Von Nedjo nach Princeton | |
Von Roland S. Süssmann | |
Auf den ersten Blick schon ist die Begegnung mit dem Rabbiner und Professor EPHRAIM ISAAC an der berühmten Princeton University von etwas Besonderem umgeben. Diese aus einer anderen Zeit stammende Gestalt, in weisser Djellaba und weisser Netala (eine Art Schal mit Fransen), auf dem Kopf einen purpurroten jemenitischen Gobba, beeindruckt den Besucher nicht durch die Bekleidung, sondern durch einen sanften Blick, weitausholende Gesten, eine natürliche Grosszügigkeit und Bescheidenheit, vor allem aber durch ein unglaubliches, äusserst vielschichtiges Wissen. Am Handgelenk prangt eine diskrete Uhr mit dem Wappen des Königs Hussein von Jordanien, ein Geschenk des Monarchen.
Wer ist denn nun diese herausragende Persönlichkeit, die siebzehn Sprachen spricht (darunter mehrere afrikanische Dialekte, Mandarin, Schwedisch usw.), zwischen denen sie mühelos hin- und herwechselt, mit derselben Leichtigkeit, wie sie sich mit fundiertem Wissen zu so diversen Themen wie Linguistik, Musik, Philosophie oder die Religionen äussert. Bevor wir aber Professor Isaac zuhören, wie er mit seiner üblichen ansteckenden Begeisterung über seine zahlreichen Aktivitäten spricht, wie z.B. die Leitung des "Institute for Semitic Studies" der Universität von Princeton, möchten wir kurz über seinen Lebensweg berichten. Es ist natürlich unmöglich, ein an Ereignissen und Vorfällen so reiches Leben in wenigen Sätzen zusammenzufassen, die wichtigsten Punkte werden jedoch erwähnt. Ephraim Isaac wurde in der kleinen Stadt Nedjo in der Provinz Wellega geboren, die sich in Westäthiopien befindet. Sein Vater, ein aus Aden gebürtiger jemenitischer Jude, war Rabbiner und Goldschmied. 1905 verlässt er Jemen und lässt sich in der Stadt Dire Dawa in Ostäthiopien nieder, wo er einen Posten als Rabbiner annimmt. Nach einer dubiosen rabbinischen Gerichts- und Racheaffäre wurde Rabbi Isaac von einem adligen Äthiopier gezwungen, bei ihm zu arbeiten und seinen gesamten Schmuck und sein Silberbesteck zu entwerfen und herzustellen. Erst nach sieben Jahren harter Arbeit, die an Sklaverei grenzte, wurde er wieder entlassen. Er beschloss, in Äthiopien zu bleiben, wo er seine spätere Frau traf, die er zum Judentum bekehrte. Rabbi Isaac glaubte in erster Linie an die positive Wirkung des Studiums, so dass der kleine Ephraim mit zwölf Jahren schon fliessend Oromigna, Amharic, Ge'ez (Altäthiopisch, mit dem Hebräisch verwandt und heute eine tote Sprache) und Hebräisch sprach. Er verliess damals die öffentliche Schule zugunsten einer schwedischen Missionarsschule, bevor er später ins Gymnasium Haile Selassie in Addis Abeba eintrat. Als er die Maturität bestand, war er neben den Sprachen, die er als kleines Kind gelernt hatte, auch mit der französischen, der englischen und der lateinischen Sprache vertraut. 1957 erhielt Ephraim Isaac nach zwei Jahren Studium am University College von Addis Abeba ein Stipendium für die Vereinigten Staaten. Er wurde am "Concordia College" von Minnesota aufgenommen, wo er sein Studium in Philosophie, Chemie und Musik fortsetzte und in diesen Fächern ein Lizentiat (B.A.) erlangte. Er übersetzte sogar den Messias von Händel in Amharic und dirigierte die Premiere dieses Werkes im Palast des Kaisers Haile Selassie I in Anwesenheit des Negus. Zwei Jahre später erhielt er als einer von wenigen jungen Äthiopiern ein Stipendium in Harvard, wo er 1963 das Diplom eines "Bachelor of Divinity" besteht. Ephraim Isaac spezialisiert sich später auf die verschiedenen orientalischen Sprachen und wird zu einem Fachmann für ge'ez, amharische, griechische, lateinische und hebräische Literatur. 