Gefahr und Verantwortung | |
Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport * | |
F. bezeichnet sich selbst als sportlichen Menschen. Nicht dass er regelmässig Sport treiben würde, doch er liebt hohe Geschwindigkeiten und ein gewisses Mass an Risiko. Er besass immer einen schnellen Wagen und hielt sich nie an die vom Gesetz vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzungen. Er galt aber als sehr erfahrener Lenker und hatte in zwanzig Jahren Fahrpraxis keinen einzigen Unfall verursacht. Als F. vor kurzem von der Verkehrspolizei erwischt und in der Folge vor Gericht gestellt wurde, begann ihn der vom Richter ausgesprochene harte Verweis mit Besorgnis zu erfüllen. Was immer ein Spiel gewesen war, erschien plötzlich in einem anderen Licht. Vielleicht hatte der Richter wirklich recht, und er war ein Krimineller, der sich in nichts von einem gewöhnlichen Einbrecher oder Drogenhändler unterschied.
Eine Bestimmung der Bibel (Deut.22,8) weist uns an, unsere Dächer mit einem Geländer zu umgeben, damit niemand herunterfallen und sich töten kann. Es besteht auch ein allgemeines Gebot, das nicht direkt mit einem gefährlichen Dach in Zusammenhang steht: "damit du nicht Blutschuld auf dein Haus ladest"; es sollte sich nichts in unserem Besitz befinden, das eine Gefahr für menschliches Leben darstellen könnte. Maimonides (Gesetze zum Totschlag Kap.XI Abs.5-6) führt diese Regeln aus und berichtet von einer rabbinischen Auslegung dieser Bestimmung: "Mehrere Handlungen wurden von den Weisen verboten, da sie menschliches Leben gefährdeten. Wer diese Verbote mit folgenden Begründungen überschreitet "ich gefährde nur mein eigenes Leben - was haben andere damit zu tun ?" oder "meiner Ansicht nach ist dieses Verhalten nicht gefährlich", wird mit körperlicher Züchtigung bestraft". Kann daraus geschlossen werden, dass einem Menschen jedes Eingehen eines Risikos für sich selbst untersagt werden soll, oder soll er sich nur so verhalten, dass er unter keinen Umständen jemand anderes in Gefahr bringt ? Ist diese Haltung überhaupt möglich für einen Menschen, der nicht auf einer einsamen Insel, sondern in einer dichtbesiedelten Stadt lebt ? Kann ein solches Verbot durchgesetzt werden, und stellt Autofahren an sich ein Verbrechen dar - schliesslich kann jede Fahrt mit einem Unfall enden ? Wo können wir die genaue Grenze ziehen zwischen normalem und kriminellem Verhalten ? Maimonides (Gesetze über persönliches Verhalten Kap.IV) schreibt, dass die Wahrung der Gesundheit für jeden Menschen unerlässlich ist, der nach geistiger Vollkommenheit strebt. Diese Person sollte folglich nur gesunde Nahrung zu sich nehmen und nichts Ungesundes essen. Im Gegensatz zu seinen Ausführungen in den Gesetzen zum Totschlag handelt es sich bei dieser Abstinenz um eine Empfehlung und nicht um eine unbedingte Vorschrift. Der Grund für diesen Unterschied soll erklärt werden: ein Mensch, der ungesund isst, geht eine Gefahr für seine eigene Gesundheit - und folglich sein eigenes Leben - ein. Sollte es sonst nicht ein absolutes Verbot von rotem Fleisch geben, da der Verzehr dieses Fleisches unter Umständen die Gefahr erhöht, sich ein ernsthaftes Herzleiden zuzuziehen ? Es ist allgemein bekannt, dass einem zur Rettung von Menschenleben aus der Gefahr das Überschreiten fast aller Gesetze erlaubt ist. Die genaue Definition dieses Risikos ist jedoch nicht klar. Natürlich soll jemand eine heftig blutende Wunde