Von Karola zu Dr. Ruth | |
Von Roland S. Süssmann | |
Die Erwähnung ihres Namens führt unausweichlich zu verschmitztem Schmunzeln und neckischem Augenzwinkern. Wer kennt nicht die Sendungen und Artikel von Dr. RUTH Westheimer ! Mit ihrem grossen Mass an gesundem Menschenverstand, der im allgemeinen den jüdischen Müttern eigen ist, berät sie jene, die sich in sexueller Not befinden. Ihrer wacher Sinn für echten Humor und ihre Offenheit haben zusammen mit ihrem umfassenden Wissen und ihrer langjährigen Erfahrung als Psychologin, Sexualtherapeutin und Soziologin zu ihrem Erfolg und ihrer Beliebtheit beigetragen. Obwohl sie nun ein Star ist, hat es Dr. Ruth Westheimer verstanden, sich ihre spontane Unkompliziertheit und vor allem ihr strahlendes Lächeln zu bewahren.
Die kleine Karola Ruth Siegel wurde 1928 in einer streng gläubigen Familie in Frankfurt geboren, besuchte dort eine orthodoxe Schule und erhielt eine solide jüdische Erziehung, verbunden mit einer erstklassigen schulischen Ausbildung. Eine Woche nach der Kristallnacht wurde ihr Vater für immer von der SS abgeführt. Im Verlauf der berühmten Konferenz von Evian, als die ganze Welt es ablehnte, etwas zur Rettung der Juden in Deutschland zu unternehmen, beschlossen die Schweiz, England, Holland, Belgien und Frankreich dennoch, je 300 jüdische Kinder aus Deutschland aufzunehmen. Eine karge Geste angesichts der Tatsache, dass Deutschland 550'000 Juden zählte... So kam es, dass Ruth Westheimer ausgewählt wurde, einem Kinderkonvoi in die Schweiz anzugehören. Sie verliess Frankfurt am 5. Januar 1939 und reiste nach Heiden im Kanton Aargau; sie sollte ihre Eltern nie wieder sehen. Ohne hier ihre in der Presse und in Buchform (unter dem deutschen Titel "Ruth Westheimer... und alles in einem Leben") erschienene Biographie nacherzählen zu wollen, ist es doch interessant zu wissen, dass sich Ruth Westheimer nach dem Zweiten Weltkrieg in Israel niederliess, wo sie 1948 als Eliteschützin am Unabhängigkeitskrieg teilnahm (ohne jemanden zu töten) und schwer verletzt wurde. Nach ihrer Genesung setzte sie ihr Studium an der Sorbonne und dann in den Vereinigten Staaten fort und trat eine Laufbahn als Professorin in mehreren grossen Universitäten in New York an. Sie ist verheiratet, Mutter zweier Kinder und Grossmutter. Trotz eines mit Hindernissen und Schwierigkeiten versehenen Lebensweges erlebte sie Augenblicke des Glücks und der Freude. Endlich traf der 5. Mai 1980 ein, der Tag, an dem ihr Schicksal eine neue Wende nehmen sollte ! Nach einem Vortrag für Lokalradioproduzenten wurde sie von der Produzentin einer New Yorker Radiostation kontaktiert, die ihr eine eigene, viertelstündige Sendung vorschlug, jeweils Sonntag abends um Mitternacht. Dies war der Beginn ihres durchschlagenden Erfolgs; heute ist Dr. Ruth weit mehr als nur eine bekannte Persönlichkeit, sie ist eine eigentliche Institution und eine Referenz geworden. Neben ihren Aktivitäten im Medienbereich (jeder ihrer Artikel erscheint gleichzeitig in 100 Zeitungen oder Zeitschriften in aller Welt !) führt Dr. Ruth eine Privatpraxis, in der sie wie früher ihre Patienten empfängt. Wie funktioniert die Einrichtung "Dr. Ruth" ? Ich erhalte jede Woche umfangreiche Post. Mein wichtigster Mitarbeiter sortiert die von Männern oder von Frauen geschriebenen Briefe, trennt die rein sexuellen Probleme von anderen Themen. Er legt mir eine Zusammenfassung der interessantesten und typischsten Fälle vor, die immer Auszüge aus den Briefen darstellen. Ich lese also die Texte in der Sprache und mit den Formulierungen des Schreibers. Danach diktiere ich meine Antworten auf ein Aufnahmegerät. Obwohl regelmässig identische Problemgruppen