1969 erhält er als erster Äthiopier den Doktortitel (Ph.D.) der Universität Harvard und betreut auch als erster Harvardprofessor den Lehrstuhl für afroamerikanische Studien. Von diesem Tag an konnten sein Aufstieg und seine akademische Karriere durch nichts mehr aufgehalten werden. Professor Isaac lehrte an den berühmtesten Universitäten der Welt. Kurse, Seminare, Konferenzen und unzählige Publikationen verkörpern sein tägliches Brot, und von seinen acht Büchern gelten einige schon als wahre Referenzwerke: "A History of Religions in Africa" sowie die Bücher, die er infolge seiner Tätigkeit innerhalb des Teams veröffentlichte, das sich mit den Handschriften des Toten Meers befasste, wie beispielsweise "Dead Sea Scrolls Fragments of the Book of Enoch", das gegenwärtig in einer zweiten überarbeiteten Auflage vorbereitet wird. Neben seinen rein akademischen Tätigkeiten hat Professor Isaac eine bedeutende Alphabetisierungskampagne in Äthiopien lanciert, von der über anderthalb Millionen Menschen profitiert haben. Er ist auch auf dem Gebiet der Integration der äthiopischen Juden in Israel sehr aktiv. Darüber hinaus spielt er bei der Befreiung und Eingliederung der Juden aus Jemen eine wichtige Rolle. Er geht davon aus, dass diese beiden Gesellschaften dank dem Respekt füreinander einen unermesslichen Reichtum an Menschlichkeit in sich tragen, und dass man aus ihnen lernen kann, wie eine herzlichere und brüderlichere israelische Gesellschaft auszusehen hat. Immer wieder pflegt er zu sagen: "Der technologische Primitivismus ist nicht gleichzusetzen mit einem Mangel an Bildung oder menschlicher Sensibilität. Es ist nämlich sehr viel einfacher zu lernen, wie man einen elektrischen Schalter betätigt, als wie man gute zwischenmenschliche Beziehungen pflegt." Professor Isaac kämpft in den Vereinigten Staaten unermüdlich für das gute Einvernehmen zwischen der schwarzen und der jüdischen Gemeinschaft. Er meint, dass sowohl die Schwarzen als auch die Juden Opfer der Vorurteile und der Verfolgungen waren und deshalb beide Gruppen zum Wohle der Menschheit zusammenarbeiten sollen. Durch seine Kontakte (er ist mit Louis Farrakhan zusammengetroffen) und vor allem durch seine Schriften versucht Professor Isaac, einen grossen Teil der Klischees zu zerstören, welche die antisemitische Propaganda der Schwarzen nähren, wie z.B. die Annahme, dass die Juden zu den grössten Sklavenhändlern «MDNM»gehörten oder der Rassismus sich auf den Talmud zurückführen lässt. Ephraim Isaac hat selbst sowohl unter dem Rassismus gegen die Schwarzen wie unter dem Antisemitismus gelitten. Sein Vater wurde von den Truppen Mussolinis einzig deshalb verhaftet, weil er Jude war. In der ersten Zeit in Harvard hatte er es mit einem "wohlmeinenden" Kollegen zu tun, der versucht hatte, seine Kurse von den afroamerikanischen Studenten boykottieren zu lassen, da er schliesslich nur ein "schwarzer Jude", aber kein "echter Afrikaner" sei. Auch zahlreiche Mietverträge wurden ihm aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe verweigert. Doch im Gegensatz zu zahlreichen Opfern von Vorurteilen hat Professor Isaac beschlossen, seine schmerzlichen Erfahrungen in den Dienst eines besseren Einvernehmens zwischen den Menschen zu stellen. Es ist unmöglich, eine vollständige Liste der verschiedenen Tätigkeiten von Professor Isaac zu erstellen. Heute widmet er jedoch den grössten Teil seiner Zeit dem von ihm gegründeten "Institute for Semitic Studies" der Universität Princeton, dessen Dekan er ist. Erinnern wir uns daran, dass die sogenannten "semitischen" Sprachen, die so heissen, weil sie von den angeblichen Nachfahren von Schem, dem Sohn Noahs, gesprochen werden, nicht nur