versorgen, auch wenn dabei gegen die Schabbat-Gesetze verstossen wird. Ist es einem aber erlaubt, die Schabbat-Gesetze zu missachten, um zu einer Sporthalle zu fahren und dort Übungen zu machen mit der Begründung, dass regelmässiges Körpertraining das Risiko einer Herzkrankheit verringere ? Die Schabbat-Gesetze beziehen sich ganz besonders auf die Behandlung einer gefährlich kranken Person als einen Fall, der das Übertreten ebendieser Gesetze gerechtfertigt. Die Krankheit ist jedoch ohne Bedeutung. Manche Leiden stellen keine Gefahr für das Leben dar, und andererseits können sich gesunde Menschen plötzlich in Todesgefahr befinden. Die Gesetze hätten sich hier auf einen gefährdeten Menschen beziehen sollen, unabhängig davon, ob er krank oder gesund ist. Daher scheinen die Weisen mit ihrem spezifischen Bezug auf Krankheit eine echte Definition einer Lebensgefahr machen zu wollen, ohne dabei ausser acht zu lassen, dass unser Alltag ständig lebensgefährliche Situationen mit sich bringt. Wie jemand bemerkte, ist Leben immer lebensgefährlich - nur wer lebt, kann sterben. Studenten der Ökologie wiesen darauf hin, dass die Umwelt eine Gefahr darstellt, weil sie todbringende Krebskrankheiten erregen kann, doch den Menschen ist dies ziemlich gleichgültig; sie ergreifen keine sofortigen Massnahmen, um dieses Risiko einzuschränken. Die menschliche Gesellschaft als Ganzes lebt in jeder Generation und in jeder Zeit unter einem gewissen Grenzwert der Gefahr; dies wird als normal angesehen und verlangt nicht nach sofortigen Sondermassnahmen. Wir definieren normale, unter normalen Bedingungen lebende Menschen als gesund, Krankheit stellt eine Ausnahme dar. Eine kranke Person macht, unabhängig von ihrer Epoche, eine besondere Behandlung erforderlich. Die Weisen verwendeten Krankheit wahrscheinlich als Gleichnis für jede Gefahr, die ein Verstossen gegen das Gesetz gerechtfertigt. Diese Gefahr würde nach modernen Gesichtspunkten sofortige Massnahmen notwendig machen. Vor tausend Jahren wären sogar der böse Blick oder eine Verfluchung als solche bezeichnet worden. Jede Situation, die als normal angesehen wird, gilt demnach als risikofrei und erlaubt keine Missachtung des Gesetzes. In ähnlicher Weise wird das Konzept einer Gefahr, für deren Verhinderung jeder Mensch selbst verantwortlich ist, nach aktuellen Massstäben gemessen. Rabbiner Mosche Feinstein (Igrot Mosche Bd.VII Choschen Mischpat Res.76) legt fest, dass das Rauchen von Zigaretten gemäss den Gesetzen zum Totschlag nicht als verboten angesehen werden kann, da es im allgemeinen nicht als unmittelbar gefährdend gilt. Handlungen jedoch, die von der Gesellschaft als gesetzwidrig bezeichnet werden, da sie eine direkte Gefährdung von Leben oder Gesundheit darstellen, werden von jüdischen Gesetzen zweifellos als illegal angesehen. Ein Mensch, der sich so verhält, gilt als potentieller Mörder. Daher ist das Überschreiten von Geschwindigkeitslimiten streng verboten, selbst für den geübtesten Fahrer, weil es ihm die Verantwortlichkeit des Einzelnen für die Existenz anderer und für seine eigene Existenz verbieten, diese Leben in eine derart konkrete Gefahr zu bringen. Der Richter, der F. mit einem gewöhnlichen Einbrecher verglich, urteilte recht milde über ihn. Das Einbrechen stellt zwar bestimmt einen ernsthaften Verstoss dar, doch die Verleugnung der Verantwortlichkeit für menschliches Leben ist ein viel schwerwiegenderes Verbrechen. |