auftauchen, erhalte ich zahlreiche Briefe mit ganz präzisen Fragen, die nur einen ganz bestimmten Fall betreffen. Glauben Sie, dass Sie im Rahmen Ihrer Sendungen Ihren Hörern immer eine Lösung ihrer Probleme anbieten können ? Bestimmt nicht, denn zahlreiche Fälle verlangen eine Behandlung und eine fortlaufende Betreuung. Die Person, die sich an mich wendet, weiss jedoch bereits, dass sie einem Problem gegenübersteht. Schon nur die Tatsache, mich anzurufen, stellt einen ersten Schritt dar, und in der Regel rate ich ihr gleich nach unserem Gespräch, sich sofort an eine Beratungsstelle, einen Arzt, einen Psychologen, einen Priester oder Rabbiner zu wenden. Ich habe soeben eine Sendung für das israelische Fernsehen aufgenommen. Ich habe meinen Tätigkeitsbereich auf Fragen zum Familienleben, zur Einsamkeit und zu typischen Problemen im israelischen Alltag ausgedehnt. Dazu möchte ich als Beispiel von einem Mann berichten, der jedes Jahr seinen obligatorischen Wiederholungskurs in der Armee absolviert. Als hoher Offizier ist er es gewohnt, dass alle seinen Befehlen gehorchen. Wieder zu Hause hört er von seiner Frau: "Trag den Mülleimer hinunter". Wie reagiert er ? Wie teilt er nun plötzlich wieder die Entscheidungsgewalt ? Was empfindet seine Frau ? Was fühlen seine Kinder ? Wie erlären Sie sich Ihren Erfolg ? Die langjährige Dauer meiner Sendungen beweist, dass sie einem Bedürfnis entsprechen. Obwohl ich eine wissenschaftliche Ausbildung und das entsprechende Wissen besitze, wende ich mich nicht in medizinischem oder psychologischem Fachjargon an meine Hörer, sondern in wissenschaftlich richtigen Ausdrücken, die einfach sind und von allen verstanden werden. Ich füge auch immer eine Prise Humor hinzu, denn der Talmud sagt, dass eine geistreich unterrichtete Lektion besser behalten wird. Meiner Ansicht nach ist dies besonders wichtig, wenn sich jemand mit einer so intimen Frage aus dem Bereich der Sexualität an Sie wendet. Sie haben den Talmud zitiert. Haben Sie sich aber bereits mit der Art und Weise befasst, mit der sexuelle Fragen im Judentum behandelt werden ? Natürlich, und ich bin gerade dabei, in Zusammenarbeit mit Jonathan Marx, einem orthodoxen Rabbiner, ein Buch herauszugeben, das in kurzer Zeit bei New York University Press unter dem Titel "Heavenly Sex" (Himmlischer Sex) erscheinen wird. Dieses Werk behandelt die Sexualität in der jüdischen Tradition und erzählt auch die Geschichte des Midrash und der Gedanken unserer Weisen. Ich stütze mich übrigens bei der Arbeit mit meinen orthodoxen Patienen und oft auch mit anderen auf diese Grundlagen. Im Judentum stellte die Sexualität nie ein Tabu dar. Ist nicht das Hohelied eine Hymne an die Liebe ? Bevor Sie berühmt wurden, haben Sie ein sehr schweres Leben geführt. Wie stellen Sie sich heute zu all dem Pomp, der Sie umgibt ? Hätte jemand dem kleinen elternlosen Mädchen in Heiden in der Schweiz, das als Flüchtling sich selbst überlassen war und in einem von Wohltätigkeitsorganisationen abhängigen Heim lebte, gesagt, es werde eines Tages in Jerusalem, im besten Hotel Israels von einer Zeitschrift wie SHALOM interviewt, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Ich gebe zu, dass ich jeden Augenblick dieses Glücks geniesse, ohne mich jedoch Illusionen hinzugeben, denn ich weiss, dass dies alles von einer Minute zur anderen zerstört werden kann. Mein ganzes Leben lang musste ich jeden Rappen umdrehen, und heute bin ich zwar wohlhabend, besitze aber zahlreiche soziale Aktivitäten. Ich leite in New York eine Wohltätigkeitsorganisation namens "Washington Heights Y", die täglich 400 Mahlzeiten an Notleidende verteilt. Die Organisation verfügt über ein Wohnhaus mit 