Perspektiven und Tatsachen | |
Von Roland S. Süssmann | |
ITZCHAK SHAMIR, während zahlreichen Jahren israelischer Premierminister, kandidierte bei den letzten Parlamentswahlen nicht mehr. Dieser aussergewöhnliche Staatsmann beschloss im Alter von über 81 Jahren, seine vielseitigen Aktivitäten etwas einzuschränken. Deswegen ist er noch lange nicht in den Ruhestand getreten, ganz im Gegenteil. Als geistige Leitfigur des rechten Zentrums in Israel spielt Shamir hinter den Kulissen eine diskrete, aber umso entscheidendere Rolle. Unserer Ansicht nach hat seine Analyse den Herausforderungen und Schwierigkeiten, denen Benjamin Netanyahu und seine Regierung gegenüberstehen, unsere ganz besondere Aufmerksamkeit mehr denn je verdient. Itzchak Shamir empfing uns, wie immer, mit grosser Herzlichkeit in seinem Büro in Tel Aviv. Das über anderthalbstündige Gespräch wird im folgenden gekürzt, in den wichtigsten Punkten wiedergegeben.
Sie haben beschlossen, einen Schlussstrich unter Ihr Leben in der Öffentlichkeit zu ziehen. Es geht hier nicht darum, eine Bilanz Ihrer langen und ereignisreichen politischen Laufbahn zu erstellen, aber könnten Sie uns kurz von Ihren Entscheidungen berichten, die Sie zu Ihren besten zählen, oder die Sie bedauern ? Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass ich mich nicht aus der Politik zurückgezogen habe, um mich eventuellen Verantwortungen zu entziehen. Ich würde nicht zögern, gegebenenfalls einzugreifen oder zu handeln, falls dies erforderlich oder nützlich wäre. Was die Entscheidungen betrifft, die ich im Verlauf meiner Karriere getroffen habe, sehe ich keine einzige politische Massnahme, die ich bedauern sollte. Ich würde alles genauso wieder tun. Es klingt vielleicht anmassend, aber es stimmt. Glück und Freude haben mir die Entscheidungen beschert, die in die Zeit der grossen Alijah (Immigration) der Juden aus der UdSSR und aus Äthiopien fielen, die ich als die schönste meiner politischen Karriere betrachte. Ausserdem war die aktive Förderung der Errichtung und Entwicklung der jüdischen Siedlungen überall in Eretz Israel wohl eine meiner intelligentesten Handlungen. In diesem Zusammenhang könnte ich vielleicht bereuen, nicht genug unternommen zu haben. Der Beschluss hingegen, während des Golfkriegs auf eine Reaktion zu verzichten, war damals wohl die einzige rationale und gerechtfertigte Massnahme. Wie beurteilen Sie das Erbe, das Schimon Peres und seine linksstehende Regierung hinterlassen haben ? Es war, kurz gesagt, die schlimmste Regierung, die der Staat Israel seit seiner Entstehung besessen hat. Sie erwies sich vom ersten bis zum letzten Tag als eine Katastrophe für das Land, und zwar ausnahmslos in absolut jeder Hinsicht. Ich bin daher glücklich, dass diese Zeit überstanden ist. Die jüdische Wählerschaft hat sich übrigens in der Mehrheit mit einem deutlichen NEIN gegen die Politik von Schimon Peres ausgesprochen ! Heute besteht die grundlegende Aufgabe der amtierenden Regierung darin, der jüdischen Welt und der internationalen Gemeinschaft zu beweisen, dass Israel eine neue, sich von derjenigen der abtretenden Regierung völlig unterscheidende Politik führen wird. Dies muss sehr bald geschehen. Nach Ihren Worten ist das Erbe "in jeder Hinsicht" katastrophal. Können Sie die wichtigsten Bereiche analysieren, die davon betroffen sind, und dabei mit der Frage der Sicherheit beginnen ? Die Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden, ist nicht das Ergebnis des Zufalls, sondern ist auf eine Politik der Absurdität zurückzuführen, in welcher der PLO die vollständige und unabhängige Verantwortung über die Sicherheit in einigen Regionen Israels anvertraut wurde. Heute besitzt der jüdische Staat keinerlei Recht mehr auf Beobachtung oder Kontrolle