Der Klang des Schweigens | |
Von Rabbiner Zalman I. Posner* | |
Welches ist der Höhepunkt der Gottesdienste von Rosch Haschanah und Jom Kippur ? Für die meisten von uns ist es das Gebet "OuNeTaneh Tokeph", in dem jeder die grundlegenden Fragen zum Ausdruck bringt, die er sich in seinem Innersten stellt: "Wer muss leben und wer muss sterben; wer erreicht das Ende eines normalen Menschenlebens und wer nicht; wer wird im Feuer umkommen und wer im Wasser; wer wird durch das Schwert sein Leben verlieren und wer wird Hungers sterben; wer wird ein bewegtes, wer ein beschauliches Leben führen; wer wird glücklich sein und wer wird von Sorgen bedrückt; wer wird erhöht werden und wer erniedrigt; wer wird reich sein und wer arm". Dieses sowohl dramatische als auch grandiose Gebet wird in unserer Erinnerung immer in trauriger Verbindung mit der Auslösung des Jom Kippur-Krieges stehen.
:Stellte man diese Frage einem Chassid, würde er darauf antworten, dass die Gottesdienste dann ihren Höhepunkt erreichen, wenn der Klang des Widderhorns, des Schofar, ertönt. Diese Antwort ist eindrücklich und erstaunlich zugleich. Weshalb das Schofar ? Die Eigenschaften des Schofar als Musikinstrument sind äusserst begrenzt. Es bringt nur einen einzigen Ton hervor, die einzige Abwandlung besteht aus der - langen oder kurzen - Dauer der Note. Welche Botschaft vermittelt uns das Schofar ? Die Kommunikation erfolgt in der Regel über die Sprache, doch dies ist nicht immer der Fall. So herrscht zum Beispiel nur noch Schweigen, wenn - was G"tt verhindern möge - ein Unglück eine Familie trifft. Eine Mutter, die ihr Kind verliert, ist wie versteinert, stumm, keine Sprache könnte einen so tiefen Schmerz in gesprochene Worte fassen. Selbst das Ausdrucksmittel der Tränen wird unter diesen Umständen sinnlos. Dasselbe Phänomen tritt anlässlich eines glücklichen Ereignisses auf. Bei der Hochzeit eines Kindes sind wortgewaltige Reden fehl am Platz. Auf die Glückwünsche antworten die Eltern nichts weiter als "danke, danke". Unter der "Chupa", dem Hochzeitsbaldachin, sagt die junge Frau kein einziges Wort, und der junge Mann begnügt sich damit, einen Satz aus einem Gesetzestext auszusprechen, der keinerlei Gefühle ausdrückt. Dennoch erleben sie eine der überwältigendsten Emotionen ihres Daseins. Alles, was sie in Worte kleiden könnten, wäre meilenweit von ihren tatsächlichen Empfindungen entfernt. Auch hier herrscht das Schweigen vor. Der Klang des Schofar lehrt uns, dass das Schweigen nicht passiv ist, so wie die Rede nicht aktiv ist. Worte sind Instrumente, deren Zweck in der Übermittlung einer Botschaft liegt. Instrument und Botschaft müssen in vollendeter und harmonischer Weise aneinander angepasst sein. Es ist nicht einfach, durch und durch abstrakte Ideen mit Worten allein auszudrücken. Ist jemand nicht in der Lage, einen Gedanken in Worte zu fassen, den er zu beherrschen glaubte, hat er dieses Thema doch noch nicht vollständig gemeistert. Worte sind Vektoren, die Gefühle übermitteln. Je tiefer die Emotion empfunden wird, desto weniger wird sie in Worten ausgedrückt. Intensive Gefühle können nicht in einfachen Worten umgesetzt werden. An Rosch Haschanah leert der Mensch sein Herz. Worte sind dabei fehl am Platz. Das Schweigen ist so vielsagend. Das Schofar verkörpert diesen Schrei des Herzens, es ist der Klang des Schweigens. In diesem Zusammenhang ist das "schweigende Schofar" an Schabbat Rosch Haschanah - zu diesem Anlass bleibt das Schofar stumm - besonders eindrücklich. An diesem Tag ist der Klang des Schweigens noch beredter, da das Schofar fehlt. Der Klang der tiefempfundenen Freude ist Schweigen. Der Klang des tiefen Schmerzes ist ebenfalls Schweigen. Was lehren uns jedoch die verschiedenen Töne des Schofar ? Jeder der drei Töne besitzt eine besondere Bedeutung. "Tekiah" ist ein langgezogener Klang; "Schevarim" besteht aus drei gebrochenen Tönen; "Teruah" ist eine stakkato- Note, die sich aus einer Reihe extrem kurzer Klänge zusammensetzt. Im vierten Buch Mose (Numeri X,10) heisst es insbesondere: "wenn ihr fröhlich seid an euren Festen und an euren Neumonden, sollt ihr mit den Schofaroth blasen...". "Tekiah" erklingt so lange, als der Atem es zulässt. Es ist ein heiterer, triumphierender Ton, er symbolisiert Israel in all seinem Glanz, "jeder Mann wohl unter seinem Rebstock und unter seinem Feigenbaum liegend". Er verkörpert Frieden, Ruhe und Gelassenheit. Er erinnert uns an die Zeit des Talmud, an das Goldene Zeitalter in Spanien und in Polen, als die Torah in voller Blüte stand und das Leben dem Judentum und der Erfüllung der Mitzvoth (g"ttliche Gebote) gewidmet war. Auch heisst in hebraïsch die Zeremonie des Schofarblasens "Tekiath Schofar". Der gebrochene Ton "Schevarim" ruft in Erinnerung, dass das jüdische Volk trotz einer gewissen Spaltung weiterhin durchhält, obwohl es seine Stabilität verloren hat und unsicher geworden ist. Israel lebt im Exil, doch es wird geduldet; es wird zwar diskriminiert, aber ausser einigen sporadischen Fällen von Antisemitismus - ein gewalttätiger Akt gegen ein Individuum oder ein Pogrom - geht das Leben weiter und ist erträglich. Die Einhaltung der Mitzvoth rückt in den Hintergrund, der Besuch der Synagoge erfolgt nur anlässlich der wichtigen Festtage und eines wiederkehrenden Trauertages, das Studium der Torah wird ziemlich vernachlässigt. Im grossen und ganzen "richtet man sich ein, schliesst man Kompromisse, schlägt man sich durch". "Teruah" ist ein zerstörerischer Klang, der unsere Seele erschüttert und das Herz gefrieren lässt. Unsere Existenz steht auf dem Spiel. Dies ist die SCHOAH, die Vernichtung, der Tod. Das Leben jedes Juden ist in Gefahr. Auf spiritueller Ebene bedeutet er die Assimilierung, die gemischte Ehe, die Konvertierung und die Versuchung, den schönen Worten der Missionare nachzugeben. Gibt es noch eine Zukunft ? Diese Frage ist von grosser Tragweite, da die Zukunftsaussichten nicht allzu rosig sind. Müssen wir nun verzweifeln ? Hier erklingt "TEKIAH GEDOLAH", der Klang der Hoffnung ! Ja, wir beenden das Schofarblasen von Rosch Haschanah und den letzten Gottesdienst von Jom Kippur, Neïlah, mit der "Tekiah Gedolah", die den grössten aller Triumphe ankündigt, den herrlichsten Ruhm ! Die Torah, die erhabene Observanz und die Einhaltung der Mitzvoth in den feurigsten und subtilsten Formen. Befreiung, Rettung, Rückkehr, Erneuerung, die Zeit des Zenits und des Heils: die Ankunft des Messias, des Maschiach ! |