Ein kleines Licht genügt
Von Rabbiner Zalman I. Posner
Chanukkah, das Fest der Freiheit, ist mehr noch als Jom Kippur der am meisten gefeierte jüdische Anlass. Dies ist nicht auf eine besondere religiöse Inbrunst oder einen besonderen Wunsch zurückzuführen, es ist vielmehr eine Frage des Kalenders. Chanukkah fällt mit Weihnachten zusammen und es hat sich eine Art Konkurrenz zwischen den beiden Festen gebildet. In Wirklichkeit ist Chanukkah nichts weiter als eine "kleine" Feier mit einigen einfachen Riten. Aber welche Botschaft bringt uns Chanukkah heute ? Chanukkah dient uns als Lehre in Hinsicht auf Bildung und Moral, die für alle Zivilisationen gilt. Dem vorliegenden Artikel liegen eigentlich einige Überlegungen des verstorbenen Lubawitscher Rabbiners zugrunde.

Wir leben in einer Zeit, in der wir über die wichtigsten wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften der ganzen Geschichte verfügen. Nichts scheint unmöglich. Kann man sogar behaupten, wir würden "in einer besseren Welt" als vor dem Zweiten Weltkrieg leben ? Keineswegs. 1935 haben jene, die an eine bessere Welt glauben wollten, schnell aufgegeben und verstanden, dass es sich nur um eine Utopie handelte. Warum ? Die Antwort liegt in einem einzigen Wort: "der Mensch". Das menschliche Wesen wird von der Moral oder ... dem Fehlen von Moral geleitet !

So ist das Verbrechen kein polizeiliches, sondern ein moralisches Problem; AIDS ist kein medizinisches, sondern ein moralisches Problem; der Krieg ist kein militärisches, sondern ein moralisches Problem; die Schwangerschaft von Jugendlichen (sehr verbreitet in den Vereinigten Staaten) ist kein soziales, sondern ein moralisches Problem... Diese Aufzählung könnte endlos weitergeführt werden.

Inwiefern unterscheidet sich jedoch unsere Zeit von der Epoche vor 60 Jahren ? War 1935 die Gesellschaft "moralischer" ? Ich glaube nicht. Nichtsdestotrotz haben sich Änderungen ergeben. Damals wurden die Dinge beim Namen genannt. Was unehrlich war, wurde ganz einfach mit "unehrlich" bezeichnet und Verbrechertum war "verbrecherisch". Es war nicht nötig, die Erkenntnis einer Tatsache zu rechtfertigen und diese beim Namen zu nennen. Heute ist man nicht mehr in der Lage, das Schlechte, das Böse, das Grausame, das Schändliche, das Falsche und das Unmoralische eindeutig zu definieren. Genauso ist es beinahe unmöglich, das Gute, das Gerechte und das Moralische zu bestimmen. Alle diese Aspekte werden auf den einfachen, völlig subjektiven Ausdruck des individuellen Geschmacks reduziert. "Wenn mir dies passt, dann ist es richtig... zumindest was mich angeht... Du kannst natürlich für Dich etwas anderes vorziehen". Die Geschmäcker sind für die Musik, für die Literatur, sogar für die Küche verschieden... warum sollte es für die Moral nicht genauso sein ? Heutzutage wird die Moral von persönlichen Gefühlen und nicht von einer objektiven Wirklichkeit bestimmt. In unserer Zeit sind derartige Auswüchse wie Verbrechen, AIDS, Teenagerschwangerschaften fast unvermeidlich, da sie moralisch akzeptabel geworden sind. Jeder verhält sich so, wie er es für richtig hält, und folgender Spruch beherrscht die Geister und das Verhalten: "Deine Moral ist nicht besser als meine... sie ist nur anders !"

Wieso werden aber diese Auswüchse mit der Zeit "unvermeidlich" ? Weil das Akzeptieren "einer kleinen Verhaltensabweichung" zu einer anderen "kleinen Verhaltensabweichung" führt, die wichtiger ist als die erste, und sich daraus eine Verkettung ergibt. Das neue Verhalten wird normal, die Bewegung beschleunigt sich kaum verspürbar von Tag zu Tag, und allmählich wird das, was gestern noch als skandalös galt, nicht mehr als Schande betrachtet.