in diesen Zonen. Das unmittelbare Resultat dieser Politik waren verschiedene Wellen der schrecklichsten Terroranschläge, die Israel je erlebt hat. Als wir noch an der Macht waren, befand sich die PLO in einem fortschreitenden Machtverlust und war dabei, vollständig von der politischen Szene zu verschwinden. Die Osloer Abkommen haben jedoch dieser Terroristenorganisation zu einer neuen Existenz verholfen. Man muss sich darüber im klaren sein, dass Israel heute geschwächt ist. Wir haben den Palästinensern zahlreiche Trümpfe in die Hand gegeben; die absolute Freiheit und Straffreiheit, die sie in Gaza, in Jericho, sowie in sechs anderen Städten geniessen, stellen eine enorme Gefahr dar. Dazu kommt die unerhörte Entscheidung, die keine andere linksstehende Regierung vor der Administration Rabin/Peres zu treffen gewagt hätte, nämlich das Verbot jeder Weiterentwicklung der jüdischen Besiedlung von Judäa, Samaria und Gaza. Es handelt sich dabei um ein gegen die Juden, gegen die Nation und gegen den Zionismus gerichtetes Vorgehen. Als erster Schritt wurde diese Entscheidung am 2. August 1996 von Benjamin Netanyahu aufgehoben. Es ist offensichtlich, dass die jetzige Regierung alles abändern muss und dass es nicht einfach ist, seit vier Jahren geltende und akzeptierte Tatsachen umzuwandeln. Dabei müssen Takt und Intelligenz walten; ich bin aber überzeugt, dass die neue Regierung die Situation allmählich wieder in den Griff bekommen kann. Welches Image besitzt Israel zur Zeit in der Welt ? Wir haben uns den Ruf geschaffen, der PLO, d.h. der Anfechterin unserer Existenz, gegenüber beständig neue Eingeständnisse zu machen. Die Welt beginnt zu glauben, dass diese Politik richtig ist und Israel sie weiterführen sollte. Um die anderen Staaten zufriedenzustellen, müssten wir in diesem Sinne fortfahren und bestimmte Gesten machen: wir müssten den Palästinensern weite Teile unseres Territoriums abtreten; die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates auf israelischem Gebiet akzeptieren; davon ausgehen, dass Jerusalem auch Hauptstadt dieses palästinensischen Staates wird usw. Im Verlauf der vergangenen vier Jahre hat die Welt Israel beobachtet, wie es diese gefährliche Politik verfolgte, und glaubte, es handle sich um eine zugleich jüdische und israelische Politik. Heute sprechen sich die amerikanischen und europäischen Spitzenpolitiker gegen jede Änderung seitens der neuen israelischen Regierung aus. Auch hier ist Fingerspitzengefühl und Entschlossenheit angesagt. Was halten Sie von einer Begegnung zwischen Benjamin Netanyahu und Arafat ? Natürlich bin ich überzeugt, dass dies nichts gutes ist, denn man kann wirklich nicht behaupten, dass Arafat einen Gesprächspartner für Israel darstellt. Ich fürchte jedoch, dass es sich dabei vielleicht um eines der Danaergeschenke aus dem Erbe der Sozialisten handelt. Wie auch im Hinblick auf Hebron werden wir standhalten müssen. Wie steht es um die Erziehungsfrage ? In diesem Bereich sieht die Lage besonders schlecht aus. Das gesamte Erziehungswesen wurde einfach durch einen nichtjüdischen Unterricht ersetzt, der ein pädagogisches Programm beinhaltet, das dem jüdischen Geist, unserer Nation, unserer Kultur, unserer Geschichte und unserem Glauben entgegengesetzt ist. Auch hier steht die neue Regierung wieder vor einer äusserst schweren Aufgabe, denn es muss eine totale Umstrukturierung stattfinden. Können Sie auch etwas zur wirtschaftlichen Situation sagen ? Unsere Regierung hatte eine in jeder Beziehung florierende und wachstumsorientierte Wirtschaft hinterlassen. Heute, nach vier Jahren sozialistischer Führung, steht Israel vor einem enormen Defizit und einer galoppierenden Inflation. Es drängen sich drastische und unliebsame Massnahmen auf; es wird