Das jüdische Museum Prag
Von Roland S. Süssmann
Die Juden haben sowohl die Blütezeit Prags als auch ihren Niedergang als Zeugen miterlebt. Da sie mit den anderen Einwohnern nicht gleichberechtigt waren, fühlten sie sich nie frei und litten in schwierigen Zeiten immer doppelt so viel wie alle anderen. Dieses zwiespältige Gefühl befällt den Besucher, wenn er die jüdische Altstadt von Prag in den Überresten des jüdischen Viertels aufsucht. Obwohl der grösste Teil des Ghettos einst aus hygienischen Gründen dem Erdboden gleichgemacht worden war, bleibt von der "jüdischen Stadt in Prag" doch ein einheitliches Bild aus jüdischen Gebäuden und Einrichtungen: der Alte Jüdische Friedhof mit seinen 12'000 Grabsteinen (fast 80'000 Tote in übereinanderliegenden Erdschichten), die 1270 erbaute Alt-Neuschul-Synagoge, die älteste noch benutzte Synagoge Europas, die Spanische Synagoge, der Festsaal, die Maiselova-Synagoge, die Hohe Synagoge, das jüdische Rathaus, die Pinkasova-Synagoge und die Klausova-Synagoge. Alle diese Gebäude verkörpern im wesentlichen ein Ganzes, das heute unter einem einzigen Namen zusammengefasst ist: "JÜDISCHES MUSEUM PRAG".
Wir werden an dieser Stelle keine genaue Beschreibung jedes der herrlichen Objekte abgeben, die Teil dieses auf der Welt einzigartigen jüdischen Museums sind, dazu kann man sich einen Reiseführer kaufen. Wir haben uns hingegen mit Dr. LEO PAVLAT unterhalten, dem Museumsdirektor, einem ehemaligen Verleger und Diplomaten. Unter dem kommunistischen Regime gehörte Dr. Pavlat der Widerstandsbewegung der jüdischen Intellektuellen des Landes an. Während die Institution der jüdischen Gemeinde von der Geheimpolizei unterwandert worden war, lernten der dissidente Student Leo Pavlat und seine Freunde heimlich Hebräisch und veröffentlichten die einzigen jüdischen "Samisdat" in hebräischer und tschechischer Sprache, die in Osteuropa existierten. So brachten sie die Werke über Raschi , die Bücher von Isaak Baschevis Singer und von vielen anderen in Umlauf. Sofort nach dem Ende der "Samtrevolution" wurde Dr. Leo Pavlat zum Zweiten Sekretär der tschechischen Botschaft in... Israel ernannt, wo er vier Jahre lang wohnte und wo seine zweite Tochter geboren ist. Nach seiner Rückkehr in die Tschechische Republik 1994 machte man ihn zum Leiter des jüdischen Museums in Prag, und diese Funktion übt er heute noch aus.


Die Geschichte der Sammlung des jüdischen Museums in Prag ist aussergewöhnlich. Könnten Sie uns einen kurzen Abriss darüber geben ?

Das Museum wurde eigentlich 1906 gegründet, doch seine wirkliche Besonderheit entwickelte sich im Verlauf des Zweiten Weltkriegs, als die Deutschen in Prag alle jüdischen Gegenstände zusammentrugen, die sie in den von ihnen zerstörten Synagogen und Gemeinschaften erbeutet hatten, was eine beeindruckende Menge von mehreren tausend Objekten ausmachte. Es handelt sich um die grösste Judaika-Sammlung der Welt ausserhalb Israels. Man geht in der Regel davon aus, dass die Deutschen diese Sammlungen zusammenrafften, um nach dem Krieg ein Museum über die erloschene und vernichtete jüdische Rasse zu gründen. Es wurde nie bewiesen, ob sie tatsächlich diese Absicht hatten. Einige Hypothesen gehen davon aus, die jüdische Gemeinschaft hätte den Deutschen angesichts der Tatsache, dass alle Gegenstände von ihnen konfisziert wurden, den Vorschlag gemacht, diese Aufgabe zu "übernehmen", was die Deutschen aus unerfindlichen Gründen akzeptiert hätten. Wie dem auch sei, es handelt sich um eine durch ihre Schönheit, aber auch durch ihre Vielfalt und vor allem ihren Umfang in der Welt einzigartige Kollektion. Ein noch bewegenderer und tieferer Aspekt zeichnet unser Museum jedoch wirklich vor allen anderen aus: die Deutschen hatten die Gegenstände zunächst numeriert und aufgelistet... dazu aber auch die Männer, Frauen und Kinder, die oft die Eigentümer dieser Objekte waren. Aus diesem Grund sehen viele von uns das jüdische Museum in Prag nicht nur als ein einfaches Museum, sondern als grosses, lebendiges Denkmal für das Andenken an die Opfer der deutschen Greueltaten an. Jeder Gegenstand unserer Sammlung stammt aus einer jüdischen Gemeinde oder Familie Böhmens oder Mährens. Wir wissen nicht immer genau, wer die einzelnen Besitzer waren, doch was die Stücke angeht, die aus Synagogen stammen, die Sifrei Torah und ihre Verzierungen oder die Stoffe, so können wir ihre Herkunft im allgemeinen definieren. Im Bereich der Textilien besitzen wir den ältesten bekannten Parochet (Vorhang der Heiligen Lade) der Welt, da er aus dem Jahr 1592 stammt, sowie eine ununterbrochene Reihe von Kultgegenständen aus Stoff bis ins 19. Jahrhundert. Auch unsere Sammlung von Drucken und Manuskripten ist herrlich.


