Israel in Goma
Von Roland S. Süssmann
Das Fachwissen und das Know-how der israelischen Rettungstruppen geniessen höchste weltweite Anerkennung. Im Verlauf der Zeit kamen sie überall auf der Welt zum Einsatz, in Kambodscha, Armenien, Afrika. Vor kurzem reisten sie nach Zaire, um den ruandischen Flüchtlingen, die sich in der Region von Goma unter äusserst prekären sanitären Bedingungen niedergelassen haben, Unterstützung und Hilfestellung zu leisten. Die Verantwortung für den israelischen Einsatz in Zaire lag bei der Armee. Doch aufgrund seiner reichen Erfahrungen, die er bei zahlreichen humanitären Missionen gesammelt hat, wurde Dr. YACOV ADLER, Leiter der Abteilung für Traumatologie im Shaare Zedek Krankenhaus von Jerusalem, vom Aussenministerium beauftragt, bei einem Teil der israelischen Mission in Goma mitzuwirken.
Für eine Dauer von sechs Wochen schickte Israel drei Teams mit je sechzig Mitgliedern nach Afrika, die sich alle zwei Wochen ablösten. Kosten der Aktion: ca. 15 Millionen US-Dollar. Dr. Yacov Adler, ehemals stellvertretender Befehlshaber des medizinischen Armeecorps und Präsident des Magen David Adom in Israel, gehörte dem zweiten Team an.


Sie haben bereits mehrmals an israelischen Hilfsaktionen in der ganzen Welt teilgenommen. Können Sie uns in wenigen Worten erklären, wie diese Missionen geplant und durchgeführt werden ?

Die internationalen Operationen, an denen Israel teilnimmt, werden entweder auf offiziellem Weg oder durch nichtstaatliche Freiwilligenorganisationen (NGO) organisiert, die ich 1979 ins Leben gerufen habe. Damals ging es darum, die erste, drei Monate währende humanitäre Mission Israels durchzuführen. Ziel war die medizinische Versorgung der kambodschanischen Flüchtlinge, welche sowohl vor den sich auflösenden Roten Khmer als auch vor den in Kambodscha eindringenden vietnamesischen Streitkräften flohen. Etwa 500'000 Menschen hatten sich auf diese Weise an der Grenze zu Thailand eingefunden. Wir arbeiteten in einem Lager der UNO unter der Schirmherrschaft des Flüchtlingshochkommissariats. Wir griffen aber anlässlich der grossen Hungersnot von 1984 auch in Äthiopien in Afrika, nach dem grossen Erdbeben von 1985 in Mexiko City sowie in zahlreichen anderen Notstandsgebieten der Welt ein. Ich erlebte persönlich meinen ersten humanitären Einsatz im Rahmen der Armee, als ich zur Leitung eines israelischen medizinischen Teams berufen wurde, das 1968 nach dem schrecklichen Erdbeben nach Sizilien reiste. Die letzten Mission in Zaire wurde vom Aussenministerium sozusagen der Armee "in Auftrag gegeben".


Im Vergleich zu anderen Ländern scheint Israel im humanitären Bereich aktiv zu sein, wenn auch mit insgesamt beschränkten Einsätzen. Wie steht es in Wirklichkeit um das israelische Engagement ?

Ihre Behauptung trifft nur zum Teil zu. Vergessen wir nicht, dass wir auch in Israel selbst sehr viele Probleme zu lösen haben. Ausserdem sind diese Aktionen sehr kostspielig und die humanitäre Freiwilligenarbeit ist in Israel nicht so entwickelt wie in Europa. Meiner Ansicht nach ist es wichtig für Israel, an möglichst vielen Missionen teilzunehmen, denn mit der Zeit wird unser Image eines "halbmilitärischen Staates, das alle sechs Jahre wieder Krieg führt" verblassen zugunsten eines Landes, das an humanitären Aktionen teilnimmt. Ungeachtet der Tatsache, dass man seinem Nächsten immer helfen sollte, tut es uns gut, von den Ereignissen in anderen Ländern Kenntnis zu haben und uns bewusst zu werden, dass unsere Situation nicht gar so schwierig ist und dass anderswo die Menschen mit viel komplexeren Problemen kämpfen. Und schliesslich sind unsere Einsätze sehr lehrreich. Sollte in Israel einmal eine Katastrophe eintreffen, kämen uns unsere Erfahrungen im Ausland bei der Organisation von Rettungsaktionen, im Krisenmanagement und schon nur dabei sehr zugute, dass wir mit den internationalen Organisationen, die uns eventuell beistehen würden, schon vertraut sind. Es gibt also zahlreiche Vorteile für Israel, an solchen Missionen teilzunehmen.


Wie sah Ihre Mission zugunsten der nach Zaire geflohenen ruandischen Flüchtlinge aus ?

