Juden in Russland | |
Von Roland S. Süssmann | |
"Das jüdische Leben in Russland" ist ein ebenso allgemeiner wie abstrakter Begriff und hat mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun. Das Leben der Juden in Moskau gleicht weder demjenigen in Sankt Petersburg, noch demjenigen in Irkutsk oder in Nizhny Novgorod. Doch heute gibt es einen positiven gemeinsamen Nenner, der konkret in der Tatsache zum Ausdruck kommt, dass alle Aktivitäten der Gemeinschaft sich überall in Russland in aller Offenheit und Freiheit abspielen können. Wir wollten das Leben der russischen Juden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion genauer kennenlernen und sind daher in Moskau mit dem Oberrabbiner Russlands, ADOLF SHAEVICH, zusammengetroffen, der dieses Amt seit 1980 bekleidet. Er stammt ursprünglich aus Birobidschan und liess sich 1972 in Moskau nieder, nachdem er seine Ausbildung als Rabbiner in Ungarn, Russland und Israel absolviert hatte. Er hat die gesamte Entwicklung des russischen Judentums in den letzten Jahren miterlebt, von der Ära Breschnews bis zum heutigen Tag.
Könnten Sie zunächst das Leben der Juden unter dem sowjetischen Regime mit der heutigen Situation vergleichen ? Zu diesem sehr weitläufigen Thema gäbe es sehr viel zu sagen. Doch die grundlegendste Veränderung liegt in der Tatsache, dass wir heute eine vollständige Glaubensfreiheit geniessen, was während langen Jahren nicht möglich war. Früher gab es ausserhalb der Synagoge keinerlei öffentlichen jüdischen Aktivitäten und die Synagoge tat sich auch nicht durch besondere Dynamik hervor. Nur einige Personen im Pensionsalter besuchten unsere Kultusorte, weil sie über einige Kindheitserinnerungen an ihr karges Wissen über das Judentum verfügten. Die jungen Leute liessen sich kaum blicken, mit Ausnahme einiger Refusniks, die auf die Ausreiseerlaubnis aus der UdSSR warteten. Heute steht uns alles zur Verfügung, was eine jüdische Gemeinde des Westens anzubieten hat: jüdische Schulen, Jeschiwoth, Kulturzentren usw. Welches ist Ihre grösste Sorge ? Wir befinden uns in einer Situation, in der zahlreiche Menschen das Judentum wieder entdecken möchten, doch uns fehlen leider russische Führungskräfte. Alle Rabbiner oder Lehrer stammen aus dem Ausland, was für Moskau oder Sankt Petersburg kein Problem darstellt. Für zahlreiche kleinere Ortschaften verkörpert dies ein echtes Hindernis, da die dort lebenden Juden nicht Hebräisch sprechen und die aus dem Ausland kommenden Führungspersönlichkeiten in der Regel weder mit der russischen Sprache noch mit der Mentalität vertraut sind. Im allgemeinen sind sie auch nicht begeistert darüber, sich in einem verlorenen Nest in Russland niederzulassen, und kommen daher nur für ein paar Monate oder um die Feste zu zelebrieren, wenn sie danach sofort wieder abreisen können. Auf diese Weise können wir nicht hoffen, ein jüdisches Leben und eine Gemeinschaft zu schaffen, die dieses Namens würdig sind und lange fortdauern werden, wie wir dies allmählich verwirklichen müssen. Wir können nur dann erfolgreich sein, wenn wir mit hier, im Westen oder in Israel ausgebildeten Leuten aus diesem Land arbeiten, die sich später in Russland niederlassen und sich einverstanden erklären, einige Jahre in den abgelegenen Regionen des Landes tätig zu sein. Was unternehmen Sie konkret, um diese Führungskräfte auszubilden, die Ihnen so sehr fehlen ? In Moskau gibt es drei Jeschiwoth, die hoffentlich bald in der Lage sein werden, die über eine Synagoge verfügenden Gemeinden zunächst mit einem Rabbiner oder russischen geistlichen Führern zu versorgen. Ich möchte betonen, dass die Lubawitscher Bewegung in Russland