Feminismus und Orthodoxie | |
Von Jennifer Breger* | |
Eine der einschneidendsten Veränderungen des jüdischen Lebens in den letzten fünfzig Jahren betrifft die religiöse Rolle der Frau. Diese Veränderungen sind vor allem in nicht-orthodoxen Bewegungen deutlich sichtbar, die weibliche "Rabbiner" und die totale Gleichstellung im G'ttesdienst akzeptieren. Doch auch bei den orthodoxen Frauen kam es zu bedeutenden Veränderungen; eine in New York veranstaltete Konferenz mit dem Titel "Erste Internationale Konferenz über Feminismus und Orthodoxie, an der tausend Frauen (und auch zahlreiche Männer) teilnahmen, bietet eine gute Gelegenheit, auf die sich verändernde Rolle der orthodoxen Frauen in der heutigen Welt einzugehen.
Schwerpunkt der Konferenz war die Förderung des religiösen und spirituellen Lebens orthodoxer jüdischer Frauen innerhalb des Rahmens des jüdischen Gesetzes. Die Redner hoben die Leistungen orthodoxer Jüdinnen hervor, sprachen Probleme betreffend ihren Status in verschiedenen Regionen an und gratulierten zum beeindruckenden Anstieg des Bildungsniveaus in jüdischen Fächern bei zahlreichen Frauen der Gegenwart. Der wichtigste Vorstoss der Konferenz war die Tatsache, dass Frauen im Judentum als vollwertige Bundespartner, als Empfängerinnn der g'ttlichen Wahrheit auf dem Sinai, und nicht nur als blosse Randfiguren gelten. Die allgemeine Stimmung war ernsthaft, voller Hoffung und Entschlossenheit, als die Redner - darunter neun orthodoxe Rabbiner - verkündeten, dass zwar viele orthodoxe Frauen mit ihrer traditionellen Rolle rundum zufrieden sind, dass aber dennoch innerhalb der Vorschriften der Halacha Raum für Veränderungen der weiblichen Rolle bestehen würde. Die einzige Sitzung, in der Wut und Enttäuschung zum Ausdruck kamen, war diejenige, an der das Problem der Agunot diskutiert wurde. Heutzutage entstehen diese Probleme bei der Weigerung des Ehemannes nach der zivilrechtlichen Scheidung in eine jüdische Scheidung "Get" einzuwilligen, so dass der Frau die Hände gebunden sind und sie sich nicht wieder verheiraten kann, auch wenn - wie dies oft der Fall ist - der Ehemann selbst wieder geheiratet hat. Die Konferenzteilnehmer hörten Berichte von Frauen, die über Erpressung und Druckausübung sprachen und davon, wie die widerspenstigen Männer ihren Status innerhalb der Gemeinschaft wahrten, anstatt geächtet zu werden, wie sie es verdient hätten. Die Redner diskutierten über den Abschluss von Eheverträgen vor oder nach der Heirat, über die zivilrechtliche Rechtsprechung und die Verwendung von Nichtigkeitserklärungen, um Frauen aus dieser Situation zu befreien. Die vielleicht bedeutendste Veränderung für jüdische Frauen der Gegenwart ist die immer grössere Vielfalt von Möglichkeiten für gläubige Frauen, eine solide jüdische Ausbildung zu erhalten. Es hat schon immer gebildete Jüdinnen gegeben. Doch meist waren es Einzelfälle, die in der Regel aus Gelehrten- oder Rabbinerfamilien stammten und von ihren Vätern oder Ehemännern unterrichtet wurden. Die grosse Masse der jüdischen Frauen war jedoch kaum ausgebildet, und ihre Kenntnisse der jüdischen Quellen wurden durch Texte wie Ze'ena Re'ena in Osteuropa vermittelt. Noch vor einer Generation glaubten viele orthodoxe jüdische Eltern, dass nur ihre Söhne eine fundierte jüdische Erziehung brauchten, was bedeutete, dass die weltliche Schulbildung vieler Mädchen viel besser war als ihr jüdisches Wissen. Dies hat sich nun verändert. Fast alle amerikanischen orthodoxen Familien schicken sowohl ihre Söhne als auch ihre Töchter in