Der Oberste Gerichtshof Israels
Mitten in der Nacht rollen ein Dutzend Busse unter schwerer militärischer Bewachung zur libanesischen Grenze. In den Fahrzeugen sitzen schweigend Männer mit verbundenen Augen. Plötzlich hält der Konvoi an und bleibt während mehreren Stunden, die allen Beteiligten dieses Dramas endlos erscheinen, regungslos stehen. Nein, diese Szene wurde nicht erfunden, es handelt sich um Tatsachen, die sich während der Ausweisung von 400 arabischen Terroristen durch die Regierung Rabin abgespielt haben. Diese Ausweisung musste vom Obersten Gerichtshof Israels bestätigt werden. Nach der Entscheidung der Knesset wurden die 400 fundamentalistischen Islamisten in die Busse verfrachtet, konnten die Grenze jedoch erst nach dem endgültigen Urteil des Obersten Gerichtshofes überschreiten.
Einer der Richter hatte zunächst zugunsten der Ausgewiesenen entschieden, was das plötzliche Anhalten der Busse erklärt. Dann war aufgrund einer Berufung der Gerichtshof erneut zusammengetreten, und erst nach zehnstündigen Verhandlungen stellte er sich hinter die Haltung der Regierung und verabschiedete ihre Entscheidung. Derselbe Gerichtshof sprach vor kurzem Ivan Demanjuk frei.
Der Oberste Gerichtshof ist die höchste juristische Gewalt in Israel, seine Urteile stehen über allen anderen Urteilen, die von untergeordneten Gerichtshöfen gefällt werden, sei es in Bezug auf Menschen oder auf staatliche Institutionen. Zusammen mit der Knesset und der Regierung verkörpert der Oberste Gerichtshof eine der drei Säulen, welche die Institutionen des Staates darstellen. In gewisser Weise kann er mit in der Schweiz dem Bundesgericht in Lausanne verglichen werden. Eine der Hauptaufgaben des Obersten Gerichtshofes liegt jedoch in seiner Funktion als Verwaltungsgericht: alle Beschwerden gegen die Verwaltung gelangen direkt vor den Gerichtshof, in erster und in letzter Instanz. Alles, was als Beschwerde wegen Machtmissbrauch gilt, wird sofort dem Obersten Gerichtshof vorgelegt. Auf diesem Weg hat sich seine Funktion weiterentwickelt. Er hat seinen Tätigkeitsbereich allmählich auf Bereiche ausgedehnt, mit denen er noch vor zwanzig Jahren nichts zu tun hatte. Er greift beispielsweise regelmässig in die Arbeit der Knesset ein, wenn er den Eindruck hat, die Mehrheit habe die Spielregeln nicht respektiert. Während man in anderen Ländern davon ausgeht, dass die Justiz sich nicht in die Arbeit des Parlaments einzumischen hat, handelt in Israel der Oberste Gerichtshof, wenn er es für nötig erachtet. Dies betrifft in erster Linie die Fragen zur internen Arbeit der Knesset, wie z.B. die Kontrolle über die Aufhebung der parlamentarischen Immunität. Eine weitere bedeutende Fürsprache dieser Institution, die letzthin ganz besonderes Aufsehen erregte, betrifft einen Gesetzesentwurf zur Finanzierung der politischen Parteien. Da die damals an der Macht befindliche Mehrheit offensichtlich gegen eine Diskussion dieses Projekts war, wurde die Debatte regelmässig aufgeschoben. Der Gerichtshof griff ein mit dem Argument, die Knesset sei zur Anwendung des Reglements verpflichtet und habe nicht das Recht, die Angelegenheiten bewusst zu verzögern. Neben seinen zahlreichen Aufgaben kann der Oberste Gerichtshof auch im religiösen Bereich tätig werden. So stellte sich letzthin die Frage, ob eine Gemeindeverwaltung die Öffnung der Kinos am Schabbat verbieten kann. Die Befugnisse des Bürgermeisters werden in einem Gesetz über die Gemeinden festgehalten. In diesem heisst es, dass es Sache des Bürgermeisters ist, die Öffnung und Schliessung der Vergnügungslokale zu reglementieren. Diese Befugnis betrifft jedoch nicht die Orte, an denen kulturelle Aktivitäten stattfinden. Der Bürgermeister von Nathanya hatte zum Beispiel die Schliessung der Kinos am Schabbat angeordnet. Da der Oberste Gerichtshof davon ausging, dass Kinos keine Vergnügungsstätten, sondern kulturelle Veranstaltungen sind, konnte der Bürgermeister die völlige Schliessung dieser Orte am Schabbat nicht durchsetzen.
