Risse und Spalten im politischen System | |
Von Harry Z. Hurwitz | |
Wenn dieses Jahr die Rosch Haschanah-Ausgabe von SHALOM erscheint, verfügt die gegenwärtige israelische Regierung noch über weitere zwei Jahre Amtszeit, bevor die nächsten Knessetwahlen am ersten Dienstag im November 1996 fällig werden. Nur die Auflösung der Knesset durch eine Abstimmung mit mindestens 61 Stimmen der 120 Parlamentsmitglieder kann eine Wahl zu einem früheren Zeitpunkt auslösen - entweder aufgrund eines erfolgreichen Misstrauensvotums der Opposition oder aufgrund einer Auflösung der Regierung durch diese selbst aus politischen Gründen. Beide Möglichkeiten sind denkbar.
Um ihr Ziel zu erreichen, müsste die Opposition die Hälfte der Knesset-Abgeordneten hinter sich vereinen und sich auch der Stimme einiger Überläufer aus den Regierungsparteien sichern. Eine schwierige Aufgabe, die jedoch nicht unmöglich ist. Bereits zwei Jahre vor der Wahl nehmen wir die ersten Zeichen von Positionsverschiebungen in beiden Lagern - Regierung und Opposition - wahr. Die Einteilung in Rechte und Linke nach altem Muster der politischen Konzepte erweist sich nicht mehr als angebracht. Die kapitalistischen Unternehmer und Arbeitgeber, welche die Regierungskoalition unterstützen, können nicht als linksstehend bezeichnet werden, genauso wenig wie man die zahlreichen Unterstützer der Opposition aus der Arbeiterklasse nicht der Rechten zuschreiben kann. Israel hat sich seit langem von diesen altmodischen Konzepten entfernt. Die heutige Aufteilung erfolgt hauptsächlich aufgrund der jeweiligen Einstellung im Hinblick auf das Anrecht des jüdischen Volkes auf Eretz Israel. Zahlreiche Anhänger des einen Lagers (die gegenwärtige Regierung) bezeichnen die israelische Präsenz in Judäa, Samaria, Gaza und auf dem Golan als "Besetzung", während ihre Gegner sich 1967 über die Befreiung von Gebieten in Eretz Israel freuten, die sich seit 1948 unter Fremdherrschaft befunden hatten. Als das Abkommen mit Arafat abgeschlossen wurde, feierten viele Mitglieder des Regierungslagers "das Ende der (israelischen) Besetzung". Diese Frage ist es, welche die Nation fast entzweit und in beiden Lagern zu internen Meinungsverschiedenheiten führt. Wenden wir uns zunächst der regierenden Arbeitspartei zu, die heute nicht mehr so homogen ist, wie sie vor zwei Jahren bei Antritt des Regierungsmandats zu sein schien. Erstens kann der Streit zwischen dem Premierminister und dem Aussenminister nicht länger mehr vertuscht werden. Die beiden Schlüsselfiguren in der Regierung sprechen nicht miteinander und Beobachter nehmen an, dass sie beide einander zu schaden versuchen. So gehörte Peres beispielsweise nicht der Delegation des Premierministers für sein Zusammentreffen mit König Hussein in Washington an. Rabin gab erst kurz vor der Abreise nach, und ein missmutiger Peres trottete mit und beklagte sich hinterher, er sei vollständig übergangen worden. Zu einem gewissen Zeitpunkt drohte er an, sofort nach Israel zurückzufliegen. Er wurde ebenfalls nicht zur Teilnahme am Treffen mit Präsident Mubarak aufgefordert und lehnte die Einladung ab, als sie letztendlich doch erfolgte. Die Zeitungen machten ein grosses Aufheben um die Tatsache, dass die Vorbereitungen für die Gespräche Rabin-Hussein von einem speziell beauftragten Team aus vier Leuten gemacht wurden, die den Aussenminister und seine Mitarbeiter überhaupt nicht einbezogen. Obwohl die Bedeutung dieses Streits möglichst heruntergespielt wird, beweisen die zahlreichen Appelle an die beiden Männer, ihrer Zwistigkeiten im Namen des Landes und der Partei beiseitezulegen, nur das tatsächliche Vorhandensein dieser Schwierigkeiten. Gegen Ende Juni erreichte der interne Machtkampf einen Höhepunkt. Dies veranlasste einige Delegierte, einen Aufruf an den Premierminister und den Aussenminister und ihre Mitarbeiter zu richten mit der Bitte, "die Reihen zu schliessen, bevor die inneren Probleme die