Indien in Jerusalem
Von Roland S. Süssmann
Von allen Ländern des Fernen Ostens, die ich besucht habe, ist Indien mit seiner Milliarde Einwohner, seinen erstaunlichen Kontrasten, seinen unzähligen Dialekten, Kasten und Religionen bei weitem das überraschendste, faszinierendste und ungewöhnlichste. Es ist auch das einzige Land, das gleichzeitig anziehend und abstossend ist. All diese Eindrücke, Erinnerungen und Gefühle sind mir beim Besuch der bemerkenswerten Ausstellung "The Jews of India" im Israel Museum von Jerusalem wieder begegnet, nur der Duft der Gewürze fehlte !
Die Ausstellung vermittelt ein getreues Bild der Gesellschaft, in der die Juden Indiens seit Jahrhunderten überlebten und wirkten. Die Offenheit der Inder gegenüber anderen Religionen (mit Ausnahme der jüngeren Unruhen zwischen Hindus, Muslims und Sikhs) erklärt, weshalb und wie die Juden ihre eigene religiöse Tradition erhalten und ihren Glauben frei leben konnten. Sie wurden von ihrer unmittelbaren kulturellen Umgebung vollkommen akzeptiert und hatten sich an den lokalen Lebensstil sowie an gewisse Gebräuche angepasst. In der pluralistischen Atmosphäre, die Indien kennzeichnet, wurden die Juden nie aufgrund ihres Glaubens behelligt, ausser während den Verfolgungen anlässlich der portugiesischen Inquisition.
Im Gegensatz zu anderen Gemeinschaften, die sich in Israel niedergelassen haben, blieb die jüdische Gemeinschaft aus Indien diskret und zurückgezogen, so dass ihre Geschichte und ihre Sitten und Gebräuche der Öffentlichkeit grösstenteils unbekannt sind. Das Israel Museum hat diese Lücke nun geschlossen, indem es im Rahmen seiner Abteilung für jüdische Ethnographie eine wunderschöne Ausstellung anbietet, die zwar umfangmässig eher klein, dafür qualitativ sehr hochstehend ist und sich mit diversen Aspekten des religiösen und weltlichen Lebens der Juden auf dem indischen Subkontinent befasst.
Die jüdische Gesellschaft Indiens war alles andere als homogen sondern setzte sich aus drei geografisch getrennten und sehr unterschiedlichen Gemeinschaften zusammen: die Bene Israel, die Juden von Cochin und die Juden von Baghdad (Baghdadi). Jede Gruppe besitzt ihre Geschichte und eine eigene soziokulturelle Vergangenheit. Trotz aller Unterschiede werden diese Männer und Frauen von einem gemeinsamen Element und einem unsichtbaren Bande zusammengehalten: der Tatsache, Juden zu sein. Schon zu Beginn der Ausstellung wird der Besucher dieser hochinteressanten Veranstaltung mit der eigenartigen Atmosphäre konfrontiert, in welcher die Juden Indiens lebten. Er steht nämlich in der 1544 erbauten Synagoge von Cochin, die vor kurzem nach Jerusalem transferiert wurde, um dort im Museum unter der Leitung von Joseph Shenav (siehe SHALOM Vol.V) restauriert zu werden. Die Synagoge gehört nun neben einer italienischen und einer polnischen Synagoge, die beide ebenfalls verlassen, wiederentdeckt, gerettet und vom Museum instandgesetzt wurden, zur ständigen Ausstellung des Israel Museums. Die Synagoge von Cochin zeichnet sich durch ihre herrliche Innenausstattung aus geschnitztem Holz aus, das nach der Tradition der Holzskulptur in Südindien bearbeitet wurde. Die farbenreichen Schnitzereien stellen Lotusblüten, Tiere, Vögel und Kobras dar, auch wenn einige Details merkwürdigerweise typisch europäische Merkmale aufweisen. Der Besuch der Synagoge wird von ständig gespielten, traditionellen religiösen Gesängen untermalt, die von aus Cochin stammenden und nach Israel ausgewanderten Juden aufgenommen wurden. Die Ausstellung ist das Ergebnis langer Nachforschungen, die sowohl in Israel als auch in Indien, insbesondere in Kerala, Maharashtra und in Westbengalen durchgeführt wurden. Die verschiedenen Aspekte des jüdischen Lebens in Indien werden durch die Rekonstruktion von Häusern, Szenen aus dem Alltag oder Zeremonien sehr anschaulich dargestellt. Ausserdem erlebt der Besucher durch eine Vielzahl von rituellen Gegenständen, Kleidern, Schmuckstücken, Dokumenten, Eheverträgen und Fotos die spezielle und typische Atmosphäre, die das Leben der Juden in den drei Gemeinschaften des indischen Subkontinents - die Bene Israel, die Juden von Cochin und die Baghdadi - prägte und auch heute noch prägt, wenn auch in verringertem Ausmass.

DIE BENE ISRAEL

Es handelt sich dabei um die grösste jüdische Gemeinschaft Indiens. Vor der Emigration nach Israel umfasste sie ungefähr 25'000 Mitglieder. Während zahlreichen Generationen lebten die Bene Israel in der Region von Kolaba im Staat Maharashtra. Auf mehrere Dörfer verteilt, waren sie von den anderen Juden recht abgeschnitten und wussten überhaupt nicht, wie sich das jüdische Rechtssystem nach der Zerstörung des Zweiten Tempels weiterentwickelt hatte. Sie hatten jedoch die strikte Einhaltung des Schabbat und die Beschneidung beibehalten, und alle ihre Gebete begannen mit "Schema Israel" (Höre Israel), einem der zentralen Sätze der jüdischen Liturgie. Der Kontakt mit der übrigen jüdischen Welt wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen, als jüdische Lehrer aus Cochin zu ihnen kamen, um ihnen das Judentum und Hebräisch beizubringen. Zur Zeit der Kolonisierung durch die Briten verliessen die Bene Israel ihre Dörfer, wo sie in erster Linie von der Landwirtschaft und dem Pressen von Öl gelebt hatten, um sich in den Städten, darunter vor allem in Bombay niederzulassen. In den 50er und 60er Jahren siedelten zahlreiche von ihnen nach Israel über, wo sie sich problemlos integrierten. 1994 zählte diese Gemeinschaft 45'000 Mitglieder in Israel.