jüdische Tagesschulen. Darüber hinaus besuchen die meisten amerikanischen Tagesschul-Absolventinnen während eines Jahres israelische Seminare, gleich wie Jungen eine Jeschiwah besuchen. Die Ausbildungsangebote in jüdischen Fächern stehen heute allen Jüdinnen offen, nicht nur an Tagesschulen, sondern auch in unterschiedlichen Strukturen des höheren jüdischen Bildungsweges. In Israel fand eine explosionsartige Verbreitung von Instituten, wie beispielsweise Michlalah, Midreschet Lindenbaum, MaTaN und Nischmat statt: in Amerika gibt es Drischa, seit bereits achtzehn Jahren, und das Stern College. Das grösste Vorbild aller jüdischen Studentinnen, ja aller Studenten jüdischer Fächer, ist Nechama Leibowitz, eine hervorragende Torahlehrerin und Textinterpretin, die vor kurzem im Alter von 95 Jahren in Jerusalem gestorben ist. In diesen Institutionen sowie in den Tagesschulen selbst ist der Lehrplan sehr unterschiedlich. Man streitet sich darüber, ob Mädchen den Talmud studieren sollen, doch die modernen orthodoxen Gläubigen verlangen ein vollständiges Programm, so dass die Mädchen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in einer Reihe von verschiedenen Fächern entwickeln, darunter auch in jüdischem Denken und in Philosophie. Das Schwergewicht liegt auf dem Erwerb von textbezogenen Fähigkeiten, um die Quellen selbständig lesen zu können. Auf allen Stufen werden Ganztages- und Teilzeitlehrgänge angeboten. In den letzten Jahren haben die orthodoxen Juden in Amerika und anderswo manche Veränderung im Hinblick auf die Frauen erlebt. Ein Bereich betrifft die Feste des Lebenszyklus'. In Büchern über die jüdische Lebensweise wird berichtet, wie die Frau von Geburt zur Bat Mitzwah, dann zu Hochzeit und Tod überging. Heute gibt es in den meisten orthodoxen Familien eine Feier, wenn das Mädchen mit zwölf Jahren die religiöse Volljährigkeit erreicht. Immer öfter finden auch Feiern zur Namensgebung für Mädchen statt, um das Kind in der Gemeinschaft willkommen zu heissen. Einige Frauen übernehmen auch selbst die Pflicht, in der Synagoge Kaddisch zu sagen, wenn sie einen Verwandten verloren haben. Umstrittener, aber dennoch immer häufiger ist die Teilnahme von orthodoxen Frauen an Gebetsgruppen, Megillah-Lesungen und Hakafoth an Simchat Torah, immer im Rahmen der Halacha-Vorschriften. Die Organisatoren von Gebetsgruppen für Frauen waren vorsichtig genug, sich nicht Minjan zu nennen. Sie rezitieren auch nicht "Barechu", "Keduschah", "Wiederholung der Amidah" oder irgendeines der Gebete, das eine Minjan erfordert. Gegner dieser Gebetsgruppen wenden ein, dass die Frauen, wenn sie mit einer normalen Gemeinde beten, das Gebot des Gebets vollkommen erfüllen, da sie in diesem Moment alle oben erwähnten Gebete sagen können; durch die Schaffung ihrer eigenen Gruppen sondern sie sich aber von der Gemeinschaft ab und verzichten freiwillig auf die Erfüllung ihrer Gebetsforderungen. Die Tefillah-Gruppen für Frauen unterscheiden sich nur wenig von der Gepflogenheit in allen orthodoxen Schulen und Universitäten, dass die Mädchen für sich allein beten. Da sie nicht zum öffentlichen Gebet verpflichtet sind, ist es für sie nicht von Nachteil, wenn sie "Barechu" usw. nicht hören. Die meisten Gruppen treffen sich sowieso nur einmal im Monat, um nicht von ihren Familien und der übrigen Gemeinde getrennt zu sein. Einige Gruppen führen Torah-Lesungen durch, doch betonen dabei, dass dies einer Torah-Lesung mit einem Minjan nicht gleichgestellt sei, sondern eigentlich einer öffentlichen Studierstunde entspreche. Obwohl