Regierungsaufgaben der Partei verunmöglichen". Die Auseinandersetzung verschärfte sich durch ein Missgeschick anlässlich der Histadrut-Wahlen, an denen der abtrünnig gewordene Kandidat Chaim Ramon der Arbeitspartei einen Teil ihrer Macht entrang, die sie seit zahlreichen Jahren ungeteilt besessen hatte. An einer Verhandlung wurden zwischen Finanzminister Shochat und Chaim Ramon und ihren Anhängern Nettigkeiten wie "Lakai" und "Lügner" ausgetauscht. Rabin, der versucht hatte, sich aus diesem Streit herauszuhalten, tadelte die Partei dennoch für "unsere Verluste in der Histadrut". Daraufhin stand einer der Parteimitglieder auf und schrie: "Wir haben die Wahlen verloren, nun verlieren wir auch unsere Seelen". Zu den jüngeren Entwicklungen innerhalb der Arbeitspartei gehört die Entstehung einer neuen Gruppierung namens Der Dritte Weg, zu der einige Knesset-Abgeordnete, ehemalige Parlamentarier und Generäle im Ruhestand gehören, die nach einer Alternative Ausschau halten. Schon früher einmal hatte eine ähnliche Gruppierung (unter der Leitung von Yigael Yadin) zum Machtverlust der Arbeitspartei beigetragen. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, dass mindestens zehn Knessetabgeordnete der Arbeitspartei angeblich darauf bestehen, dass die Partei in die Abtretung der Golanhöhen nicht einwilligt. Innerhalb dieser Zehnergruppe treten Variationen desselben Themas auf. Einige erklären sich zu einem teilweisen Rückzug oder zu einem Kompromiss bereit, doch keiner von ihnen würde in den vollständigen Abzug einwilligen, auf den Peres anspielte, als er zu einem neuen Schachzug zur Bestätigung "der syrischen Souveränität über die Golanhöhen" ansetzte. Er begründet sein Argument mit einem Regierungsbeschluss von 1967 und ignoriert dabei den Jom Kippur-Krieg (dessen zweite Front auf den Golanhöhen lag) sowie eine Entscheidung der Knesset, die Golanhöhen unter israelische Rechtsprechung zu setzen. Der Arbeitspartei ist es auch noch nicht gelungen, die Schas in die Regierung zurückzubringen. Mit diesem Schritt sind zahlreiche Schwierigkeiten verbunden, und ein Knessetabgeordneter und Schasmitglied hat bereits erklärt, dass er seiner Partei nicht folgen würde, auch wenn sie in die Regierung zurückkehrt. Deri, der angeklagt wurde und mitten in einem juristischen Streitfall steht, ist nicht mehr begeistert von der Idee, die Regierung zu unterstützen. Diese Entscheidungen werden letzten Endes jedoch von den finanziellen und praktischen Hilfeleistungen beeinflusst, die der Partei angeboten werden. Im jüngsten Bericht der staatlichen Rechnungsprüfer, der sich mit der Parteifinanzierung während der Histadrutwahl 1989 befassten, hiess es, dass die Arbeitspartei "Schas NIS 1,5 Mio für die Unterstützung von Kandidaten aus der Arbeitspartei zahlte". So deutlich hatte dies noch niemand ausgesprochen. Die Rechnungsprüfer nannten diese Vorkehrungen "Kauf von Macht gegen Geld". An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Arbeitspartei vor den letzten Knessetwahlen versprochen hatte, die Finger von diesem schrecklichen Spiel um "Kauf" und "Käuflichkeit" lassen, dessen sie die vorherigen Regierungen anklagten. Darüber hinaus widersetzt sich Meretz am linken Flügel dem Bestreben, Schas wieder in die Regierung aufzunehmen, falls dieser Schritt der Partei übermässige Entscheidungsbefugnis in Fragen der Religion und der staatsbürgerlichen Rechte des Individuums verleihen sollte. Und nun treten erstmals in der Schas interne Meinungsverschiedenheiten auf. Eine neue Partei, Emet, ist entstanden, um Schas innerhalb der orthodoxen sephardischen Gemeinschaft zu bekämpfen. Zu all dem muss hinzugefügt werden, dass die Arbeitspartei in der Vergangenheit jeweils eine Möglichkeit gefunden hat, die Risse in der Fassade zu übertünchen, um weiterhin an der Macht zu bleiben. Auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums ist dem nicht so. Der Likud und seine Oppositionspartner haben diese