nicht einfach sein, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Meiner Ansicht nach sollten wir alles daransetzen, Judäa-Samaria in eine Art israelisches "Silicon Valley" zu verwandeln. Ein derartiger Aufschwung würde unvermeidlich Industrieinvestoren anlocken, denn es ist allgemein bekannt, dass Erfolg den Erfolg anzieht, unabhängig von jeder politischen Überlegung. Die Regierung befindet sich in einer recht schwierigen Lage: einerseits muss sie die Fehler der Administration Rabin/Peres beheben, und andererseits kann sie es sich nicht erlauben, eine "Revolution" auszulösen. Was kann sie konkret unternehmen ? Es geht darum, eine bedeutende Umwälzung in Sänfte durchzuführen. Es ist äusserst wichtig, dass das Leben in Israel völlig normal weitergeht. Natürlich drängt die Zeit, doch heute zählt vielmehr die Tatsache, vor Ort neue, unumstössliche Gegebenheiten zu schaffen. Die von der abtretenden Regierung eingeführten Veränderungen können vollständig zu Gunsten von Israel eingesetzt werden. In vier Jahren kann man sehr viel anrichten, dazu braucht man nur die Verheerungen anzuschauen, die von der Regierung Rabin/Peres verbrochen wurden. Heute müssen möglichst viele positive Projekte verwirklicht, aber auch die nächsten Parlamentswahlen vorbereitet werden, denn diese Probleme können nicht innerhalb von vier Jahren gelöst werden. Ich hoffe, die Regierung erreicht ihr Ziel auf der Grundlage der politischen Plattform, dank der sie gewählt wurde, doch es sind auch nur Menschen... es kann alles mögliche passieren. Benjamin Netanyahu und seine Regierung stehen ganz offensichtlich vor zahlreichen Schwierigkeiten und Herausforderungen. Welches ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Frage, mit der sich Israel heute befassen sollte ? Alles ist prioritär, sowohl die Frage der Sicherheit als auch die Beziehungen zu den arabischen Ländern, das Schulwesen, die Wirtschaft oder gar das Problem der israelischen Araber. Ich denke allerdings, das die grösste Verantwortung des Staates Israel die Förderung der ALIJAH ist, der Einwanderung. Es ist unsere Pflicht, die jüdische Einwohnerzahl Israels um jeden Preis zu erhöhen. Dies ist von grundlegender Bedeutung für unsere Existenz und unsere Zukunft. Die Alijah verkörpert unser einziges Instrument der Konsolidierung und ist das einzige Element, das uns unbesiegbar macht. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch betonen, dass wir mit Russland eine Politik der Freundschaft führen müssen, um unsere Interessen, in erster Linie im Bereich der Alijah, zu verteidigen. Heute leben vier Millionen Juden in Israel, was einem Drittel der weltweiten jüdischen Bevölkerung entspricht. Diese Situation ist völlig anormal. In keiner anderen Nation der Welt lebt nur ein Drittel der Bevölkerung in ihrer Heimat ! Dieses Verhältnis muss sich ändern, und dazu müssen wir die jüdische Ausbildung und Erziehung überall in der Welt unbedingt fördern. In dieser Hinsicht hat Israel eine sehr bedeutende Rolle zu spielen, denn es muss den Juden der Diaspora ein Beispiel geben, im Hinblick sowohl auf die jüdische Bildung als auch auf die zionistische Erziehung. Als Ziel sollten wir anstreben, dass zwei Drittel des jüdischen Volkes in Israel leben und ein Drittel vorläufig in der Diaspora bleibt. Es handelt sich um eine historische Aufgabe, die sicher nicht einfach zu erfüllen ist. Man muss sich im klaren sein, dass die Alijah nicht nur eine Vergrösserung der Bevölkerung in absoluten Zahlen und die damit verbundenen strategischen Vorteile bewirkt, sondern auch zu einem wirtschaftlichen Aufschwung führt. Die grosse sowjetische Einwanderungswelle zu Beginn der 90er Jahre hat dies bewiesen. Ein weiteres positives Element einer massiven Alijah liegt bei der Tatsache, dass