in dieser Hinsicht viele irrtümliche Meinungen bestehen, gibt es keinerlei Verbot für Frauen, ein Sefer Torah zu berühren oder aus ihr zu lesen. Einer der Konferenzteilnehmer bemerkte, das Judentum sei keine Religion des Zuschauens, sondern der aktiven Teilnahme. Es gibt viele Möglichkeiten für eine orthodoxe Synagoge, einfühlsamer auf die Bedürfnisse von Frauen einzugehen. Da ich in einer Synagoge mit einem Frauenbalkon aufgewachsen bin, war ich nicht darauf vorbereitet, in welchem Ausmass es wirklich schwierig ist, in einer Schul mit einer schweren und hohen Mechitzah (Trennwand) dem G'ttesdienst zu folgen oder sich innerlich beteiligt zu fühlen. Eine Schul mit einer Mechitzah braucht die Frauen nicht "auf die hinteren Ränge " zu verbannen. Eine Synagoge kann in ihrer Konstruktion "gleichwertige Blicklinien" aufweisen, wobei die Mechitzah schnurgerade mitten durch die Schul führt, so dass die Frauen alles gut sehen können und sich nicht isoliert fühlen. Da als Erklärung für die Trennung der Geschlechter angegeben wird, die Männer sollten nicht von den Frauen abgelenkt werden, besteht kein Grund, wieso die Mechitzah nicht aus einem "einseitig durchsichtigen" Glas gefertigt sein sollte, so dass die Frauen sich auch als Teil des G'ttesdienstes empfinden. Ein Rabbiner erzählt an der Konferenz, wie in seiner Synagoge das Sefer Torah bei der Herumreichung auch über die Mechitzah gereicht wird, damit sie dort von den Frauen herumgegeben werden kann. In einigen orthodoxen Synagogen spricht das Mädchen an seiner Bat Mitzwah am Schluss des G'ttesdienstes zur gesamten Gemeinde; an anderen Orten ergreift eine Frau auch an gewöhnlichen Schabbaten oder Feiertagen das Wort am Ende oder während einer Pause des regulären G'ttesdienstes. Die Mehrheit der Gegner von Veränderungen, die von verschiedenen orthodoxen Rabbinern gutgeheissen wurden, berufen sich auf die Tatsache, dass die traditionelle Rolle der Frau im Judentum zwar ehrenvoll ist, jedoch eine private und unterstützende Funktion besitzt und auf Bescheidenheit beruht. Es besteht daher kein Bedürfnis der Frauen, die Männer "nachzuäffen". Sie besitzen einen eigenen Weg zu G'tt. Diejenigen, welche Änderungen oder Anpassungen befürworten, werden angeklagt, von äusseren, gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst zu sein, wie z.B. vom Feminismus, und ihre Beweggründe werden ernsthaft in Frage gestellt. Es leuchtet aber ein, dass diejenigen, welche ihre traditionelle Rolle im Judentum beibehalten wollen, dazu in jeder Weise berechtigt sind, während diejenigen, welche ihre religiöse und spirituelle Teilnahme verstärken möchten, das System der Halacha und die Werte der Torah sehr ernst nehmen. Diejenigen Frauen, die an einer öffentlichen Gebetsgruppe für Frauen teilnehmen wollen, beten üblicherwiese regelmässig. Während der Konferenz waren die G'ttesdienste morgens und nachmittags bis auf den letzten Platz belegt. Die Gegner von Veränderungen berufen sich oft darauf, dass etwas zwar von der Halacha erlaubt werden kann, jedoch trotzdem gegen die Gebräuche und Werte des Judentums verstösst, doch hier ist alles in Bewegung. Wenn Frauen ausserhalb der Familie berufliche Positionen einnehmen und innerhalb der Familie die Verantwortung teilen, besteht z.B. kein Grund, dass eine Frau keinen Kiddusch oder die Beracha über der Challah machen und am Freitag abend verteilen sollte, wenn die Familie dies wünscht. Vom Standpunkt der Halacha aus ist dies sicher richtiger als die traditionelle Ansicht, dass bei Abwesenheit des Ehemannes