Die Erinnerung erleben
Von Roland S. Süssmann
"Eines Tages wird ein Student dieses Mahnmal betreten und erstaunt fragen: "Ist dies alles wahr ? Waren die Mörder wirklich so grausam ? Und die Opfer, waren sie so verzweifelt, so allein und verlassen ? Anhand von einigen zusätzlichen Informationen wird der junge Mann entdecken, dass in der gleichen Zeit, da die Mörder töteten und die Opfer starben, die schöne Stadt Miami Heiterkeit und Frieden genoss. Die Hotels waren ausgebucht, die Strände überfüllt und alle amüsierten sich nach Herzenslust. Wusste die Welt denn nicht Bescheid ? Doch, man war informiert - die Zeitung "Miami Herald" berichtete über die Ereignisse - doch eigentlich machte dies keinen Unterschied."
Mit diesen Worten begann Elie Wiesel seinen Vortrag anlässlich der Eröffnung am 4. Februar 1990 in Miami eines der bewegendsten und beeindruckendsten Schoah-Mahnmale der Vereinigten Staaten. Es liegt im Zentrum von Miami Beach unter freiem Himmel und verblüfft den Besucher durch seine Grösse und Schönheit. Vielleicht kann man es als paradox bezeichnen, dass die von den Deutschen und ihren Verbündeten begangenen Verbrechen gegenüber dem jüdischen Volk in einem derart überwältigenden Rahmen dargestellt werden. Die Gründer dieses Mahnmals, alles Überlebende der Schoah, haben ihr Projekt gründlich studiert und sehr erfolgreich beendet; ihr Ziel war es, die kommenden Generationen einerseits an die Verbrechen und an die Opfer zu erinnern, ihnen andererseits aber auch ein Symbol für die Gleichgültigkeit der Welt angesichts des Völkermords an den europäischen Juden zu geben. Dieses Memorial ist kein Museum, sondern ein Ort, um die Geschichte der Schoah zu entdecken, die jeder somit auf seine Art erleben kann und sollte. Dies geschieht in einem Rahmen, in dem Stein, Natur, Architektur und Kunst sich harmonisch verbinden und das Erlebnis somit auf drei verschiedenen Ebenen zugänglich machen: Dokumentation, Emotion und Erinnerung.
Bereits bei seiner Ankunft ist der Besucher vom Kontrast der Elemente überrascht; die Helligkeit des Steins von Jerusalem (jeder Stein wurde direkt aus der Hauptstadt des jüdischen Staates importiert), wobei dieses Material das gesamte Monument dominiert; das Düstere und die vollständige Nacktheit des schwarzen Granits, der die Mauern bedeckt; die Stille des dunklen Wassers im künstlichen Teich, das zugleich den phantastischen blauen Himmel Floridas und die zentrale Skulptur des Mahnmals widerspiegelt. Die Besichtigung beginnt mit einer Statue, welche eine Mutter darstellt, die ihre Kinder schützt, während die ersten Zeichen der Schoah sichtbar werden. Ihre entsetzten Gesichter drücken die Besorgnis und die Frage aus: "Ist dies möglich ? Hat uns G'tt vielleicht vergessen ?" Um die Skulptur herum wurde eine Botschaft aus der Feder von Anne Frank in den Stein eingraviert: "....Trotz allem glaube ich, dass der Mensch doch gutes Herz hat". Der Besuch setzt sich durch eine halbrunde Flur mit Säulen an den Wänden fort, auf denen die Geschichte der Schoah eingraviert wurden. Der Besucher taucht sofort in das Universum jener schrecklichen Zeit ein. Auf den drei ersten Granitplatten stehen die historischen Ereignisse aus der Geschichte der Schoah zwischen 1933 und 1945, auf weiteren Granitplatten eine bildliche Darstellung der Ereignisse; Kristallnacht, die Ghettos, die Deportationen; Folter, Transport, die Lager, die Gaskammern, die Experimente der deutschen "Ärzte", die Kremationsöfen, die Befreiung usw.. Dies wird ergänzt durch Karten von Europa und erklärenden Texten. Die Europakarten beweisen den amerikanischen Besuchern, dass die Juden in Europa nicht auf der "Durchreise" waren, sondern seit langer Zeit hier wohnten und auch aktive und lebendige Glaubensgemeinden geschaffen hatten. Eine der beiden Karten gibt die Anzahl Juden an, die in jedem von den Deutschen besetzten Land umgebracht worden sind.
