So einfach wie die Teilung des Roten Meeres | |
Von Rabbiner Zalman I. Posner * | |
Mit dem Pessach-Fest feiern wir die Flucht aus Ägypten, die Befreiung des jüdischen Volkes aus der Sklaverei, das Wunder der Teilung des Wassers und der Durchschreitung des Roten Meeres. Dieses Wunder will uns einiges lehren, das weit über die eigentliche Handlung der Geschichte hinausgeht. Die Teilung des Wassers zeigt uns, wie wir unseren Nächsten schätzen und werthalten sollen. Diese Lehre ist heute von besonderer Bedeutung, vor allem in einer Zeit, in der überall Egoismus und Gleichgültigkeit herrschen. Pessach, das Symbol für die Freiheit des jüdischen Volkes, wird auch zum Symbol für die Achtung der anderen Menschen.
"Kasche ki-Krias Jam Suf" - dies ist so schwierig wie die Teilung des Roten Meeres - wird als Ausdruck in hebräisch und jiddisch gebraucht, um eine grosse Schwierigkeit zu bezeichnen. Da es sich jedoch um ein Wunder handelt, kann man sich fragen, ob es einfache und schwierige Wunder gibt. Aus welchem Grund ist die Teilung und die Durchschreitung des Roten Meeres ein aussergewöhnlicheres Wunder als andere ? Der Talmud stellt eine Parallele her zwischen der Durchschreitung des Roten Meeres und dem "Schiduch", dem Stiften einer Ehe, denn es heisst, es sei ebenso schwierig ein gutes Ehepaar zusammenzuführen, wie das Meer zu teilen. Rechtfertigt auch das Eingeständnis, dass die bewusst arrangierte Begegnung zweier sich ergänzender Menschen sehr heikel ist, den Vergleich mit der Teilung des Meeres ? Wenn wir auf das Meer blicken, sehen wir die Wasseroberfläche mit sanften oder stürmischen Wellen, doch wir sehen nicht in die Tiefe. Wir nehmen nicht wahr, was sich darunter versteckt, auch wenn es nur wenige Zentimeter unter Wasser sind: wir sehen weder die Fische, noch die Pflanzen und auch nicht die wunderschönen exotischen Lebensformen. Wir erkennen nichts von alledem, wir sehen nur die Oberfläche ! Betrachten wir einen Menschen, sehen wir auf den ersten Blick auch nur das Äussere, was wir deutlich zu erkennen meinen, was uns offensichtlich erscheint. Doch was versteckt sich hinter diesen Augen ? Tiefgründiges Wissen oder unerwartete Falschheit ? Steckt in dieser Brust ein Herz voller Liebe zu G"tt und den Menschen oder ist es von gut getarntem Hass erfüllt ? In Wirklichkeit wissen wir das nicht. Es ist eine Tatsache, dass oberflächliche Eindrücke uns täuschen können und dass wir uns nicht auf sie verlassen dürfen. Wir müssen uns immer bemühen zu verstehen, was sich unter der Oberfläche versteckt, und versuchen, die wahre Persönlichkeit des betreffenden Menschen zu erkennen, die eigentlichen Ziele des anderen wahrzunehmen und zu wissen, wie sein Charakter wirklich geartet ist. Ein hübsches Äusseres allein kann eine unangenehme Persönlichkeit verbergen, während hinter einem weniger anziehenden Gesicht manchmal ein sehr wertvoller Mensch steckt. Der Talmud berichtet uns von einer römischen Patrizierin, die eines Tages einen Weisen fragte: "Was macht den G"tt den ganzen Tag lang ?" Er antwortete ihr: "Er stiftet Ehen". Dadurch wird uns offenbart, wie schwierig dieses Unterfangen ist. Das Zusammenführen von Eheleuten bedeutet, das wahre Wesen zweier Menschen zu erkunden, das Verborgene in ihnen aufzudecken, ihren eigentlichen Charakter zu verstehen und daraus herzuleiten, ob sie wirklich füreinander geschaffen sind. Sind wir wirklich in der Lage dazu ? Vielleicht... Auf jeden Fall scheint diese Aufgabe so schwierig zu sein wie... die Teilung des Roten Meeres. Einige Menschen können wir lieben, andere nicht. Wir ziehen manche aufgrund ihres Verhaltens, ihrer Sprache, ihrer Werte vor, so wie wir andere aus denselben Gründen nicht ausstehen können. Doch ein menschliches Individuum ist sehr viel mehr als eine Kombination von Worten, Taten, Gesten und Gedanken, die nur äussere Wahrnehmungen... nur die Oberfläche sind. Im Inneren des Menschen befindet sich die Seele, versteckt und unsichtbar. Dieses Ding wurde oft beschrieben, ist sozusagen unbekannt und wurde noch von keinem erblickt: die Seele wurde dem Menschen von G"tt eingehaucht. Sie ist der Funken Göttlichkeit, den jeder von uns in seinem Innersten trägt. Die Torah lehrt uns: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Wenn zwei Menschen sich begegnen, steigt zuallererst meist ein Gefühl der Feindseligkeit und des Misstrauens in ihnen auf. Wie ist es überhaupt möglich "seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben"? Dies kann nur dann geschehen, wenn man sich die Mühe gibt zu entdecken und zu verstehen, was sich unter der Oberfläche des anderen verbirgt. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass auch im Körper des anderen Menschen ein göttlicher Funken glüht Nur mit dieser Einstellung können wir dieses Gebot G"ttes erfüllen, denn die kleine Flamme, welche unseren Nächsten erfüllt, ist desselben Ursprungs wie diejenige in uns: er ist daher nur eine Erweiterung unserer selbst. Ganz einfach, nicht wahr ? Ja, so einfach wie die Teilung des Roten Meeres ! |