140 Wohnungen für alte Menschen und über einen Kindergarten. Wir bringen viele Juden unter, die insbesondere aus der GUS stammen, versorgen aber auch Nichtjuden, da wir vom Staat Subventionen erhalten. In meiner Eigenschaft als Präsidentin kümmere ich mich in erster Linie um das Zusammentragen von finanziellen Mitteln. Ich setze also meine Bekanntheit für die Sache ein. Ich halte folglich regelmässig Reden und überweise mein Honorar der Organisation. Vor kurzem habe ich meinen 65. Geburtstag gefeiert. Zu diesem Anlass haben meine Tochter und mein für Öffentlichkeitsarbeit zuständiger Mitarbeiter eine kleine Feier veranstaltet, an der 150 Personen eingeladen waren. Als Geschenk hat mir jeder einen Scheck zugunsten von "Y" überreicht. An diesem Abend war ich besonders bewegt, denn das berühmte Glaswarengeschäft Stuben schenkte mir eine wunderschöne Chanukkah-Menorah, die speziell für mich hergestellt worden war. Meine Rührung war weder auf die Schönheit noch auf die Bedeutung oder den finanziellen Wert des Geschenks zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass meine allerletzte Erinnerung an Frankfurt das Chanukkah-Fest im Hause meiner Eltern ist. Ich trage immer dieses Bild in mir, wie ich die Kerzen anzünde, allein mit meiner Mutter und meiner Grossmutter, da mein Vater bereits von den Deutschen in ein Arbeitslager deportiert worden war. Ausserdem befand sich im Waisenhaus von Heiden ein Gemälde eines Mannes, der ein kleines Mädchen auf dem Arm trug und die Menorah von Chanukkah anzündete. Dieses Bild hat mich immer begleitet und ich habe es nie vergessen. Aus diesem Grund bedeutet mir wahrscheinlich Chanukkah sehr viel in meinen Beziehungen zum Judentum. Da ich aus einer orthodoxen Familie stamme, bin ich immer noch tief jüdisch denkend, in meiner Gemeinde aktiv, doch heute bin ich nicht mehr praktizierend. Ich stehe Israel sehr nahe. Ich habe es mir zur Tradition gemacht, dass ich mich jedesmal sofort nach meiner Ankunft in Israel, ganz egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, zur Kotel Hamaaravi begebe. Ich habe über das Leben der äthiopischen Juden in Israel auch einen Film gedreht und ein Buch geschrieben. Es ist fast unmöglich, ein Interview mit Ihnen zu führen, ohne Ihnen zumindest eine Frage zum Thema Sexualität zu stellen. Glauben Sie, dass die Nachfahren der Überlebenden der Schoa, die im allgemeinen die "zweite Generation" genannt werden, deren Eltern deportiert wurden oder ein sehr bewegtes Leben geführt haben, über mehr Probleme in ihrem Sexleben klagen oder sich von ihren Zeitgenossen unterscheiden ? Sie wollen also wissen, ob diese Kinder besondere Schwierigkeiten in einem ganz spezifischen Bereich haben. Es ist klar, dass die Kinder der "zweiten Generation" spezielle Bedürfnisse hegen was Intimität, Zärtlichkeit und Zuwendung oder ihre Einstellung zur Familiengründung betrifft. Ich habe über die von mir "Waisen der Schoa" genannten Menschen eine Untersuchung durchgeführt, die bewiesen hat, dass viele von ihnen einen sozialen Beruf ergriffen haben, wie beispielsweise Sozialhelfer, Psychologe oder Lehrer, kurz, einen Beruf, in dem sie anderen helfen. Ich habe jedoch noch nie festgestellt, dass sie besondere sexuelle Schwierigkeiten hatten. Wir müssen uns im klaren sein, dass die sexuellen Probleme unserer Zeit für alle dieselben sind, ausser dass es heute Methoden gibt um denjenigen zu helfen, die keine sexuelle Befriedigung erleben können. Die sexuellen Probleme, mit denen eine Gesellschaft konfrontiert wird, sind eine Folge äusserer und innerer Zwänge des Lebens (familiäre Probleme, Stress, wirtschaftliche Engpässe usw.) und in keiner Weise inhärent oder endemisch. |