Hebräisch und Arabisch, sondern auch Aramäisch, Assyrisch, Babylonisch, Ge'ez (klassisches Äthiopisch), Edomitisch, Punisch, Phönizisch, Tigrinya, Ugaritisch sowie ca. fünfzig andere Sprachen umfassen , von denen einige nicht mehr gesprochen werden. Können Sie uns in wenigen Worten vom Institut für semitische Sprachen berichten, das Sie in Princeton leiten ? Bis zum Zweiten Weltkrieg interessierten sich die Amerikaner kaum für die semitischen Sprachen, die an den Universitäten ausschliesslich im Rahmen der theologischen Ausbildung gelehrt wurden. Nach dem Krieg tauchte Arabisch ganz allmählich im Zusammenhang mit der Politologie auf. Die Linguistik, Kultur, Geschichte und Literatur der semitischen Sprachen waren jedoch nicht in diesen Studiengang integriert. Obwohl das Hebräische und das Arabische heute an den grossen Universitäten der USA gelehrt werden, existiert mit Ausnahme unseres Institutes kein anderer Ort in Amerika, an dem die Grundlagen der semitischen Sprachen studiert werden, wie dies zum Beispiel im CNRS in Paris der Fall ist. Vor zehn Jahren haben eine Gruppe von Professoren aus Harvard, Berkeley, der Universität von Pennsylvania und ich selbst aus Princeton in einer Diskussion die Grundlagen zu meinem Institut gelegt. Es wurde 1985 eröffnet und ist nicht für Studenten bestimmt, sondern für Akademiker, die bereits über ein Lizentiat verfügen oder Professoren sind. Neben der reinen Forschung veröffentlichen wir auch das "Journal of Afro-Asiatic Languages" über die semitischen und afroasiatischen Sprachen, die der verstorbene Professor Marcel Cohen von der Sorbonne die hamitosemitischen Sprachgruppe nannte, zu der gewisse äthiopische Sprachen, Kuschit, Ägyptisch, die Berbersprache und die semitischen Sprachen gehören. In den USA wird diese Sprachengruppe "afroasiatisch" und nicht "hamitosemitisch" genannt. Wir laden regelmässig Professoren ein, die sich ein Semester lang dem Studium und der Forschung in einem Bereich widmen möchten, auf den unser Institut spezialisiert ist, ohne nebenher unterrichten zu müssen. Es treffen ständig Anfragen aus aller Welt bei uns ein. Leider verfügen wir, wie viele unabhängige Institute, nur über beschränkte Mittel und müssen daher eine strenge Selektion vornehmen. Dies ist auch der Fall, wenn wir Fachleute einladen, sich im Rahmen verschiedener, von uns organisierter Kongresse zu äussern. Man muss sich im klaren sein, dass es in Amerika nur ein sehr geringes Interesse für die Vergangenheit, die Traditionen und humanistische Bildung gibt. Wir haben allerdings eine Reihe von internationalen Konferenzen zu so unterschiedlichen Themen wie "Die Schriftrollen des Toten Meeres", "Irak in der Antike", "Das Alphabet als Technologie", "Dritte internationale Konferenz der jüdisch-arabischen Studien" usw. organisiert. Welches ist der grundlegende Faktor Ihrer Arbeit ? Es geht in erster Linie um die vergleichende Untersuchung zwischen den Sprachen und den Alphabeten der Antike. Es gibt siebzig semitische Sprachen und Dialekte, die aus der Sicht der Schrift in Familien zusammengefasst werden. So haben wir beispielsweise anlässlich eines von uns veranstalteten Symposiums einige Inschriften gezeigt, die auf grossen Steinen und Keramiken aus dem 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stammen. Ein vertieftes Studium der Analyse der Schriftzeichen und des Vergleichs hat uns zum Schluss geführt, dass die Frage nach dem Zeitpunkt, an dem die Griechen das phönizische Alphabet übernommen haben, sehr viel komplizierter ist, als allgemein angenommen wird. Vergessen wir nicht, dass das Alphabet das wichtigste Kommunikationsinstrument verkörpert, das der Mittlere Osten jemals dem Westen überliefert hat. Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Alphabet und der Schrift. Der Mensch drückt sich ausschliesslich mit Hilfe von 22 phonetischen Klängen aus, die dank der Erfindung des Alphabets festgehalten und kodifiziert wurden. Das Alphabet ist eigentlich eine Gruppe ausgewählter und in akrophonischer Reihenfolge sortierter Zeichnungen, d.h. nach dem ersten Laut des Wortes, das die Darstellung bezeichnet, mit welcher ein Klang ausgedrückt wird. So stammt der Buchstabe "A" zum Beispiel vom semitischen Wort "Alph" (Kopf eines Rindes), das "B" von der Darstellung eines Hauses, auf Hebräisch "Beth" usw. Wir haben eine vergleichende Tabelle aufgestellt, um den semitischen Ursprung des lateinischen Alphabets aufzuzeigen. Die Schrift hingegen ist der pikturale und ideographische Ausdruck eines Gedankens, wie dies die ägyptischen Hieroglyphen bezeugen, die nicht alphabetisch sind; es handelt sich um eine Gruppe von Zeichnungen. Dies gilt ebenfalls für die chinesische Sprache, die mehrere tausend Darstellungen umfasst. Wie Sie wissen, spreche ich nach einem einjährigen Aufenthalt in Peking 1973 etwas Chinesisch. Sie setzen sich sehr für eine Annäherung zwischen den Schwarzen und den Juden der USA ein. Sie pflegen regelmässige Kontakte mit den schwarzen Islamisten in Amerika und sind gar Louis Farrakhan begegnet. Was kann konkret unternommen werden, um die Feindseligkeit der Afroamerikaner gegenüber den Juden oder auch nur die Spannungen zwischen beiden Gemeinschaften zu verringern ? Ich denke, diesem Übel liegt ganz einfach Unwissenheit zugrunde. Ich kann als Afrikaner äthiopischer Herkunft begreifen, was die amerikanischen Schwarzen empfinden, aber als Jude bin ich auch in der Lage, die Gefühle meiner jüdischen Glaubensbrüder überall in der Welt zu teilen. Ich besitze alle Voraussetzungen, um beide Seiten zu analysieren und zu verstehen. Meiner Ansicht nach können beide Gruppen miteinander verbunden werden, auch wenn dies nicht einfach ist. Die Lösung liegt einzig und allein in der Förderung des Dialogs, damit beide Gemeinschaften sich kennenlernen. Ich habe in diesem Jahr an der achten Jahreskonferenz von "Race and Ethnicity in American Higher Education" teilgenommen, die in Santa Fe, Mexiko, abgehalten wurde. Zweitausend Menschen mit einem recht hohen akademischen Niveau haben sich meinen Vortrag mit dem Titel "Racism, Anti-Semitism and Academic Responsibility: Toward a Vision of a New Curriculum" angehört. Die Teilnehmer haben anschliessend eine kritische und konstruktive Diskussion aufgenommen, die in meinen Augen zur Zerstörung der Vorurteile beitragen wird, welche beide Gemeinschaften gegeneinander hegen. Abschliessend kann ich bestätigen, dass ich in meiner doppelten Eigenschaft als Jude und Afrikaner, als Rabbiner und Akademiker, meine Gefühle und mein Wissen in den Dienst des Friedens im allgemeinen und Äthiopiens im besonderen stelle. Ich fühle mich ganz besonders betroffen und verantwortlich dafür alles daranzusetzen, das Einvernehmen zwischen den jüdischen und schwarzen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten zu erleichtern und zu verbessern. In Amerika habe ich erfahren was es bedeutet, gehasst und abgelehnt zu werden, sowohl als Jude wie auch als schwarzer Afrikaner wie der letzte Dreck behandelt zu werden. Ich glaube aber nicht, dass ich das Recht habe, meinen Kummer und meine Qual auf die anderen zu übertragen und sie dafür leiden zu lassen. Ich darf es nicht zulassen, dass meine Gefühle Hass erzeugen, ganz im Gegenteil ! In diesem Sinne der Gerechtigkeit und der Toleranz kämpfe ich gegen den Hass, für ein besseres Einvernehmen und für den Frieden. |