Diplomaten und Juden
Von Dr. Sergio I. Minerbi *
Kern dieses Artikels ist die Haltung der Diplomaten während des Zweiten Weltkriegs gegenüber den gefährdeten Juden. In der Theorie handelt es sich bei Diplomaten nur um Beamte, welche die von ihren jeweiligen Regierungen erhaltenen Instruktionen ausführen müssen. In Wirklichkeit haben sich bestimmte Diplomaten die Freiheit genommen, Juden mit Hilfe von Visa oder manchmal auch mit der stillschweigenden Zustimmung ihrer Vorgesetzten zu retten. So war zwar der deutsche diplomatische Dienst vollständig vom Nationalsozialismus, dessen Ziel die Vernichtung der Juden war, durchsetzt, doch haben mehrere italienische Diplomaten durch ihren aktiven Einsatz Juden in Warschau, Saloniki, in Kroatien und in Südfrankreich gerettet.
Wir möchten einer weiteren Öffentlichkeit von den wenig oder kaum bekannten Taten einiger Diplomaten bei der Unterstützung der verfolgten Juden berichten. Mit diesem Ziel schuf Lorenzo Jarach im Andenken an seinen verstorbenen Vater an der Hebräischen Universität von Jerusalem den Preis Guido Jarach. Dieses Jahresstipendium belohnt den Autor einer später veröffentlichten Dissertation über einen Diplomaten, der Juden gerettet hat.
Kommandant Guido Jarach (1881-1953) war Offizier der italienischen Marine. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurde er als stellvertretender Kommandant des Schiffes "Nino Bixio" nach Izmir entsandt. Während seines mehrmonatigen Aufenthalts in Izmir 1920 interessierte er sich für die dortige jüdische Gemeinde und verstärkte deren Beziehungen zu Italien. Zu dieser Zeit wollte die italienische Regierung in Rom ein Sekretariat einer der Alliance Israélite Universelle vergleichbaren Vereinigung gründen, deren Ziel der Zusammenschluss aller sephardischen Juden des Mittelmeerraums war. Guido Jarach verfasste einen genauen Bericht über die jüdische Gemeinde von Izmir im Jahre 1920: sie zählte 40'000 Menschen, an ihrer Spitze stand als Präsident Boaz Menashe aus Rhodos, und zahlreiche Juden wünschten italienische Staatsbürger zu werden, um dadurch den Handel mit Italien zu fördern. Guido Jarach hatte ausserdem die Idee, eine neue italienische Schule für die jüdischen Kinder zu eröffnen, deren Eltern die italienische Nationalität oder Schutzbescheinigungen erhalten hatten. Er ermutigte die Juden dazu, der italienischen Handelskammer beizutreten. (S. Minerbi, "L'azione diplomatica italiana nei confronti degli ebrei sefarditi durante e dopo la 1. guerra mondiale (1915-1929)", Rassegna mensile di Israele, Luglio-Dicembre 1981, SS.99-108).
Im Rahmen des Preises Guido Jarach wurden bereits mehrere Dissertationen vorgelegt, die wir Ihnen kurz vorstellen möchten.
Ein äusserst interessanter Fall ist derjenige von SEMPO SUGIHARA, der 1939 in Kaunas in Litauen eintraf, um dort das japanische Konsulat zu eröffnen. Dieses Land hatte sich auf die Seite des nationalsozialistischen Deutschlands und des faschistischen Italiens gestellt, wusste jedoch nichts über die Expansionspläne Hitlers. Der japanische Generalstabschef war nach Kaunas geschickt worden, um im Hinblick auf einen eventuellen Angriff gegen die Sowjetunion präzise Informationen über die Konzentration der deutschen Truppen einzuziehen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen wurde Litauen unter die deutschen und russischen Besatzungsmächte aufgeteilt. Zahlreiche Juden fanden vorübergehend Zuflucht im sowjetischen Teil Litauens; das japanische Konsulat musste hingegen binnen dreier Wochen seine Büros schliessen. Auch die jüdischen Institutionen wurden zur Schliessung gezwungen. Die sehr geringe Zahl des ab März 1940 einsetzenden Flüchtlingszugs der Juden nach Palästina wurde durch den Fall Frankreichs und den Kriegseintritt Italiens am 10. Juni 1940 unterbrochen. Das jüdische Rettungskomitee versuchte mit allen Mitteln Einreise- und Transitvisa zu besorgen. Als der niederländische Botschafter bestätigte, die Einreise nach Surinam und Curaçao sei ohne Visum möglich, musste zunächst ein Transitland gefunden werden. Der japanische Konsul bat am 11. August Tokio um Zustimmung, die ihm jedoch verweigert wurde. Sempo Sugihara erhielt von den Sowjets das Versprechen, dass den Juden mit einem japanischen Visum die freie Durchreise bis Wladiwostock genehmigt würde, und entgegen den erhaltenen Instruktionen händigte er den Juden Visa für Japan aus. Nach der Ankunft der ersten polnischen Juden in Wladiwostock und in Japan befahl das Aussenministerium in Tokio, sofort die Verleihung von Visa einzustellen. Doch Sugihara ignorierte diese Anweisung, und während den zehn Tagen bis zur Schliessung des Konsulats aufgrund des ausdrücklichen Befehls der Sowjetunion verteilte er den Juden bis zu seiner Abreise am 1. August 1940 weiterhin Visa. Die genaue Zahl der polnischen Juden, die dank Sempo Sugihara nach Japan reisen konnten, ist nicht genau zu ermitteln. Nach Angaben von Zerah Warhaftig, die zu ihnen gehörte, waren es ungefähr 1600 Personen, während das japanische Konsulat in seinem Bericht in Yad Vachem angab, 3500 Visa ausgehändigt zu haben. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich S.Sugihara ein Jahr lang in Gefangenschaft in Siberien; nach seiner Rückkehr nach Japan 1947 wurde er zum Verlassen des Aussenministeriums gezwungen; am 19. Dezember 1969 wurde ihm in Jerusalem die Medaille der Gerechten von Yad Vachem verliehen. Er starb 1973. Sempo Sugihara wurde rehabilitiert, und seine Tat wird heute in den japanischen Schulbüchern erwähnt. (Rachel Hedayo, "Sempo Sugihara, un juste japonais", Ramat Gan, Hebräisch im Dezember 1990).