eine bedeutende Rolle spielt. Trotz des Ablebens des "Rebben" leben seine Lehre und sein Geist sehr intensiv weiter und dies kommt auch in der Wirklichkeit zum Ausdruck. So lassen sich beispielsweise die Lubawitscher Vertreter ohne zu zögern dort nieder, wo dies zum Aufbau oder zur Wiederherstellung eines jüdischen Lebens notwendig erscheint. Diese Männer und Frauen arbeiten oft unter materiell schwierigen Bedingungen und widmen sich ihrer Aufgabe mit ganzer Seele. Sie unterscheiden sich dadurch von den anderen Rabbinern und Lehrern, die nach Russland kommen. Wenn die politische und wirtschaftliche Situation sich etwas stabilisiert hat, wird es meiner Ansicht nach einfacher sein, das jüdische Leben in Russland zu organisieren und zu entwickeln. Vergessen wir nicht, dass man die Zahl der russischen Juden im allgemeinen auf über eine Million schätzt, wobei ca. 300'000 in Moskau leben. Es stimmt, dass die Synagoge in Moskau nur spärlich besucht wird, ausser am ersten Abend von Rosch Haschanah, an Jom Kippur, an Pessach und vor allem an Simchat Torah. An diesen Tagen ist nicht nur die Synagoge überfüllt, sondern auch die Strasse davor. An hohen Feiertagen oder an öffentlichen Veranstaltungen, wie einer grossen Chanukkah-Feier, kommen sieben- bis achttausend Personen hierher, und wenn wir 50'000 Plätze anzubieten hätten, wären sie alle belegt. Dies bedeutet nicht, dass es sich um eine allgemeine Begeisterung für die Religion handelt, doch viele Menschen möchten ihre Wurzeln, die jüdische Geschichte usw. kennenlernen. Einige wollen auch gläubig werden und ihre Religion ausüben, doch ihre Zahl ist noch recht beschränkt und der Prozentsatz von gemischten Ehen bleibt sehr hoch. Wie sehen Sie die Entwicklung der jüdischen Gesellschaft in Russland ? Diese Frage ist ganz besonders heikel, denn ich kann Ihnen nur in bezug auf unsere Hoffnungen antworten. Wir möchten alle daran glauben, dass Russland heute ein wirklich demokratisches Land ist. Es ist heute unmöglich mit Bestimmtheit zu sagen, ob es für die Juden ein jüdisches Leben und eine Zukunft geben kann oder nicht. Wir wissen es einfach nicht. Wir arbeiten und handeln mit dem Ziel, so gut wie möglich auf die Bedürfnisse der jüdischen Bevölkerung einzugehen und hoffen dabei, auf diese Weise eine lebendige und gut organisierte Gemeinschaft für die Zukunft vorzubereiten. Man muss wissen, dass in allen Ortschaften mit 50'000 Einwohnern in Russland Juden wohnen, obwohl es fast kein Gemeindeleben gibt. In zahlreichen Städten zählt die jüdische Bevölkerung drei- oder viertausend Personen. Es stellt sich die Frage der lokalen Koordination, da die Juden über die Stadt verstreut leben und es schwer ist, sie zusammenzubringen. Darüber hinaus betrachte sich viele von ihnen nicht mehr als Juden. Wie steht es um den Antisemitismus ? Im Gegensatz zur kommunistischen Epoche sind der staatliche und institutionalisierte Antisemitismus verschwunden. Trotz allem leiden wir unter offenem und organisiertem Antisemitismus, der Staat unternimmt nichts zur Bekämpfung faschistischer und offen judenfeindlicher nationalistischer Gruppen. Sie haben gesagt, dass die Glaubensfreiheit heute gewährleistet ist. Gilt dies auch für die rituelle Schächtung ? Im Rahmen unserer Gemeinde besteht die Möglichkeit, alle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen - von der Beschneidung bis zur Beerdigung ! Die rituelle Schächtung ist zwar genehmigt und legal, doch aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten bleibt ein Problem weiterhin bestehen, das Problem nämlich, Schlachttiere zu finden ! Zum Abschluss möchte ich sagen, dass es uns dank der