chefredakteur Jerusalem, März 1998. |