Ein anderes Beispiel, GEORGE MANDEL-MANTELLO, jüdischer Diplomat von El Salvador in Bukarest, Rumänien; im August 1942 traf er in Genf ein und wurde zum Ersten Sekretär ernannt. Anfangs 1943 begann G.Mantello salvadorianische Schutzbescheinigungen auszustellen, denn man hatte bemerkt, dass die deutschen Behörden in Warschau diejenigen Juden mit Respekt behandelten, die paraguayanische Pässe besassen. Der Generalkonsul von El Salvador in Genf, I.H. Castellanos, hiess diese Art der humanitären Hilfe gut. Diese Dokumente waren in erster Linie für die Juden aus Holland, Belgien, Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei bestimmt, später auch für die Juden aus Ungarn. Mantello organisierte ein Spezialbüro für die Aushändigung der Bescheinigungen und fügte ihnen eine deutsche und eine ungarische Übersetzung bei. Diese Methode wurde später von anderen Ländern, wie z.B. der Schweiz und Schweden, und vom Internationalen Roten Kreuz nachgeahmt, wodurch Zehntausende von ungarischen Juden in der Zeit des Szalasi-Regimes (nach dem Putsch vom 15. Oktober 1944) gerettet wurden. Den Nachforschungen von David Kranzler zufolge gelang es G.Mantello, über zehntausend Schutzbescheinigungen auszuliefern; er organisierte, nach Angaben von D.Kranzler, eine Pressekampagne in den schweizerischen Zeitungen, der es "gelang, 1944 die Deportationen von Budapest nach Auschwitz zu unterbrechen", indem auf Admiral Miklos Horthly von Nagybanya (1868-1957) Druck ausgeübt wurde. (Dr. David Kranzler, "The rescue efforts of George Mantello, First Secretary of the El Salvador Consulate in Geneva during the Holocaust", New York, 1991. Für diese Nachforschungen erhielt D.Kranzler 1991 den Preis Guido Jarach).
Der Fall GIORGIO PERLASCA hingegen ist einzigartig. Dieser italienische Händler aus Rumänien flüchtete während des Kriegs nach Ungarn, um der Verpflichtung zum Militärdienst in der Armee der Republik von Salò (Italienische Soziale Republik unter Mussolini 1944-45) zu entkommen, und wandte sich an die spanische Botschaft in Budapest. Er wurde aufgrund seiner Vergangenheit als Kämpfer auf Francos Seite mit offenen Armen aufgenommen und wenige Monate später als Nachfolger des spanischen Geschäftsträgers eingesetzt, der seinen Posten aufgegeben hatte. Als Vertreter der spanischen Interessen gab er ungarischen Juden Hunderte von Schutzbescheinigungen und nahm mehrere Schiffe unter den Schutz der spanischen Flagge. Er besuchte diese regelmässig, um sich zu vergewissern, dass sie sich in Sicherheit befänden. Auf diese Weise konnte er Hunderten von Juden in Budapest das Leben retten. Sein Werk wurde erst vor kurzer Zeit anerkannt, und er erhielt die Auszeichnung der "Gerechten" von Yad Vachem bald nach seinem Tod. Ein italienischer Autor veröffentlichte das Tagebuch von Perlasca während dieser historischen Zeit. (Enrico Deaglio, "La Banalità Del Bene, Storia di Giorgio Perlasca", herausgegeben bei Feltrinelli, Mailand, 1991. Für dieses Buch erhielt der Autor am 6. April 1992 den Preis Guido Jarach).
An den Schluss kann man ein interessantes Zitat des Konsuls von Portugal in Bordeaux, ARISTIDES DE SOUSA MENDES, stellen, der 1940 seine gesamte diplomatische Karriere für die Rettung von Juden aufs Spiel setzte, indem er ihnen trotz der gegenteiligen Anweisungen aus Lissabon portugiesische Visa aushändigte. Am 30. Oktober 1940 wurde er vom Aussenministerium zu einem Jahr Amtsenthebung mit halbem Gehalt verurteilt und danach sofort in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Am 10. Juni 1986 hat der amerikanische Kongress A.Mendes gewürdigt und rief in Erinnerung, dass der einzige Fluchtweg für viele jüdische Flüchtlinge in Frankreich über die Einreise nach Portugal führte. A.Mendes stellte mindestens 10'000 Visa für andere Juden aus, so dass er in der Folge entlassen wurde und 1954 in Armut starb. Der Kongress beschloss, das Andenken von Mendes zu ehren, wie dies Yad Vachem bereits 1967 getan hatte. (Dr. David Shapira, "Sa signature sauva des milliers", Jerusalem 1993).
Diese wenigen Beispiele geben selbstverständlich keinen umfassenden Überblick, weisen jedoch darauf hin, dass der Wille, die in Todesgefahr schwebenden Juden mit humanitärer Hilfe zu unterstützen, für einzelne Diplomaten wichtiger war als die Instruktionen der jeweiligen Ministerien.