Eigentlich betraf die Flucht nur einen Volksstamm, denjenigen der Hutu, der die Mehrheit der ruandischen Bevölkerung ausmacht. Ursprünglich hatten sie mit den Massakern an den Tutsi begonnen. Als die Tutsi wieder die Macht erlangten, suchten die Hutu in drei Ländern Zuflucht, nämlich in Tansania, Uganda und Zaire. In der Region von Goma nahm ihre Flucht ein Ende: hier liessen sich 400'000 bis 500'000 Menschen unter wirklich entsetzlichen Bedingungen nieder, ohne Wasser, ohne Zelte, ohne Toiletten, ohne alles. Wie dies in solchen Situationen und bei einem totalen Mangel an elementarer Hygiene oft der Fall ist, brach sehr bald eine Cholaraepidemie aus, die innerhalb der ersten drei Wochen fast 100'000 Todesopfer forderte. Da Cholera durch verseuchtes Wasser übertragen wird, haben wir für die Wasserversorgung, d.h. drei bis vier Tonnen Wasser pro Tag in Flaschen, eine beständige Luftverbindung zu Israel erstellt, wobei der Transport der medizinischen Ausrüstung noch dazukam. Wir konnten das Wasser des naheliegenden und unverseuchten Sees Kivu benutzen. Wir haben es herausgepumpt, gechlort und für das Geschirr und zum Waschen, mit Ausnahme des Zähneputzens, verwendet. Neben der Cholera traten andere lokale Krankheiten auf, wie z.B. die Malaria, die Ruhr sowie Aids, mit dem über 35% der Bevölkerung infiziert ist. Obwohl wir all diese Krankheiten gut kennen, waren wir es nicht gewohnt, derartige Massen von Kranken zu behandeln. Unsere medizinische Versorgungsstelle, die sich etwas ausserhalb des Lagers befand, wurde allmählich zum Hauptzentrum für die Behandlung von Traumata. Wir behandelten in erster Linie Kriegsverletzungen, die auf das Explodieren von Minen und Granaten, auf Gewehrkugeln und Machetenstiche und -hiebe, der traditionellen Waffe dieser Region, zurückzuführen waren. Dazu kamen die Personen, die von den Lastwagen der internationalen Organisationen für den Transport von Nahrungsmitteln und Wasser verletzt worden waren. Ein grosser Teil der Flüchtlinge drängte sich nämlich auf der einzigen Strasse, welche das Lager durchquerte, und wartete auf das Eintreffen der Hilfstruppen. So waren zahlreiche zerquetschte Füsse und angefahrene Menschen zu behandeln, da die Lastwagenfahrer nicht immer ausweichen konnten.


Welche Fälle haben Sie besonders berührt ?

Ich denke dabei vor allem an den kleinen fünfjährigen Jungen Takka, dessen Schädel von einer Machete skalpiert worden war. Wir haben ihn mehrmals operiert, um den blossgelegten Knochen wieder mit Haut zu bedecken. Mehrere Infektionen und Eingriffe führten dazu, dass er einige Wochen in unserem Lager bleiben musste. Er wurde zu einer Art Maskottchen für uns, bevor er von einem amerikanischen Arzt adoptiert und in die USA gebracht wurde. Ein riesiges Problem dieser Fluchtbewegungen sind die zahlreichen Kinder (ca. 20'000), die wie Takka als Waisen allein in den Lagern herumirren. Ein weiterer dramatischer Fall betraf eine Frau, der eine Granate in den Händen explodierte. Ihre beiden Kinder, die sich bei ihr befanden, wurden getötet, sie verlor beide Arme und ein Bein sowie das Kind, mit dem sie schwanger war, da ein Granatsplitter sie am Bauch verletzt hatte. Sie traf in einem schrecklichen Zustand in unserem Lager ein. Wir haben alle notwendigen Eingriffe vorgenommen, und heute lebt sie in einem christlichen Rehabilitationszentrum in Goma. Sie können sich vorstellen, welch triste Zukunft diese Frau erwartet. Nachdem ihr Mann sie verlassen hat, besitzt sie nur noch ihren alten Vater, der sie ein wenig unterstützen kann.


Im Grunde genommen haben Sie mit Ihrer Arbeit Mörder gerettet, welche die Massaker an den Tutsi durchführten. Was empfanden Sie, als Sie Ihre Unterstützung diesen Verbrechern zukommen liessen ?

Wenn man an einer medizinischen Mission teilnimmt, ist es besonders wichtig, sich nicht in die Probleme der betreffenden Region einzumischen und sie unabhängig von der ärztlichen Versorgung zu betrachten. Man darf sich unter keinen Umständen von seinen Emotionen überwältigen lassen. Wenn Sie folgendermassen reagieren :"Dieser Mann hat fünf Frauen getötet, weshalb sollte ich ihn pflegen ?", können Sie Ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Sie dürfen nur den leidenden Menschen und die Wunde sehen, die Sie behandeln. Mit dieser Einstellung kümmern wir uns auch um die Araber in Israel. Wir schliessen unsere persönlichen Gefühle vollständig aus. Im allgemeinen sprechen die Flüchtlinge nie von ihrer Vergangenheit, von den Greueltaten, die sie erlebt oder zugefügt haben. Wir kommunizieren nur mit Hilfe von Dolmetschern, da die Hutu nur ihre eigene Sprache und ganz wenig französisch sprechen, während die Tutsi die englische Sprache recht gut beherrschen. Unsere Aufgabe beschränkt sich auf den medizinischen Aspekt. Wir haben auch in Goma viel gesehen und gelernt, so dass wir bei unserem nächsten humanitären Einsatz über noch mehr Erfahrung und Wissen verfügen werden.