Gründung des "Verbands russischer Juden" gelungen ist, uns aus dem chronischen finanziellen Engpass zu befreien. Heute können wir mit Gelassenheit eine Reihe von Projekten in Angriff nehmen, wodurch unsere Aufgabe erleichtert wird. Der Grossrabbiner Russlands, Adolf Shaevich, hat uns ein sehr allgemeines Bild vom jüdischen Leben im Jahr 1997 in Russland vermittelt. Wir haben beschlossen, seinen Bericht durch zwei konkrete Beispiele zu veranschaulichen: die jüdischen Gemeinden in Moskau und in Sankt Petersburg. In Moskau wurden wir sehr herzlich von PINCHAS GOLDSCHMIDT, dem Grossrabbiner der Stadt empfangen, der aus Zürich stammt und sein Amt in Moskau seit sieben Jahren ausübt; ausserdem ist er Präsident der rabbinischen Gerichte für das gesamte GUS-Gebiet. Welches sind die wichtigsten Sorgen und Tätigkeiten des Grossrabbiners von Moskau ? Wir schätzen, dass 300'000 Juden in Moskau leben, wobei ca. 10'000 von ihnen in irgendeiner Art mit dem Gemeindeleben verbunden sind. Dies bedeutet, dass sie entweder von Zeit zu Zeit an einer unserer Aktivitäten teilnehmen (G'ttesdienste, Feste usw.), oder dass sie ihre Kinder in eine jüdische Schule schicken. Unsere grösste gegenwärtige Herausforderung betrifft die Rekrutierung neuer Mitarbeiter und Mitglieder, und zu diesem Zweck haben wir ein Dreipunkteprogramm ausgearbeitet. Der erste Punkt ist sozialer Natur. Wir gehen davon aus, dass dreissig- bis vierzigtausend ältere Menschen Anspruch auf Sozialhilfe hätten. Ihr monatliches Einkommen liegt im Schnitt zwischen US$ 60,-- und 120,--, obwohl für ein normales Leben eigentlich ein Mindesteinkommen von US$ 300,-- notwendig wären. Dieses Sozialprogramm wird vom "American Joint Distribution Committee" und der "Claims Conference" finanziert; das diesjährige Budget beträgt zwei Millionen Dollar. Diese Mittel werden vier Organsiationen zur Verfügung gestellt : dazu gehören "Hama", die über eine Volksküche verfügt, "Bikur Cholim", die sich um Hauspflege kümmert, eine Lubawitscher Organisation, die mit der Verteilung von Lebensmitteln in den Haushalten beauftragt ist, und schliesslich "Yad Ezra" für Haushalthilfe. Dazu muss gesagt werden, dass ca. 40% der Gemeinschaftsmitglieder das Pensionsalter überschritten haben. Der zweite Punkt unseres Programms betrifft den Bau eines Gemeindezentrums gegenüber der Grossen Synagoge von Moskau mit einer Fläche von ungefähr 8'000 m2, das verschiedenen Aktivitäten der Gemeinde zugute kommen soll. Parallel dazu errichtet die Lubawitscher Organisation ein eigenes Zentrum, das ungefähr gleich gross sein wird. Unser dritter Punkt soll die Juden dem Gemeinschaftsleben näher bringen und befasst sich mit der Dezentralisierung der Aktivitäten mit Hilfe von "Minjanim" (G"ttesdienste) in der ganzen Stadt. Einer der grossen Märkte von Moskau beispielsweise befindet sich ganz in den Händen der aus Aserbaidschan stammenden Juden. Wir haben folglich beschlossen, neben diesem Markt eine kleine Synagoge zu eröffnen. Wir haben diese Vorgehensweise gewählt, weil es in Moskau kein eigentliches Judenviertel gibt wie in den anderen grossen europäischen Städten. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass sich in den kommenden Jahren derartige Quartiere bilden werden. Obwohl Sie sich um so zahlreiche Rentner kümmern müssen, steht doch auch die Jugend im Vordergrund. Wie identifizieren sich die jungen Juden Moskaus mit ihrem Judentum ? Wir stehen vor einer grundlegenden Frage, welche die Mentalität der russischen Juden betrifft. Man muss sich bewusst sein, dass die Idee, Jude zu sein, immer als etwas durch und durch Negatives und Gefährliches angesehen wurde. Zu einer gewissen Zeit verkörperte das Judentum einen wirtschaftlichen Vorteil, da man sich in Israel, Amerika oder... in Deutschland niederlassen konnte. Heute ist dieser Vorzug verschwunden : Russen, die Israelis geworden waren und es in Israel nicht geschafft haben, kehren nach Russland zurück, um hier Geschäfte zu machen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und in dieser Zeit des "wilden" Kapitalismus stellen sich die Russen folgende Frage : "Lohnt es sich, Jude zu sein ?" Hier müssen wir nun ansetzen und beweisen, "dass die Tatsache, Jude zu sein, positiv sein kann und dass das Judentum daher von Vorteil ist". Dieses Konzept setzt sich langsam durch und wird anerkannt, allmählich gelangt es auch in die Köpfe der Menschen, was eine kleine Revolution darstellt. Ich möchte betonen, dass die Schaffung des "Verbands russischer Juden" durch einflussreiche Geschäftsleute der Klasse der "neuen russischen" Juden bewiesen hat, dass die Tatsache, Jude zu sein und diesem grossen Volk mit einem eigenen Staat anzugehören, an sich sehr konstruktiv ist. In diesem Sinne treten wir an die Jugend heran und erfüllen unsere Aufgabe. In der Stadt Peters des Grossen sind wir MENACHEM-MENDEL PEWZNER, dem Grossrabbiner von Sankt Petersburg, begegnet, der uns das jüdische Leben in seiner Stadt bereitwillig beschrieben hat. Könnten Sie in wenigen Worten das Leben der Juden in Sankt Petersburg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion charakterisieren ? In Sankt Petersburg (insgesamt 5 Millionen Einwohner) leben ca. 100'000 Juden, doch nur ein kleiner Teil von ihnen nimmt in irgendeiner Form an den Veranstaltungen der Gemeinde teil. Wie überall sonst in Russland erwacht das jüdische Leben gerade erst zu einer Renaissance, und in diesem Stadium lassen sich seine Entwicklung, seine endgültige Form und Struktur noch nicht voraussagen. Noch vor wenigen Jahren bestand unser wichtigstes Ziel darin, den älteren Menschen der Gemeinschaft zu helfen, doch heute haben wir unsere Ausrichtung völlig verändert. Unsere Hauptaufgabe ist es, so viele junge Leute wie möglich ins Leben der Gemeinde zu integrieren, d.h. viele Kinder in den jüdischen Schulen (es gibt deren zwei in der Stadt), Sportklubs, Jugendbewegungen und in den Talmudeï Torah aufzunehmen. Ausserdem unternehmen wir alles, damit die jüdische Gemeinde einen offiziellen Status erhält und von den Behörden, mit denen wir gute Beziehungen pflegen, anerkannt wird. Gegenwärtig haben einige junge Geschäftsleute aus Sankt Petersburg sehr viel Erfolg. Wie versuchen, sie für das Gemeinschaftsleben zu interessieren, damit sie uns einerseits finanziell unterstützen, aber auch damit sie sich betroffen fühlen und ein wenig Zeit opfern, um schliesslich führende Positionen in der Gemeinschaft einzunehmen. Es stimmt, dass ein grosser Teil unserer Gemeinde auf unsere materielle und finanzielle Hilfe angewiesen ist, und wir schaffen es, diese Bedürfnisse mit Hilfe des "Joint Distribution Committee" zu erfüllen. Unsere Hauptaufgabe ist jedoch auf die Zukunft ausgerichtet, und einige der "neuen Russen - neuen Juden", wie sie sich selbst nennen, unterstützen uns bereits finanziell und auch durch ihre Arbeit vor Ort. Sie scheinen zu sagen, dass die Zukunft recht vielversprechend aussieht und dass eine organisierte jüdische Gemeinschaft in Russland nichts zu fürchten hat. Wie wird sich die Situation Ihrer Meinung nach entwickeln ? Ich bin tatsächlich überzeugt, dass wir mit der Zeit eine solide und aktive jüdische Gemeinschaft in Russland besitzen werden. Wir wissen nur noch nicht, in welcher Form. Die gegenwärtige Situation ist viel schlimmer als diejenige einer