Was ist am Ende des Zweiten Weltkriegs passiert ?

Während der Schoah wurden 77'297 tschechische Juden, d.h. 90% der Gesamtzahl, umgebracht. Unmittelbar nach dem Krieg und bis ins Jahr 1950 stand das Museum unter der Kontrolle der Vereinigung jüdischer Gemeinden. 1948 kamen die Kommunisten in der Tschechoslowakei an die Macht, und zwei Jahre später wurde das Museum von den Behörden konfisziert; die offizielle Version allerdings lautete, das Museum sei "dem Staat von der Vereinigung geschenkt" worden ! 1950 wurde es zum "Jüdischen Staatsmuseum". Es ist jedem bekannt, dass das Museum stark vernachlässigt wurde, so dass es heute zahlreiche kostbare Objekte gibt, die "unauffindbar" sind... Wir wissen jedoch, dass sie in Westeuropa regelmässig auf den Schwarzen Märkten für Judaika auftauchen. Nicht selten werden mir von Verkäufern Objekte angeboten, die noch mit der Kollektionsnummer aus unserem Katalog versehen sind. Ich kann natürlich nicht beweisen, dass es sich um Diebesgut handelt, da sie oft in bestem Glauben erworben wurden. Diese Erfahrung ist sehr bitter und unangenehm. Es besteht kein Zweifel daran, dass unsere Sammlung im Vergleich zum Inventar vor der Übernahme des Museums durch die kommunistische Verwaltung viel ärmer geworden ist. 1994, fünf Jahre nach dem Fall des kommunistischen Regimes, verwarf das tschechische Parlament das Gesetz zur Zurückerstattung jüdischen Eigentums. Aufgrund eines Regierungsentscheides wurde jedoch ein Teil dieses Vermögens zurückgegeben, und so gelangte auch das Museum wieder in die Hände der Gemeinschaft. Am 1. Oktober 1994 erhielt das Museum offiziell den Namen "Jüdisches Museum Prag" und hiess nicht mehr "Jüdisches Staatsmuseum". Wir sind nun eine rechtlich eingetragene, völlig unabhängige und vor allem nicht mehr staatliche Institution. Der Verwaltungsrat besteht aus fünf Personen: zwei Vertreter der jüdischen Gemeinde von Prag, zwei Vertreter der Vereinigung jüdischer Gemeinschaften der Tschechischen Republik und ein Vertreter des Kultusministeriums. Unser Museum befindet sich nicht unter einem einzigen Dach, es ist über alle historischen Synagogen des jüdischen Viertels verteilt. Wir sind für die Gebäude zuständig, den Alten Friedhof eingeschlossen, doch in Wirklichkeit gehört alles der israelitischen Gemeinde von Prag. Das Haus, in dem heute die Museumsverwaltung untergebracht ist, beherbergte vor dem Zweiten Weltkrieg die jüdische Schule und diente während des Krieges den Nazis als Verwaltungsgebäude für alle Belange im Zusammenhang mit der Kontrolle des zentralen jüdischen Museums. Die eigentliche Sammlung gehört der Vereinigung jüdischer Gemeinschaften. Dazu muss man wissen, dass es vor dem Krieg in Böhmen und Mähren 202 jüdische Gemeinden gab, von denen 153 nach dem Krieg nicht mehr aktiv sein konnten, da sie vollkommen vernichtet worden waren. Heute gibt es nur noch zehn Gemeinden, doch eigentlich müssten wir von einer einzigen sprechen, derjenigen in Prag, denn sie bietet die drei Pfeiler an, welche das Fundament jeder Gemeinde darstellen: das Studium, die Mikweh (rituelles Bad) und die Kaschruth sind nur noch in Prag vorhanden.
Technisch und juristisch gesehen gehört die Sammlung des Museums dem tschechischen Judentum, doch wir gehen davon aus, dass es sich um ein grundlegendes und kostbares Element im Erbe des jüdischen Volkes handelt. Wir setzen uns nach Kräften ein, um die Sammlung zu betreuen und die Gebäude zu renovieren, was finanziell nicht immer einfach ist. Wir werden jedes Jahr von über 600'000 Touristen besucht, was unser Betriebskapital beträchtlich unterstützt.