DIE JUDEN VON COCHIN

Sie bilden die älteste jüdische Gemeinschaft Indiens, die in den grünen, fruchtbaren Ebenen der Küstenregion von Malabar im Südwesten Indiens wohnten, die früher dem Radscha von Cochin gehörten und heute Teil des Staates Kerala sind. Im Altertum war die Gegend von Malabar für die Qualität und die Vielfalt ihrer Gewürze bekannt. Obwohl zahlreiche Legenden zur Entstehung dieser Gemeinde existieren, wird das älteste schriftliche Dokument vom Jahr 1000 datiert: eine Kupfertafel berichtet von den religiösen und wirtschaftlichen Privilegien, die der lokale Hindu-Chef einer leitenden Persönlichkeit der Gemeinde, Joseph Raban, zusprach. Im 16. Jahrhundert liessen sich aus Spanien vertriebene Juden in Cochin nieder, und wurden von den einheimischen Malabari, "Pardesi" (die weissen oder ausländischen Juden) genannt. Im 17. Jahrhundert bewohnten die Juden fünf Ortschaften der Region und errichteten acht Synagogen. Die Gegend von Malabar wurde nacheinander von einer Reihe von Europäern regiert. Zunächst von den Portugiesen, welche die Inquisition mitbrachten und die hier lebenden Juden verfolgten. Danach kamen die Holländer, unter deren Verwaltung die jüdische Gemeinde erblühte. Unter den britischen Kolonialherren entwickelte sich die Gemeinschaft weiter, und viele Juden waren in der Kolonialverwaltung beschäftigt. In den 50er Jahren dieses Jahrhunderts, die Gemeinde zählte ca. 2'500 Seelen, zog die grosse Mehrheit nach Israel.

DIE BAGHDADI

Am Anfang bezog sich der Ausdruck "Baghdadi" ausschliesslich auf die Juden aus Irak und Syrien. Später wurde der Begriff auf alle Juden ausgedehnt, die aus dem Jemen, Iran und Afghanistan stammen. Die ersten aus Basra, Baghdad und Alep eingetroffenen Juden waren Geschäftsleute, die direkt mit der britischen Ostindiengesellschaft verbunden waren. Sie liessen sich zuerst in der Hafenstadt Surat nieder, später auch in Kalkutta und in Bombay. Eine weitere Gruppe irakischer Juden reiste im 19. Jahrhundert nach einer Verfolgungswelle ein. Die "Baghdadi"-Gemeinde wurde von einer Reihe von legendären Persönlichkeiten geprägt, die wahre jüdische Dynastien und Geschäftsimperien gründeten, die überall in der Welt tätig waren. Zu ihnen gehört auch David Sasson, der in grosszügiger Weise zur Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Bombay beitrug, indem er dort Schul- und Gesundheitszentren, Wohlfahrtsinstitutionen und zwei Synagogen schuf, "Magen David" und "Knesset Eliahu". Die zweite Baghdadi-Gemeinschaft wurde von Moses Dwek ha-Cohen aus Alep errichtet. Er gründete die drei Synagogen "Magen David", "Beth El" und "Neveh Schalom". Im allgemeinen waren die "Baghdadi"-Juden Geschäftsleute und Bankiers, nur wenige entschieden sich für einen freien Beruf. Interessanterweise nahmen sie sehr aktiv an der Entwicklung der indischen Filmindustrie teil. Obwohl sie eine starke jüdische Identität behielten, nahmen sie den englischen Lebensstil an und entfernten sich daher von der jüdischen und der nichtjüdischen einheimischen Bevölkerung. Vor der Eröffnung jüdischer Schulen besuchten ihre Kinder Privat- oder Missionarsschulen, wo sie Sonderunterricht für Hebräisch erhielten. Nach der indischen Unabhängigkeit 1947 reisten die meisten Mitglieder der "Baghdadi" in angelsächsische Länder und nur zu einem kleinen Teil nach Israel. Die Ausstellung stellt auch einen weiteren, sehr interessanten Aspekt dieser Gemeinde dar, nämlich das Verlagswesen und die jüdische Presse in Indien.

Ein Besuch der Ausstellung "The Jews of India" ist äusserst bereichernd. Wir stellen mit Erstaunen fest, dass die meisten Ausstellungsstücke uns trotz ihrer fernen Herkunft sehr vertraut sind: die Kultgegenstände erinnern erstaunlich genau an die- jenigen europäischer Herstellung. Die höchstwahrscheinlich bis Dezember geöffnete Ausstellung ist das Ergebnis langwieriger, präziser Nachforschungen, die über zehn Jahre lang von der Kuratorin Orpa Slapak durchgeführt wurden. Sie verdient unseren herzlichen Glückwunsch. Die Planung und Organisation fielen in den Aufgabenbereich von Elischeva Yarhi. Die Finanzierung wurde gleichzeitig vom Israel Museum, Martin Gruss aus New York und den Freunden des Israel Museums in der französischen Schweiz gesichert.