Fähigkeit noch nicht erlangt. Ihre internen Zwistigkeiten dauern an und vertiefen sich. Manchmal lassen sie nach, um danach wieder aufzubrechen. Daraus resultiert eine beständige Abschwächung des sogenannten rechten Flügels durch Aufsplitterung. Das gegenwärtig schwerwiegendste Beispiel ist das Schicksal der Splittergruppe Tsomet, an deren Spitze der ehemalige Stabschef Rafael Eitan ("Raful") steht. Drei der acht Knessetabgeordneten haben sich bereits abgesetzt und eine neue Partei Yi'ud gegründet. Doch auch zwischen diesen drei besteht keine Einigkeit. Zwei befürworten den Beitritt dieser Gruppe zur Koalition der Arbeitspartei, während Esther Salmovitz, die dritte im Bunde, dies ablehnt. Sie wären sowieso nicht zur Teilnahme an der Regierung und zur Übernahme eines Postens im Kabinett berechtigt, gemäss eines Entscheids des Obersten Gerichtshofes; darin wurde festgelegt, dass Knessetabgeordnete die Partei, unter deren Banner sie gewählt wurden, nicht verlassen und dann die Seite wechseln dürfen, um zur Belohnung Aufgaben im Kabinett zu erhalten. Dieser Beschluss des Gerichts erboste den Premierminister, der erklärte, dass Gesetze über den Wechsel von Knessetabgeordneten von einer Seite des Parlaments zur anderen und über ihre Beteiligung an der Regierung "dumme Gesetze" seien. Dies wiederum erregte den Zorn der Mitglieder des Rechtsausschusses der Knesset und des staatlichen Rechnungsprüfungsausschusses, die auf die Möglichkeit dieser Übertritte aufmerksam geworden waren, um die bestehenden Rechtsvorschriften in diesem Bereich zu umgehen. Die wichtigste Oppositionspartei, der Likud, leidet immer noch unter seiner Niederlage von 1992, hat sich noch nicht aufgerappelt, arbeitet jedoch hart daran. An einer riesigen Massendemonstration in Jerusalem stand Parteileader "Bibi" Netanyahu neben seinem Rivalen Arik Sharon, ergriff seine Hand, schüttelte sie herzlich, und beide hoben ihre vereinten Hände in einer "Einheitsgeste" empor, zur Freude der versammelten Menschenmenge. Erst die Zukunft wird uns sagen, ob diese Geste mehr war als nur ein oberflächliches Zeichen, das wir dem Augenblick verdanken. Werden der Likud und seine Verbündeten einen Weg finden, die entstandenen Risse zu überdecken und aus diesen Prüfungen rechtzeitig vor den nächsten Wahlen als auf ideologischer und organisatorischer Ebene fest vereinte Gruppe hervorzugehen ? Seltsamerweise könnte ihre Hauptmotivation dazu aus einer äusserst unerwarteten Ecke stammen - von Arafat und seinen Kumpanen, die ganz offensichtlich ungeduldig werden angesichts ihres normalen Lebens im Rahmen eines Administrativrates und in die politische Arena eintreten möchten, um für "Palästina, Jerusalem und die Souveränität und alle anderen guten Dinge" zu kämpfen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels wurde enthüllt, dass eine der PLO angegliederte Terroristenzelle geschaffen und in Jerusalem tätig geworden war, lange nachdem Arafat sich verpflichtet hatte, auf terroristische Anschläge zu verzichten. Dann war er aber auch beteiligt, als vier PLO-Verantwortliche, die von Israel zur persona non grata erklärt worden waren, in den Distrikt von Gaza eingeschmuggelt wurden und als einer der radikalsten Terroristinnen die Leitung seiner Frauenpolizei übertragen wurde. Es ist äusserst beunruhigend für das israelische Volk, vom Generalpolizeiinspektor Assaf Hefetz zu erfahren, dass "Sicherheitsbeamte darüber besorgt sind, dass palästinensische Terroristen und Kriminelle sich in die autonomen Gebiete von Jericho und Gaza flüchten", welche morgen auf Jenin, Ramallah, Nablus und Kalkilya oder gar Hebron ausgedehnt werden könnten. Dies bedeutet, dass zur Zeit der nächsten Wahlen - wann immer sie stattfinden werden - das israelische Volk mit ganz neuen, veränderten Umständen konfrontiert sein könnte. Und wie so oft in der Vergangenheit werden in erster Linie die Ereignisse der letzten Wochen den Ausgang der Wahlen bestimmen. |