am Schabbat entweder ein Nachbar kommen muss, damit sie Kiddusch hören kann, oder sie ohne ihn auszukommen hat. Kiddusch ist ein Gebot und betrifft Männer und Frauen gleichermassen. Wie bereits erwähnt wurde, liegt die Ursache und die treibende Kraft für diese Veränderungen eher beim höheren jüdischen Ausbildungsniveau, den Frauen heute genossen haben und welche damit ihren Glauben bereichern wollen, als bei einem anderen Grund. Frauen befassen sich mit dem Quellenstudium, um ihre Pflichten und Verantwortungen innerhalb des Halacha-Systems besser zu verstehen. Die Klassen für das Torah-Studium an der Konferenz waren überfüllt, wenn Themen wie die Kopfbedeckung für Frauen oder das Verbot für Männer, Frauenstimmen zu hören, auf dem Programm standen. Es entstanden Diskussionen über die Verwendbarkeit und den Gebrauch des Satzes "wegen der Ehre der Gemeinschaft", der oft als Begründung für die Einschränkung von weiblichen Aktivitäten im Bereich des Glaubens angeführt wird. Alle diese Gespräche entstanden innerhalb der Torah-Gemeinschaft und waren eher suchender als drohender Natur. Was gibt es über die zukünftige Rolle der Frau im orthodoxen Judentum zu sagen ? Sie ist schwer vorauszusehen. Die traditionellen Grenzen werden sich verschieben, je mehr die Frauen ihre Kenntnisse in bezug auf den Talmud und die jüdischen Studien erweitern, werden sie führende Positionen übernehmen. Einige Frauen besitzen bereits einen Doktortitel in Talmudstudien und wirken als Talmudlehrerinnen. Das "Drisha Institute" in New York bietet zur Zeit ein dreijähriges Ausbildungsprogramm mit einem Zertifikat in Talmud und jüdischem Recht und als "Kollel" für weiterführende Studien an. In Israel hat Rabbiner Riskin aus Efrat ein Programm zur Ausbildung von 24 Frauen als "Poskot" oder Halacha-Autorität für Fragen in bezug auf die Gesetze der Familienreinheit und der Kaschruth ins Leben gerufen. In New York soll ein vor kurzem angekündigter Lehrplan namens "Torat Mirjam" ausgebildete orthodoxe Frauen in den Ideologien und Traditionen der modernen Orthodoxie unterrichten, damit sie später als Lehrerinnen, Beraterinnen, Poskot und rabbinische Fürsprecher wirken und Frauen in Angelegenheiten von Eheschliessung und Scheidung vor einem Beth Din beraten können. In Israel gibt es bereits solche "Toanoth". Wird es je Frauen im orthodoxen Rabbinat geben ? Dies wirft ernsthafte Probleme der Halacha auf. Doch bei traditionellen Juden existiert eine Bewegung zwischen Konservativen und Orthodoxen, um ein Programm auszuarbeiten, damit Frauen einen dem Rabbiner ähnlichen Status erlangen können, ohne dass darin Funktionen eingeschlossen würden, die eine Frau gemäss der Halacha nicht erfüllen kann, wie beispielsweise das Gebet für die Gemeinde oder das Fungieren als Zeuge. Diese Wege haben alle eindeutig das Ziel, dass ausgebildete orthodoxe Frauen auf bestimmten Gebieten Erfahrungen sammeln und einen höheren Status erreichen können. Nach der Konferenz blieb der Eindruck, den der Einsatz und die Ernsthaftigkeit der Teilnehmer hinterlassen haben. Die jüdischen Frauen von heute besitzen ein riesiges Potential an Begabung und Energie. In einer Zeit, da die jüdischen Gemeinschaften in der Welt immer stärker schrumpfen, sind diese Fähigkeiten, welche das traditionelle Judentum nur bereichern und nicht bedrohen können, als segensreich zu bezeichnen. * Jennifer Breger ist von Oxford und der Hebräischen Universität in Jerusalem diplomiert. Sie ist Spezialistin für jüdische Bücher und Manuskripte. Sie lebt heute in Washington. |