Interessanterweise kann man festhalten, dass die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sich auf sämtliche Gebiete von Judäa, Samaria und Gaza ausdehnt. Es gibt auf der ganzen Welt kein zweites Beispiel dafür, dass Gerichtshöfe es akzeptieren, die Aktivitäten der Armee in einem unter Militärverwaltung stehenden Territorium ihrer Rechtsprechung zu unterwerfen (er kann jedoch nicht gegen Urteile vorgehen, die von ausserordentlichen Militärgerichten gefällt werden). Dadurch erhält die arabische Bevölkerung die Möglichkeit, gegen jeden Entscheid der Verwaltung in den Gebieten Rekurs einzulegen, wie z.B. bei einer Ausweisung. Diese Allgegenwart der Justiz zwingt die militärischen Behörden zu überlegtem Vorgehen und zur Ausrichtung ihrer Aktionen im Hinblick auf das, was sie vor dem Obersten Gericht verteidigen zu können glauben. Die Militärs verzichten auf diese Weise auf bestimmte Tätigkeiten, die ihrer Ansicht nach vom Obersten Gerichtshof missbilligt werden. Dies beweist einmal mehr, wie sehr eine sogenannte "Besetzung" gerechte und menschliche Züge aufweisen kann, wenn sie von einer jüdischen Behörde kontrolliert wird. In Judäa und Samaria existieren arabische Zivilgerichte, die das jordanische Recht vor 1967 anwenden und über ein Appellationsgericht in Ramallah verfügen. Die in diesen Regionen lebenden Juden unterstehen in jeder Hinsicht dem jüdischen Gesetz, das persönlich und unabhängig vom Territorium angewendet wird.
Bis vor kurzem noch konnte man sagen, dass Israel keine Verfassung besitzt. Heute stimmt das nicht mehr ganz. Es bestehen elf grundlegende Gesetze. Einige von ihnen stehen über dem gewöhnlichen Gesetz, d.h. wenn ein von der Knesset verabschiedetes Gesetz gegen eines dieser grundlegenden Gesetze verstösst, kann der Oberste Gerichtshof seine Ratifikation annullieren. Dieses Verfahren kommt vor allem im Bereich des Wahlrechts zur Anwendung, wo das Gleichheitsprinzip von ausserordentlicher Wichtigkeit ist. So entstanden die Regelungen über die Chancengleichheit der Parteien, über ihre Finanzierung und über die Verteilung der Sendezeit. Zu diesen übergeordneten Gesetzen gehört auch dasjenige, welches sich mit der Berufsfreiheit befasst. Der Zugang zu den verschiedenen Berufen darf nicht willkürlich eingeschränkt werden. Gegenwärtig wird ein weiteres grundlegendes Gesetz geprüft, doch der Oberste Gerichtshof hat über seine Klassifizierung als übergeordnetes Recht noch nicht entschieden. Es handelt sich um das Gesetz über die menschliche Würde und Freiheit.
Das israelische Rechtssystem wird in drei Stufen gegliedert: das Kleininstanzgericht (Amtsgericht - Beit Mischpat Schalom), das Grossinstanzgericht (Landgericht - Beit Mischpat Mekhosi) und den Obersten Gerichtshof, den man in letzter Instanz anrufen kann. Bedeutende straf- oder zivilrechtliche Fälle gelangen direkt vor das Bezirks- oder das Oberste Gericht, doch dazu sind langwierige Verfahren notwendig. Der Oberste Gerichtshof ist vor allem im Verwaltungsbereich tätig und führt sehr weitreichende Entscheidungen durch. Greift beispielsweise ein Bürger die Verwaltung an, wird das Urteil nicht selten bereits nach einer Stunde gefällt ! Dazu erklärte uns Claude Klein, Rechtsprofessor an der Hebräischen Universität von Jerusalem: "Der Oberste Gerichtshof in Israel gehört zu den progressivsten der Welt. Er zögert nicht, gegen die Verwaltung vorzugehen. Sein Tätigkeitsbereich im Verfassungsrecht ist jedoch noch begrenzt, da es nur wenige verfassungsähnliche Gesetze gibt, die dem gewöhnlichen Recht übergeordnet sind (nicht alle grundlegenden Gesetze stehen über dem gewöhnlichen Recht)".
Das Oberste Gericht arbeitet Tag und Nacht dank einem Bereitschaftsdienst, und es ist recht einfach, vor einer genaueren Untersuchung mitten in der Nacht vom diensthabenden Richter eine Entscheidungsvertagung zu erlangen. Es kommt häufig vor, dass Abgeordnete der Knesset das Oberste Gericht anrufen, um die Regierung an der Diskussion über ein bestimmtes Thema zu hindern. Ist in Israel eine Angelegenheit "sub judice" (in den Händen des Gerichtshofes), darf nicht darüber debattiert oder gesprochen werden. Natürlich werden aber in der Politik gewisse Probleme bedeutungslos, wenn sie nicht sofort behandelt werden. Ein Aufschub um einige Stunden kann demnach sowohl für die Regierung als auch für die Opposition von grosser Tragweite sein.
Das Oberste Gericht ist jedermann zugänglich und kann auch ohne die Einschaltung eines Anwalts angerufen werden. Es umfasst zwölf Richter, die nie vollzählig, sondern nur in ungerader Zahl tagen. Sie werden von einer Kommission ernannt, welcher der Justizminister vorsteht, und die aus drei Richtern des Obersten Gerichts, zwei Mitgliedern der Rechtsanwaltschaft, zwei Ministern und zwei Abgeordneten besteht. Die israelische Bevölkerung bringt den Richtern sehr grossen Respekt entgegen. Letztere treten mit siebzig Jahren in den Ruhestand.
Das israelische Rechtssystem wird stark von England und nicht von der Türkei beeinflusst, wie es eine alte Legende will. Es ist flexibler als in der Schweiz oder in Frankreich, und die Richter verfügen über sehr viel mehr Macht als in diesen Ländern. Die Richter des Obersten Gerichtshofes sind bedeutende Persönlichkeiten, die enormes Prestige geniessen, und jeder Durchschnittsisraeli kann einige Richter beim Namen nennen. Wie viele Schweizer hingegen kennen den Namen des Bundesgerichtspräsidenten...