Um diese Idee zu erläutern, werde ich das Beispiel der Abtreibung in den Vereinigten Staaten erwähnen. Vor noch 20 Jahren war der Schwangerschaftsabbruch in sämtlichen Staaten Amerikas verboten. Es wurde dann eine Kampagne in Gang gesetzt, die das Problem folgendermassen umschrieb: "Nehmen wir an, ein junges zwölfjähriges Mädchen wird vergewaltigt. Wären Sie in der Lage, sie dazu zu zwingen, ihre Schwangerschaft auszutragen... wenn es ihre eigene Tochter wäre ?". Dieses Argument war derart überzeugend, dass die Idee ihren Weg nahm und angenommen wurde. Sobald die Abtreibung dann toleriert wurde, änderte sich die Argumentation völlig. Vergessen war das zwölfjährige Mädchen, vergessen "ihre eigene Tochter". Der neue Slogan hiess: "Der Körper einer Frau gehört ihr allein und sie ist berechtigt, eine Abtreibung zu verlangen, wenn dies ihr Wunsch ist." Es wurde kein logischer Gedanke mehr gegen Abtreibungen laut, umsomehr als die moralischen Werte der Bibel damals nur mehr wenig Gewicht hatten. Der darauffolgende moralische Zerfall hatte sein Werk getan. Konfusion und Vertuschung waren nunmehr an der Tagesordnung.

Traditionellerweise war die Quelle der Moral religiöser Art. Im Westen diente die Bibel als Basis. Sie erhob zwar keinen Anspruch auf ein Monopol der Moral, bot jedoch eine gewisse Anzahl Barrieren und Schranken an, die man einfach nicht überschreiten durfte. Es stimmt, dass das Leben voller Fallgruben und Hindernisse ist und dass es nicht einfach ist, diese zu vermeiden. Da besitzen die von der Bibel festgelegten moralischen Schranken eine gewisse Wirkung, und die Worte "Du sollst nicht" dienen jedem Menschen als Rettungsring, der für die moralischen Werte der Bibel empfänglich ist.

Bewirkt die Bejahung der Moral das Verschwinden des Bösen ? Die Torah lehrt uns, dass der Mensch über moralische Aspekte jederzeit frei entscheiden kann. G'tt selbst greift nicht ein. Daher lautet die Antwort auf diese Frage, dass alles tatsächlich vom Individuum abhängt. Sucht er nach Anleitung, ist die Torah da, um ihm zu helfen, sie drängt ihm aber nicht willkürlich ihre Lösungen auf. Der Mensch ist daher frei, sich ihnen zu unterwerfen.

Zahlreich sind die Männer und Frauen, die genossener erstklassiger Erziehung und Ausbildung ersten Ranges versucht haben, nach reiflicher Überlegung Kokain zu konsumieren. Sie haben sich dazu entschlossen, weil kein moralisches Prinzip sie daran gehindert, nichts sie aufgehalten hat, ausser einer gewissen Vorsicht, die angesichts des Bedürfnisses "in" zu sein und wie alle anderen zu handeln schnell verschwand. Sie wussten genau, dass ihr Verhalten unmoralisch, daher akzeptabel ist, ganz sicher aber nicht amoralisch. Natürlich folgte auf den ersten Kontakt mit der Droge rasch der zweite, und die schreckliche Verkettung konnte nicht mehr aufgehalten werden. Vor der ersten Einnahme leuchtet aber auf jeden Fall kein rotes Warnlicht auf !

Chanukkah symbolisiert für alle die Erziehung in einer Welt, die so sehr ein rotes Warnlicht braucht. Ein ganz kleines Flämmchen genügt, um dieses Dunkel zu besiegen, das aus Mangel an moralischer Empfindung zu allem Unmoralischen führt.