Zu diesem Zeitpunkt steht der Besucher unvermittelt vor einem ewigen Licht, dessen Flamme Tag und Nacht brennt. Von hier zweigt der enge "Korridor der Einsamkeit" ab, auf dessen Wänden die Namen der schrecklichsten Todeslager eingetragen sind und der ins Zentrum des Mahnmals führt, zu Füssen der Hauptstatue. In diesem Gang werden von israelischen Kindern gesungene hebräische und jiddische Klagelieder abgespielt. Dieser Korridor wird nicht gedankenlos durchschritten. Die Decke wird in der Tat immer niedriger, so dass der Besucher den Eindruck erhält, er werde allmählich erdrückt, als ob seine Persönlichkeit ausgelöscht würde. Am Ende des Ganges steht ein verlassenes, weinendes Kind in Form einer Statue in Lebensgrösse. Beim Durchschreiten des Korridors vernimmt man Kinderschluchzen, das lauter und lauter wird, je mehr man sich dieser kleinen Skulptur nähert, welche die 1,5 Millionen von den Deutschen getöteten jüdischen Kinder symbolisiert. Diese entsetzliche Begegnung verkörpert in bewegender Weise das Ausmass der Grauen dieser Verbrechen.
Am Ausgang des Tunnels, der jeweils nur einer Person Platz bietet, wartet ein eigentlicher Schock auf den Besucher. Er gelangt auf einen grossen, runden Platz, der mit den rosafarbenen Steinen von Jerusalem gepflastert und von einer hohen, mit grossen schwarzen Granitplatten bedeckten Mauer umgeben ist; in ihnen spiegelt sich das zentrale Ausstellungsobjekt, eine 14 Meter hohe Skulptur eines Arms, der mit einer Nummer versehen ist zur Erinnerung an die Tatsache, wie sehr die Deutschen ihre Opfer durch diese Numerierung entmenschlicht hatten. Für den Künstler Kenneth Treister, der diese Statue mit dem Titel "A Sculpture of Love and Anguish" (eine Skulptur der Liebe und der Angst) geschaffen hat, stellt dieser Arm seine Vision der Schoah dar. Dieser Arm, der in einer Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger endet, an den sich Dutzende von Opfern klammern, an dem ganze Familien weinend hochklettern, zu Tode verängstigt, mit von Schmerz und Verzweiflung verzerrten Gesichtern, wurde in Bronze Patina gegossen und grün gestrichen. Dieser Unterarm reckt sich gegen den Himmel und ruft nach Hilfe, wie ein Ertrinkender, der langsam untergeht. Für die Opfer der deutschen Grausamkeit kam, wie auch hier, aber keine Hilfe. Einige Besucher sehen hierin den Ausdruck der Verzweiflung, die letzte Geste eines Sterbenden, den fragenden und anklagenden Zeigefinger; andere erleben sie als Ausdruck der Hoffnung. Auf diesem runden Platz stehen Dutzende von Statuen - sie entsprechen in der Grösse einem Durchschnittsmenschen oder einem Kind - um das zentrale Werk, den Arm, herum. Jede von ihnen drückt die Härte der persönlichen Tragödien aus, die jedes Opfer der Schoah individuell erlebt hat. Hier steht eine Gruppe von drei verlassenen Kindern, von denen der ältere die jüngeren zu beruhigen versucht, dort nimmt ein betagtes Paar voneinander Abschied... Alle diese Statuen widerspiegeln sich sechs Millionen Mal in den schwarzen, den zentralen Platz des Mahnmals umgebenden Granitplatten. Beim Hinwenden sieht der Betrachter sein eigenes Bild inmitten all dieser Opfer und wird "einer von ihnen".
