Die Bodmer Haggadah
Von Roland S. Süssmann

In dieser Pessachzeit möchten wir Ihnen ein Kleinod des Buchverlags vorstellen, die in Genf befindliche Bodmer Haggadah.
Es ist ein seltenes und zudem aussergewöhnliches Privileg, in einem Dokument blättern zu können, das die Jahrhunderte überdauert hat.

Hält man diese überaus seltene, ca. 500 Jahre alte Antiquität in Händen, wird die direkte historische Verbindung zum Schreiber Joel ben Simeon (siehe SHALOM Vol. VIII) einerseits, der dieses herrliche Manuskript geschrieben und illustriert hat, und den Generationen, die diese Haggadah benutzten andererseits, geradezu konkret fühlbar. Dieses sehr starke Gefühl bewegte mich bei der Betrachtung und anschliessenden Durchsicht dieser wunderschönen Haggadah des 15. Jahrhunderts, die zu den Schätzen der Bibliotheca Bodmeriana der Bodmer-Stiftung in Genf gehört.

Die Bodmer Haggadah (275 mm x 195 mm) war unter dem Namen Dyson-Perrins Haggadah bekannt, als sie noch Teil der berühmten Dyson-Perrins Sammlung in Malvern in Grossbritannien war. 1906 wurde sie dann an C. Fairfax-Murray verkauft, und am 9. Dezember 1958 erwarb Martin Bodmer das Manuskript anlässlich einer Versteigerung von Sotheby's in London.
Neben der Schönheit der Illustrationen im allgemeinen und der Illuminationen im besonderen wird der Leser vor allem von der herrlichen Kalligraphie beeindruckt. Interessanterweise ist das tatsächliche Entstehungsdatum dieser Haggadah bis heute im Dunkeln geblieben, einige Fachleute nehmen an, dass es zwischen 1425 und 1480 liege, andere wiederum situieren es zwischen 1470 und 1480. Merkwürdigerweise signiert der Schreiber Joel ben Simeon sein Werk auf der letzten Seite mit folgenden Worten: "Ich bin der Schreiber Joel, Sohn des Simeon, G'tt habe ihn selig, genannt Feibusch Askenazi der Stadt Köln am Ufer des Rheins", obwohl die Juden 1424 aus Köln vertrieben wurden ! Das Geheimnis wurde bisher nicht gelüftet, doch die Fachwelt ist sich im allgemeinen darüber einig, dass das Werk von einem italienischen Mäzen bestellt wurde, denn die Tinte entspricht derjenigen, die ab 1420 in Norditalien allgemein verwendet wurde. Die Bodmer Haggadah stellt das erste Exemplar dieses bekannten Typus dar, der aus einer logischen Abfolge von Illustrationen zu biblischen und rituellen Themen besteht. Auf der Ebene der reinen Liturgie weist diese Haggadah ein einzigartiges Merkmal auf: die erste Hälfte der Haggadah umfasst den Text des italienischen Ritus, die zweite Hälfte hingegen denjenigen des aschkenasischen Ritus (der deutschen Juden). Keine andere von Joel ben Simeon hergestellte Haggadah ist auf diese Weise gemischt, alle folgen sonst entweder ganz dem italienischen oder ganz dem deutschen Ritus.
Joel ben Simeon ist der berühmteste aschkenasische Schriftgelehrte und Illustrator des 15. Jahrhunderts. Man weiss sehr wenig über die jüdischen Schreiber und Illustratoren des Mittelalters, denn signierte Werke sind selten (die sephardischen Haggadot sind nie paraphiert). Wenn eine Unterschrift vorhanden ist, geht sie in der Regel auf den Schreiber zurück. Im Falle Joel ben Simeons gelten elf Manuskripte, die über einen Zeitraum von 40 Jahren entstanden, als recht bedeutend. Der im Rheinland geborene Künstler, der zweifellos eine sehr originelle Persönlichkeit war, reiste mehrmals nach Italien. Er lebte zwischen dem Beginn und der Hälfte des 15. Jhds. in Brünn, der Hauptstadt Morawiens (die Juden wurden 1454 aus dieser Stadt vertrieben). Die Tatsache, dass die Schrift und der Stil der Illuminationen in jedem Manuskript radikal anders sind, dass die Unterschriften und der Titel - Schreiber oder Künstler -, mit dem sich der Autor bezeichnet, voneinander abweichen, stellt für die Fachleute ein Rätsel dar. Einige Gelehrte stellten gar die Hypothese auf, dass zwei oder mehr Schriftgelehrte denselben Namen trugen. Man geht heute davon aus, dass Joel ben Simeon in seinem Handwerk den Rang eines Meisters besass und über eine Werkstatt mit Schreibern und Illuminatoren verfügte und vielleicht sogar einen Mitarbeiter besass.
Abschliessend noch ein Wort zur Bibliotheca Bodmeriana, damit unsere Leser zahlreich diese Stiftung besuchen, die vielen noch unbekannt ist. Das ehrgeizige Ziel des Gründers Martin Bodmer bestand darin, den intellektuellen Weg des Menschen seit den ersten Etappen nachzuvollziehen und die Zeugen dieser Zeitabschnitte in seiner Bibliothek zusammenzutragen. Die Geschichte der Schrift wird hier durch Täfelchen in Keilschrift, ägyptische Papyri, griechische oder römische Inschriften oder Münzen und mittelalterliche Manuskripte dargestellt; die Geschichte der Literatur durch Texte, die ihrem Autor so nahe wie möglich stehen: handgeschriebene Seiten, Erstausgaben, oder bei älteren Autoren durch Manuskripte und Inkunabeln, die ihn im besten Licht zeigen. Die Geschichte der Wissenschaft, der Musik und der anderen Künste, insbesondere der Zeichnung, sind ebenfalls vertreten. Betonen wir ausserdem, dass die ständige Ausstellung eine Megillat Esther vom XV.Jahrhundert zeigt. Die Sammlung wurde von Martin Bodmer der Stadt Genf vermacht und zählt zu den grössten Privatbibliotheken der Welt.

BIBLIOTHECA BODMERIANA
19-21 Route du Guignard
1223 Cologny-Genève
Geöffnet am Donnerstag von 14-18 Uhr und am ersten Dienstag jeden Monats. Geführte Besichtigung für Gruppen nach Vereinbarung.