Identität im Gegenstand | |
Von Roland S. Süssmann | |
Mitten in der Wirtschaftskrise erweisen sich Kunst und Bühne in New York als die erfolgreichsten Industriezweige. 107'000 Angestellte bringen es auf einen Jahresumsatz von 9 Mia US$. Einer der wichtigen Aspekte dieser regen schöngeistigen Aktivität liegt im Reichtum und in der Vielfalt der ständigen und der zeitlich befristeten Ausstellungen der Museen in der amerikanischen Metropole, wobei auch das JEWISH MUSEUM zu ihnen gehört. Nach einer zweijährigen Schliessung wegen Renovierungsarbeiten hat das Jewish Museum vor kurzem wieder seine Tore geöffnet.
Das jüdische Museum von New York wurde 1904 gegründet und war vierzig Jahre lang in den Räumlichkeiten der Bibliothek des Jewish Theological Seminary of America untergebracht. 1947 schenkte Frieda Schiff Warburg dem Museum ein wunderschönes Privathaus an der Kreuzung der 92. Strasse mit der berühmten Fifth Avenue. Dieses unter Denkmalschutz stehende Gebäude wurde ursprünglich vom Architekten C.P.H. Gilbert entworfen. Die heutige Ausstellungsfläche ist im Vergleich zu früher nun doppelt so gross; die Arbeiten wurden von Kevin Roche ausgeführt, einem allgemein bekannten Architekten. Es wurde besonderes Augenmerk darauf gerichtet, den Stil der französischen Gothik und die schlossähnliche Atmosphäre des Gebäudes zu bewahren. Das Budget für die Arbeiten betrug 40 Mio US$. Die Sammlung des Jewish Museum kann als einzigartig bezeichnet werden, und der Besucher taucht gleich nach dem Betreten des Gebäudes in die Atmosphäre ein, die das ganze Museum erfüllt. Vier Säulen erinnern an die biblischen Texte, welche die Grundpfeiler des jüdischen Glaubens verkörpern: die Thora, das Gesetz, das Land und der Geist. Die ständige Sammlung zeigt eine Auswahl aus den 27'000 Gegenständen, die sich im Besitz des Museums befinden. Unter dem Titel Kultur und Kontinuität findet man archäologische Fundstücke, jüdische Kultgegenstände, Gemälde und ein ultramodernes Wissenszentrum, das mit Video und den Besuchern zur Verfügung stehenden Computersystemen ausgerüstet ist. All diese Dinge werden im Rahmen von vier Unterabteilungen gezeigt: Eine Identität schaffen (das Altertum 1200-600 vor unserer Zeitrechnung) beschreibt die Ausbildung der jüdischen Identität von der entfernten Zeit der Israeliten an. Dieses Thema wird durch die Traditionen, Rituale und Institutionen veranschaulicht, welche die jüdische Gesellschaft in ihren Anfängen prägten. Der zweite Teil, Eine Tradition interpretieren (das Mittelalter und die Jahre danach 800-1700) erforscht die verschiedenen Facetten des jüdischen Lebens in der Diaspora. Dazu erklärte uns Dr. Vivian B. Mann, die Konservatorin der Abteilung Judaika des Museums: "Im Judentum besteht kein einziges Gesetz, das die äussere Erscheinung, die Form oder die erlaubten Materialien genau vorschreibt, die zur Herstellung von Kultgegenständen verwendet werden dürfen. Es existieren jedoch sehr strenge Vorschriften im Hinblick auf die Thora-Rollen, die Tefillin und die Mesusoth, so dass diese im Verlauf der Jahrhunderte nie verändert wurden... (Anm.d.Red.: selbst die Reformbewegung hat keine Abänderungen durchgeführt). Für alle anderen Objekte bestehen minimale Angaben, jedoch keine präzisen Vorschriften, in bestimmten Fällen fehlen sogar alle Hinweise. Diese fehlende Gesetzgebung hat es den Juden der Diaspora ermöglicht, Kultgegenstände herzustellen, die äusserlich stark durch ihre Umgebung und die Kultur des Landes beeinflusst wurden, in dem sie lebten. Dank dieser Freiheit konnten sich Kreativität in jeder Generation und jedem Umfeld ein eigener Stil in so vielfältiger Form entwickeln." Der dritte Sektor, Auseinandersetzung mit der Moderne (1700-1948), zeigt die Probleme des jüdischen Lebens und der jüdischen Identität in der modernen Welt. Die letzte Abteilung, Blick in die Zukunft, umfasst die Werke zeitgenössischer Künstler, die sich zu so unterschiedlichen Themen wie jüdische Identität, Gegebenheiten des Lebens in Israel und Suche nach Spiritualität ausdrücken. Die ständige Ausstellung bietet einen lebendigen Überblick über die Kontinuität und die Veränderungen in der jüdischen Gesellschaft im Verlaufe der Jahrhunderte. Sie beweist die Fähigkeit, einerseits die grundlegenden Werte und Prinzipien zu bewahren, und dennoch gewisse Überlieferungen umzuformen, je nach Epoche oder geografischer Lage. Ein jüdisches Museum wäre nicht vollständig ohne die Erwähnung der Schoah, und das Jewish Museum widmet ihr eine bedeutende Abteilung. Ein bestimmter, für Kinder konzipierter Teil beruht auf dem Symbolgehalt und der Bedeutung der Gegenstände bei den verschiedenen Festen und wurde sehr sorgfältig ausgearbeitet. Im Verlaufe des Besuchs fallen einem zwei Elemente besonders auf. Dies ist zunächst der Reichtum und die Schönheit der ausgestellten Gegenstände. Dann aber auch der Geist, der den Aufbau des Museums beherrscht. Er zeigt in erster Linie die innere Beziehung, die zwischen dem Judentum und Israel besteht, und betont nachdrücklich die unveränderlichen Rechte der Juden auf das gesamte Land ihrer Vorfahren im Westen des Jordans. Geldstücke aus der Zeit der Revolte von Bar Kochba zeigen sehr deutlich die Suche und den unermüdlichen Kampf der Juden gegen die Assimilierung und für ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheit. Die Lehre und die besonders eindrückliche Präsentation dieser schmerzhaften Vergangenheit sind von brennender Aktualität. Ein weiterer interessanter Aspekt sind die jüdischen Kult- und Kunstgegenstände der berühmten Danziger Gemeinde, die 1939 gerettet werden konnten und sich nun alle im Besitz des Museums befinden. Das Jewish Museum hat sehr zahlreiche Aktivitäten. In den Räumen, in denen regelmässig äusserst interessante, abwechslungsreiche und gut dokumentierte Ausstellungen abgehalten werden, organisiert das Museum auch Vortragsreihen und Kurse mit den grössten Fachleuten in den jeweiligen Bereichen. Der Besuch des Museums steht auf dem Lehrplan der Schulen der Stadt New York, so dass es jährlich von 25'000 bis 30'000 Kindern besichtigt wird. Für jüdische Schulen werden besondere Veranstaltungen organisiert. Darüber hinaus ermutigt das Museum amerikanische, jüdische Künstler, die ihre Kunst bis anhin in verschiedener Form ausübten, moderne Judaika-Gegenstände als zukünftige Zeugen unserer Epoche zu entwerfen. Zum Abschluss möchten wir Ihnen den Besuch des Jewish Museums anlässlich Ihres nächsten Aufenthaltes in New York ganz besonders ans Herz legen, der Abstecher lohnt sich ! |