Für die meisten von uns verkörpern sechs Millionen Opfer eine anonyme Masse. Um die Verbechen der Deutschen gegenüber den Juden persönlicher darzustellen, endet der Besuch des Mahnmals mit einer Mauer, "The Memorial Wall", auf welcher Tausende von Namen der Schoah-Opfer eingraviert wurden. In regelmässigen Abständen lassen neue Besucher den Namen eines oder mehrerer Vermissten eintragen. Immer noch in der Absicht, die Schoah aus der Perspektive des persönlichen Dramas zu zeigen, bittet man die Besucher, einen der auf er Mauer eingetragen Namen zu wählen und einen Augenblick an das Leben des Gestorbenen zu denken. Wer war er oder sie ? Hatte er einen Beruf, eine Familie ? Was hatte er sich zuschulden kommen lassen, um ein solches Ende zu verdienen ? Nichts, ausser der Tatsache Jude zu sein ! Am Ausgang des Memorials befindet sich eine letzte Skulptur, die Mutter mit ihren Kindern, die zu Beginn als erste Skulptur so besorgt aussahen, aber noch lebten. Nun sind nur noch ihre Leichen da. Auch hier begleitet sie ein in den Stein graviertes Zitat von Anne Frank: "... die verherrlichten Ideale, Träume und Hoffnungen entstehen in uns nur, um letztendlich der schrecklichen Wahrheit zu begegnen und zerstört zu werden".
Das Memorial ist Teil des obligatorischen Lehrplans der Schulen von Miami. Täglich wird es von einer oder mehreren Klassen besichtigt und Begegnungen mit Überlebenden der Schoah werden organisiert.
Zum Schluss noch eine kleine Geschichte: Als der Plan für die Errichtung dieses Mahnmals bekannt wurde, stellte die Stadt Miami sofort das Grundstück zur Verfügung. Eine aggressive Randgruppe von beschämten Juden widersetzte sich dem Bau und versuchte ihn mit allen Mitteln zu verhindern, damit die Stadt diesem Projekt kein öffentliches Grundstück überlassen sollte. Dadurch kam es zu einem Prozess nach dem anderen, zu einem öffentlichen Verfahren nach dem anderen. Anlässlich der letzten Anhörung meldete sich eine Frau, welche die Shoah überlebt hatte, spontan als Zeugin. Vor dem Krieg hatten sie und ihr Mann als Musiker gearbeitet, sie war Pianistin, er spielte Geige. Während der Schoah wurden sie deportiert und die Deutschen haben ihnen je einen Arm abgeschnitten, damit sie nie mehr irgendein Instrument spielen konnten. Da sie vom Projekt des Memorials erfuhr, insbesondere vom Arm als Skulptur, schloss diese Frau ihren Bericht und sagte: "Wenn dieses Mahnmal errichtet wird, ist es für mich so, als ob G'tt mir meinen Arm zurückgegeben hätte !" Darauf erklärte der Bürgermeister, ein libanesischer Christ: "Schluss mit den öffentlichen Anhörungen und dem ganzen Hin und Her, das Memorial wird gebaut !"

THE HOLOCAUST MEMORIAL
1933-1945 Meridian Avenue
MIAMI BEACH Florida
Wenn Sie einen oder mehrere Namen von Menschen, die während der Schoah verschwunden sind, auf die "Memorial Wall" eingravieren lassen möchten, wenden Sie sich bitte an folgende Adresse :
Holocaust Memorial Committee Inc.
One S.E. Third Avenue, Suite 2130
MIAMI, Florida 33131 - USA