Unter dem kommunistischen Regime besass dieses "Staatsmuseum" trotz allem eine starke jüdische Identität. Wie war dies mit der Parteiideologie zu vereinbaren ?

Die Kommunisten hatten sehr wohl verstanden, dass sich die Touristen für diese Art von Museum interessierten. Sie haben Mittel und Wege gefunden, die Kollektion ihres jüdischen Charakters zu berauben. Die Torah-Kronen beispielsweise wurden im Rahmen einer allgemeinen Ausstellung von Silberschmiedarbeiten gezeigt, die Parochoth waren Teil einer umfassenden Textilausstellung usw. So wurden die phantastischsten Stücke unserer Sammlung als einfaches Material, ohne jede jüdische Konnotation und ausserhalb ihres eigentlichen spirituellen und historischen Kontextes gezeigt.


Werden neben dem eigentlichen Museum auch befristete Ausstellungen organisiert ?

Natürlich. Wir werden demnächst zum ersten Mal mit Stücken aus unserer Sammlung eine Ausstellung über die Geschichte der Juden in der Tschechei und in Mähren eröffnen. Die zweite Ausstellung ist jüdischen Kleidern und Traditionen gewidmet. 1994 habe ich ein vollständiges Renovationsprogramm in Gang gesetzt, das sich über vier Jahre erstrecken wird und sich gegenwärtig ganz plangemäss entwickelt.


Glauben Sie, dass das Museum eine besondere erzieherische Funktion übernehmen sollte ?

Ja, und in dieser Beziehung freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir anlässlich des 90jährigen Bestehens des Museums ein ganz neues didaktisches und kulturelles Zentrum eröffnet haben. Es ist natürlich wichtig, die Gegenstände im Rahmen des Museums zu zeigen, doch wir denken, dass die Besichtigung des Museums allein unsere Besucher nicht nachhaltig beeinflussen kann. Wir möchten nicht nur zugunsten der jüdischen Bevölkerung, sondern für unsere gesamte postkommunistische Gesellschaft eine wichtigere und aktivere Rolle spielen. Es ist von grosser Bedeutung, von den Juden zu sprechen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Schoah, sondern auch die Reichtümer und die Vergangenheit unserer Kultur sowie ihre immerwährende Aktualität zu zeigen. Das Zentrum wurde von Präsident Vaclav Havel eröffnet, und die Finanzierung erfolgt mit der Hilfe verschiedener jüdischer Organisationen. Die gesamte Informatik wurde von der ORT gestiftet. Das Zentrum steht nicht nur den Schulen, sondern auch Professoren und individuellen Interessenten offen, und gegenwärtig befassen wir uns mit fünf Themen: die Geschichte der Juden im allgemeinen; die Geschichte der Juden in der Tschechei und in Mähren; die Schoah in der Tschechei; die Geschichte des Antisemitismus und die jüdischen Traditionen und Gebräuche. Je nach Altersstufe und Wissensstand stehen verschiedene Programme zur Verfügung. Das Zentrum ist offiziell als Teil eines Lehrganges für Lehrer anerkannt worden. Wir werden auch Seminare auf unterschiedlichen Niveaus für junge Israelis organisieren. Kurz, es handelt sich um ein Zentrum, dass allen offen steht, die mehr über das Judentum erfahren wollen; meiner Ansicht nach verkörpert es auch eine ausgezeichnete Informationsquelle für alle Tschechen, die heute ihre jüdische Abstammung entdecken und sich unverbindlich über ihre Herkunft informieren möchten.


Ihre Sammlung ist riesig. Wie bewahren Sie sie auf ?

Wir sind dabei, Lagerräume zu schaffen, die den Schutz der Gegenstände gegen Feuchtigkeit und Schmutz gewährleisten. Wie ich bereits sagte, wurde das Museum unter kommunistischer Herrschaft stark vernachlässigt, und es drängten sich weitreichende Restaurationsarbeiten auf. Wir arbeiten intensiv an diesem langen und kostspieligen Prozess. Die Sifrei Toroth unserer Sammlung sind seit 1984 alle in Grossbritannien und werden heute regelmässig in Synagogen rund um die Welt benutzt.