Die Flucht nach vorne | |
Von Emmanuel Halperin, unserem Korrespondenten in Jerusalem | |
Gefangen im Treibsand der Osloer Abkommen versuchen die israelischen Spitzenpolitiker neun Monate nach ihrem Wahlsieg verzweifelt, sich freizukämpfen. Mit jeder Bewegung sinken sie ein wenig mehr ein - und mit ihnen versinken ihre Ideologie, ihre Wahlplattform, ihr politisches Programm und die Hoffnungen zahlreicher Anhänger.
Man muss Netanyahu gegenüber fair sein: er bemüht sich redlich, den Schaden zu begrenzen, manchmal in geschickter Weise, zu oft aber leider mit einer Plumpheit, die seinem Image bei seinen israelischen und ausländischen Partnern schadet. Und so ist er gezwungen, zwei Schritte rückwärts zu gehen, um die Situation einigermassen zu retten. Ist man ehrlich, sind nicht Netanyahus Fehler, sondern die Folgen der Osloer Abkommen an der diplomatischen Isolierung Israels und seiner gegenwärtigen politischen Unsicherheit schuld. Jeder Versuch der Regierung, ihrem Auftrag gemäss die Interessen der Israelis zu wahren und ihre Zukunft ihren Vorstellungen entsprechend zu sichern, wird jedesmal sofort mit einem Schwall von Kritik, Lästerungen und Drohungen bedacht. In der Zwickmühle zwischen den unterschiedlichen Forderungen der Amerikaner, Europäer, Ägypter, Jordanier und natürlich der PLO verfügt die amtierende Regierung nur über sehr wenig Spielraum. Der Bau eines neuen Quartiers in Jerusalem - gestern noch eine recht banale Initiative, die nur der Form halber einige Proteste auslöste - wird nun zu einem "Schlag gegen den Frieden". Es nützt nichts, das Projekt von Har Chomah, dessen Rechtmässigkeit eindeutig ist, mit einem Plan für die Errichtung von Wohnungen für die Araber von Jerusalem zu ergänzen, es nützt nichts zu betonen, dass sich die für den Bau vorgesehenen Grundstücke zum Grossteil in jüdischem Besitz befinden, es nützt nichts nebenbei darauf hinzuweisen, dass es keine Klausel der Osloer Abkommen Israel untersagt, in seiner Hauptstadt nach Gutdünken zu entscheiden, es bricht ein weltweiter Skandal aus. Und diese ganz normale Entscheidung eines souveränen Staates wird folgendermassen definiert: "eine neue jüdische Siedlung im besetzten Ostjerusalem". Unter diesen Umständen wird es - auch der Spitze der gestern an der Macht stehenden Arbeitspartei - immer mehr bewusst, dass die schrittweise Anwendung der in Oslo ausgearbeiteten Pläne zum Zusammenstoss mit den Palästinensern und kurz- oder langfristig zu einer Explosion führen wird. Darüber hinaus versieht man Israel mit dem Etikett des Schuldigen und versorgt Arafat mit einer immer bedeutenderen internationalen Unterstützung. Netanyahu versucht nach Kräften, die Zeitbombe so lang wie möglich noch zu entschärfen: dabei wird er gar zum Bittsteller gegenüber dem Präsidenten der palästinensischen Behörde, der ein Treffen mit dem israelischen Premierminister verweigert, weil ihm die von Jerusalem beschlossenen erneuten Truppenentfaltungen in den Gebieten (9% der an die PLO abgetretenen Fläche) ungenügend erscheinen. Der Premierminister, der die "Gegenseitigkeit" zu seinem Schlachtruf gemacht hatte - beide Parteien müssen ihre Verpflichtungen einhalten, nicht nur Israel - enthebt Arafat gar seiner eindeutigsten Versprechungen: "Ich möchte über diesen oder jenen Verstoss der palästinensischen Partei gegen eine Klausel der Abkommen hinwegsehen, auch wenn es sich um für uns sehr wichtige Fragen handelt, auch wenn sie die eigentliche Definition des jüdischen Staates betreffen, denn sie sollen die Verhandlungen nicht blockieren." Dies heisst im Klartext, dass die Palästinenser sich ziemlich alles erlauben können, wie zum Beispiel die Freilassung von 120 gefährlichen Terroristen aus dem Gefängnis, wodurch sie gegen die eingegangenen Verpflichtungen verstossen, oder die Androhung gegenüber Israel, die Terroranschläge wieder aufzunehmen ("wir werden die Selbstmordkommandos des Hamas loslassen"), ohne dass im geringsten irgendwelche Sanktionen ergriffen werden. Was tun, wenn man weiss, dass man mit dem Kopf gegen eine Wand rennt ? Netanyahu versucht mit der schüchternen Unterstützung von Washington, sich von den in Oslo eingegangenen Verpflichtungen zu lösen, indem er vorschlägt, einen grossen Sprung nach vorn zu machen. Er möchte die Siebenmeilenstiefel anziehen und alle Hindernisse überspringen, um mit Arafat sofort die letzte Prüfung in Angriff zu nehmen: die Verhandlung über den endgültigen Status der Territorien. Lassen wir uns sechs Monate Zeit, organisieren wir ein Super-Camp David und versuchen wir, alles mit einem Schlag zu regeln, einschliesslich der Zukunft Jerusalems. Die Rechnung ist einfach: wenn sich Israel immer mehr von seinen territorialen Vorteilen lossagt, indem es mit jeder Evakuierung ein Stück mehr von den Osloer Abkommen verwirklicht, wird sich das Land im Moment der letzten Verhandlungen in einer schlechten Ausgangsposition befinden. Netanyahus Befürchtungen sind jedoch Arafats Wunschträume. Daher lehnt er zunächst einen Vorschlag ab, der auf innenpolitischer Ebene den Vorteil besitzt, dass er auch von einem grossen Teil der Opposition befürwortet wird. In diesem Bereich könnte Netanyahus Initiative vielleicht positive Ergebnisse haben, nämlich bei der Schaffung einer Regierung der nationalen Einheit angesichts eines Minimalprogramms. Trotz der allgemein bekannten Nachteile einer solchen Regierung scheint sie in einer schwierigen Phase der Geschichte Israels das beste Mittel zu sein, mit den immer zahlreichereren Problemen fertigzuwerden. Die Sackgasse ist tatsächlich vorhanden und die Wand wartet am anderen Ende. |