assimilierten Gemeinde im Westen. In Russland gibt es nämlich fast keinen Zugang zu jüdischem Wissen. Wir setzen uns dafür ein, möglichst viele Informationen über das Judentum zu verbreiten, und stellen langsam einige Fortschritte fest. Am vergangenen Chanukkah, zum Beispiel, fanden sich spontan mehrere tausend Leute bei der Synagoge ein, um das Anzünden der Kerzen mitzuverfolgen, und baten darum, auch zu Hause Kerzen anzünden zu können. Wir führen keine Mitgliederliste. Während der gesamten sowjetischen Zeit sind die russischen Juden mit zwei Festen ausserordentlich verbunden geblieben, wenn auch nur symbolisch: mit Pessach, durch die Matza (Symbol der Freiheit), und mit Simchat Torah, da es an diesem Fest überall in der UdSSR Tradition war, am ersten Abend in die Synagoge zu gehen. Am vergangenen Pessach hat unsere Synagoge die Herstellung und den Verkauf von Matzoth organisiert. Wir haben diese Information so gut es ging verbreitet, und es kamen 15'000 Menschen. Da wir kein Mitgliederverzeichnis führen, haben wir jede Person gebeten, ein Formular mit ihrem Namen, dem Namen der Eltern und Freunde usw. auszufüllen. Wir konnten so eine Liste mit 10'000 Haushalten erstellen, die uns für unsere künftige Arbeit und die allmähliche Erweiterung unserer Kontakte dienen wird. Man muss sich im klaren sein, dass fast keine Kenntnisse der Judaistik vorhanden sind - und dies trifft auf ganz Russland zu. Aufgrund der politischen Unstabilität und der Furcht vor einer Rückkehr des aktiven Antisemitismus zögern ausserdem viele Eltern, ihre Kinder beschneiden zu lassen, so dass die meisten von uns durchgeführten Beschneidungen an Erwachsenen vorgenommen werden. Die Leute wissen nicht, was eine Bar-Mitzwah ist, und wir können sie durch unsere verschiedenen Aktivitäten zu diesem Thema informieren und einige dieser Feste feiern. Das Problem der Eheschliessungen ist sehr viel heikler. Wegen der sehr hohen Scheidungsraten in Russland haben wir Hemmungen, die Menschen zu einer religiösen Heirat zu bewegen, denn im Falle einer Scheidung wären sie gezwungen, eine religiöse Scheidung ("Get") durchzuführen, und es besteht keine Gewissheit, dass sie es wirklich tun würden. Die sich aus einer solchen Situation ergebenden Komplikationen wären auf der Ebene der jüdischen Ehegesetzgebung extrem schwer zu regeln. Im Hinblick auf den Tod existiert eine fest verwurzelte Tradition, welche die Einäscherung verlangt. Dies ist in Russland im allgemeinen ein sehr grosses Problem, und diese Einstellung wird sich nur ganz langsam verändern. Alle diese Schwierigkeiten entstammen derselben Quelle, der Ignoranz. Diese wurde jedoch vom kommunistischen Regime bewusst gewahrt und beibehalten, damit die Juden ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten verlören, mit denen jeder Jude sich sowohl auf spiritueller Ebene als auch auf der Ebene des praktizierten Glaubens identifizieren konnte. Darin besteht der Kern des Problems und die Herausforderung, der das gesamte jüdische Volk heute gegenübersteht. Die Unterstützung, die uns die westlichen Juden leisten können, hat nicht nur mit Geld zu tun, obwohl der Bedarf sehr hoch wäre, sondern mit dem Wiederaufbau des jüdischen Gemeindelebens und der Verstärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls mit dem jüdischen Volk. Dies kann durch die Förderung des Dialogs zwischen den Gemeinschaften, aber auch zwischen den Einzelnen geschehen. Im Gegensatz zur früheren Situation sind wir heute in der Lage, Kontakt zu allen Juden herzustellen, sie zu informieren und sie in unsere grosse weltweite Gemeinschaft zu integrieren. Wir haben kein Recht, sie zu verlieren. |