der einzige Ort, an dem wir heute eine derartige Zahl von Einwanderern tatsächlich aufnehmen könnten, die jüdischen Gebiete von Judäa und Samaria sind, die sich im Zentrum des Landes in der Nähe von Tel Aviv, Haifa und Jerusalem befinden. Der letzte, nicht zu unterschätzende positive Aspekt dieser Immigration wäre die Schaffung eines Gegengewichts zur Wählerschaft der israelischen Araber. Wir brauchen aber eine sehr starke jüdische Mehrheit. Vergessen wir nicht, dass anlässlich der letzten legislativen Wahlen die Gefahr, dass die arabischen Stimmen sich auf die Zusammensetzung der Knesset auswirken, tatsächlich aufgetreten ist. Die Verantwortlichen der Regierung Rabin/Peres hatten mehrmals erklärt, Israel sei nicht mehr auf die Diaspora angewiesen, was die Beziehungen zwischen den beiden Gemeinschaften zutiefst beeinträchtigt hat. Wie sehen Sie die Entwicklung der Verbindungen zwischen diesen beiden Teilen des jüdischen Volkes ? Diese Erklärungen widersprechen diametral den grundlegenden Interessen Israels. Wir müssen alles tun, damit sehr enge Beziehungen und eine ständige Zusammenarbeit gepflegt werden, so dass sich schliesslich die Mehrheit des jüdischen Volkes in Israel niederlässt. Im Verlauf der vergangenen vier Jahre wurde alles unternommen, um die Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora zu trüben; mit der Zeit sind sie auch stark abgeschwächt. Heute müssen wir sie unter allen Umständen wieder beleben und bestärken. Wir müssen eine umfassende Informationskampagne lancieren, um den Juden der Diaspora in der westlichen Hemisphäre verständlich zu machen, dass sie zum Wohl des gesamten jüdischen Volkes ihre Ausbildung, ihr Wissen und ihre Mittel in Israel selbst investieren müssen. Wir haben bewiesen, dass dies kein absurder Traum ist, denn wir haben den Aufschwung miterlebt, den die sowjetische Alijah in Israel auslöste. Stellen Sie sich die positiven Auswirkungen einer massiven Einwanderung von Juden aus der westlichen Welt vor ! Glauben Sie, dass die Entstehung einer ethnischen Partei von russischen Immigranten mit sieben Sitzen in der Knesset eine Art Scheitern der Intergationspolitik darstellt ? Nicht im geringsten. Diese Partei wurde geschaffen, um die wirtschaftlichen Interessen der neuen Einwanderer zu schützen. In meinen Augen handelt es sich um ein vorübergehendes politisches Phänomen, das bei den nächsten Parlamentswahlen, oder aber spätestens in acht Jahren, nicht mehr existieren wird. Waren Sie über die Ermordung Itzchak Rabins überrascht ? Ich war zutiefst erschüttert. Ich hätte nie gedacht, dass sich so etwas bei uns im jüdischen Staat ereignen könnte. Dies widerspricht allen unseren Werten und unserer Idee der Demokratie, die ihre Wurzeln und ihre Authentizität in der Bibel besitzt. Nach dem Mord an Rabin befürchteten wir, das Anliegen der rechten Partei sei endgültig verloren. Die Tragödie hat allerdings nichts verändert und die jüdische Wählerschaft wurde durch dieses Ereignis nicht beeinflusst. Könnten Sie abschliessend sagen, dass Sie optimistisch in die Zukunft blicken ? Ich habe allen Grund dazu, sei es schon nur wegen der Wahlergebnisse. Wir haben alle seitens der Verantwortlichen für die jüdische Siedlungsbewegung in Judäa, Samaria und Gaza eine phantastische Lektion über Mut und Hoffnung erhalten. In den letzten vier Jahren ist es diesen Männern und Frauen gelungen, in einer feindlichen Umgebung und unter besonders harten Bedingungen die jüdische Bevölkerung, die in den Gebieten von Judäa, Samaria und Gaza für uns so wichtig ist, beträchtlich zu erhöhen. Ich habe Ihnen schon immer gesagt (siehe SHALOM Vol.XX), dass ich mit unerschütterlichem Vertrauen an unser Volk und an das ewige Bestehen Israels glaube: "Netzach Israel lo Yishaker" ! |